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„Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig zu machen“ (EG 176)

Eine pastoraltheologische Lektüre von „Evangelii gaudium“

Norbert Mette liest in diesem Beitrag „Evangelii gaudium“ aus der Perspek­­tive eines praktischen Theologen. Er betont die vom Papst hervorgehobene soziale und politische Dimension des Evangeliums und die von ihm vorge­schlagene Richtung von Veränderungen der Kirche.

Auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils

Das apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ von Papst Franziskus liegt ganz auf der Linie der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikani­schen Konzils „Gaudium et spes“ und dem darin entwickelten Verständ­nis von Pastoral. Wurde diese lange Zeit als bloße Umsetzung der kirch­lichen Glaubenslehre, des Dogmas, in die kirchliche Praxis verstanden, so betonte das Konzil die Gleichrangigkeit von Lehre und Leben, wenn nicht den Vorrang der Orthopraxie vor der Orthodoxie und eröffnete ein weiteres, nicht auf das Innere der Kirche beschränktes Verständnis von Pastoral, nämlich im Sinne eines Wirkens aus der solidarischen Verbun­den­heit mit den Menschen und den sie bedrängenden Fragen und Sor­gen hier und heute. Es ist der Pastoral nicht allererst um die Kirche zu tun, sondern um die Menschheit und die Welt, der zu dienen sie von Jesus Christus gesandt ist. Rainer Bucher hat das in die treffende und einprägsame Formel von der Pastoral als „kreativer und ergebnisoffener Konfrontation von Evangelium und gegenwärtiger Existenz, und das in Wort und Tat und im individuellen wie gesellschaftlichen Wertbereich“ gefasst.

Von daher versteht sich auch die im Vergleich zu anderen lehramtlichen Dokumenten auffällige persönliche Sprache, in der das apostolische Schrei­ben gehalten und die in seiner Rezeption besonders gewürdigt worden ist: Der Papst gibt sich in seiner existenziellen Betroffenheit von der Frohen Botschaft und der Freude, mit der sie sein Leben bereichert, zu erkennen und möchte die Adressaten seines Schreibens daran teil­haben lassen.

Analyse der Gegenwartssituation

Um ausmachen zu können, welche Prioritäten sich für das kirchliche Wirken in der heutigen Zeit ergeben, ist eine differenzierte Analyse der gegenwärtigen Situation, durch die das Leben der Menschen geprägt wird, erforderlich. Der Papst widmet dem in seinem Schreiben einen breiten Raum, betont jedoch, dass es nicht seine Aufgabe sei, „eine de­tail­lierte und vollkommene Analyse der gegenwärtigen Wirklichkeit zu bieten“ (EG 51). Daran müsse sich vielmehr die gesamte kirchliche Ge­meinschaft beteiligen. Bei der Erforschung der „Zeichen der Zeit“ (GS) ist es darum zu tun, „zu klären, was eine Frucht des Gottesreiches sein kann, und auch, was dem Plan Gottes schadet“ (EG 51), es also nicht bei einer rein soziologischen Sicht zu belassen, sondern eine „Unterschei­dung anhand des Evangeliums“ (EG 50) vorzunehmen.

Gleich zu Beginn des Abschnitts, in dem der Papst auf „einige Heraus­for­derungen der Welt von heute“ eingeht (2. Kap. I), nimmt er eine sol­che Differenzierung vor: Der wissenschaftliche Fortschritt und die ra­santen technologischen Neuerungen, so stellt er fest, würden ambiva­lente Auswirkungen auf die Menschen zeitigen, indem sie einerseits zu ihrem Wohl beitrügen (er nennt exemplarisch Gesundheit, Erziehung und Kommunikation), andererseits aber auch pathologische Symptome erzeugten wie Angst und Verzweiflung, Verlust an Lebensfreude, Zu­nah­me von Respektlosigkeit und Gewalt, Ausweitung der sozialen Un­gleichheit. Paradoxerweise würden mit der epochalen Steigerung von Wissen und Information neue Formen einer sehr oft anonymen Macht einhergehen (EG 52).

Macht ist heutzutage vor allem im wirtschaftlichen Sektor angesiedelt, der die Herrschaft über das gesamte gesellschaftliche Leben angetreten hat. Darum widmet der Papst dem seine vorrangige Aufmerksamkeit. Dabei spricht er zwar nicht ausdrücklich vom derzeitigen Kapitalismus in seiner neoliberalen Variante, meint diesen aber unverkennbar. „Diese Wirtschaft tötet“ (EG 53), prangert er knallhart an – ein Satz, mit dem er viel Empörung ausgelöst hat, der aber in bitteren Erfahrungen begrün­det ist, die er in seinem Heimatland oft genug gemacht hat und die auch in vielen anderen Teilen der Welt ganz konkret zu machen sind, und zwar als Folge des Konkurrenzprinzips, in dem brutal das Gesetz des Stär­keren gilt und alle anderen – und das ist der größte Teil der Erdbe­völ­kerung – auf der Strecke bleiben, ausgeschlossen und als Abfall be­han­delt werden. Es brauchen hier nicht die Passagen wiederholt zu wer­den, in denen sich der Papst in teilweise harschen Worten mit den Aus­wüchsen des gegenwärtig vorherrschenden Wirtschaftssystems, das sich selbst vergöttliche, auseinandersetzt (vgl. EG 53–59). Ihm schleu­dert er ein vierfaches „Nein“ entgegen und nimmt damit das Taufbe­kenntnis ernst, das ja dazu anhält, mit der Zusage zum Glauben an den dreieinigen Gott zu bekunden, wem man damit zugleich seine daraus sich ergebende entschiedene Absage erteilt. Das hat sich, so macht der Papst deutlich, im Konkreten zu bewähren.

Damit ist umgekehrt eine klare Option verbunden, die sich aus dem Glau­ben ergibt und die das apostolische Schreiben von Anfang an durch­zieht: die Option für die Armen als Ernstfall für den bedingungs­losen Eintritt für die Würde des Menschen – biblisch gesprochen: seine Gottesebenbildlichkeit. Von dieser Option ist auch die Ausweitung der Gegenwartsanalyse auf weitere gesellschaftliche und kulturelle Berei­che geleitet, die der Papst in den Passagen EG 61–75 vornimmt. Immer gilt das besondere Augenmerk denen, die von den ablaufenden Entwick­lungsprozessen nachteilig betroffen sind. Doch der Papst macht auch deutlich, wie zugleich die Bessergestellten durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die davon diktierte vorherrschende Mentalität einer erheblichen Einbuße an Lebensqualität ausgesetzt sind. „Die große Gefahr der Welt von heute“, so schreibt er in der Einleitung, be­steht nach ihm in einer „individualistische(n) Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geistes­­haltung“ (EG 2). „Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt“, so macht er die daraus sich ergebenden Folgen fest, „gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun … Viele … werden zu gereizten, unzufriedenen, empfin­dungs­losen Menschen“ (ebd.). Bei seiner Begegnung mit den Flüchtlin­gen auf der Insel Lampedusa hatte der Papst angesichts der Tatsache, dass ihr Schicksal nur so wenig Empörung auslöst und massenhafter Tod hingenommen wird, eine „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ (auch in EG 54) angeklagt.

Dass der Papst keine vollständige Analyse der gegenwärtigen Situation der Welt vorlegen wollte und auch nicht den Anspruch erhebt, die von ihm angesprochenen Punkte umfassend ausgeleuchtet zu haben, ist be­reits erwähnt worden. Insgesamt fällt seine Weltsicht eher düster aus. Die von ihm als krisenhaft und gefährlich eingeschätzten Entwicklun­gen überwiegen die durchaus auch genannten positiven Errungenschaf­ten. Das könnte als Indiz dafür genommen werden, dass der Papst in seinem Schreiben nach dem Muster früherer kirchlicher Verlautbarun­gen zu aktuellen Zeitströmungen verfährt, nämlich diese sehr dunkel zu zeichnen, um dann um so leuchtender die Kirche als das Bollwerk gegen diesen rings um sie sich abspielenden Verfall aufscheinen zu lassen. Dass das nicht zutrifft, wird schon allein daran ersichtlich, dass der Papst die Kirche und ihre Gläubigen als von den gegenwärtigen Krisen und Gefahren keineswegs ausgenommen hinstellt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Entscheidender ist jedoch, dass nach Einschät­zung des Papstes die aktuellen globalen Vorgänge ganz zentral die Got­tesfrage betreffen. Zur Debatte steht, ob Gott als letztlicher Herrscher über die Welt um ihres Heiles willen gelten gelassen wird oder ob an seine Stelle von Menschen geformte Götzen gesetzt, angebetet und ihnen menschliche Opfer dargebracht werden.

Die soziale Dimension der Evangelisierung

Wenn die Kirche mit ihrer Verkündigung der Frohen Botschaft in Wort und Tat (Evangelisierung) dem Gott treu bleiben will, wie er sich im biblischen Kerygma offenbart hat, dann kann sie keine Enthaltsamkeit dem gegenüber, was in Gesellschaft, näher in Wirtschaft und Politik geschieht, an den Tag legen, also nicht vermeintlich neutral bleiben. „Evangelisieren bedeutet, das Reich Gottes in der Welt gegenwärtig zu machen“ (EG 176). Prägnanter lässt sich das, worum es bei der Verkün­di­gung der Frohen Botschaft geht, nicht auf den Punkt bringen. „Reich Gottes“ und „Welt“ sind die vom Evangelium her sich ergebenden vor­rangigen Perspektiven für das gläubige Denken und Handeln; alles an­dere, wie beispielsweise auch die Kirche, ist zweitrangig.

Mit diesem Anliegen – der sozialen Dimension der Evangelisierung – beschäftigt sich der Papst ausführlich in einem eigenen Kapitel (EG 176–258). Dass es sich hierbei nicht um eine Dimension handelt, die sich konsekutiv, als Konsequenz aus dem christlichen Glauben ergibt, sondern diesem konstitutiv innewohnt, wird einleitend wie folgt unter­strichen: „Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und indivi­dualistisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu ver­ändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen … Alle Christen … sind berufen, sich um den Aufbau einer besseren Welt zu kümmern“ (EG 183).

Mit Blick auf die aktuelle Weltsituation ergeben sich für den Papst zwei Prioritäten für das kirchliche Engagement, nämlich zum einen für Ge­rechtigkeit und zum anderen für Frieden einzutreten, wobei beide Be­rei­che eng miteinander verflochten sind.

Option für die Armen

Das Gerechtigkeitsthema fokussiert er auf „die gesellschaftliche Einglie­derung der Armen“ (EG 186–216) mit der Begründung: „Aus unserem Glauben an Christus, der arm geworden und den Armen und Ausge­schlos­senen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesell­schaft“ (EG 186). Damit ist klargestellt, dass es bei der „Option für die Armen“ – ein Theologumenon, das bekanntlich für die Verpflichtung steht, die als erste nachkonziliar die Kirche in Lateinamerika einge­gan­gen ist – nicht um ein rein humanitäres Engagement geht (so anerken­nenswert dieses auch ist), sondern dass diese genuin theologale Wur­zeln hat: Gemäß der Bibel gehört Gottes Vorliebe den Armen und Be­drängten; er steht auf ihrer Seite und ergreift für sie Partei (EG 198). Dem Schrei der Armen und der ärmsten Völker gegenüber taub zu ble­i­ben, so schärft der Papst ein, „entfernt uns dem Willen des himmli­schen Vaters und seinem Plan …, der Mangel an Solidarität gegenüber seinen (sc. des Armen) Nöten beeinflusst unmittelbar unsere Beziehung zu Gott“ (EG 187). Dabei sind die Armen nicht Objekte kirchlicher Für­sorge, sei sie paternalistischer oder assistentialistischer Art. Sondern sie sind es, die ihrerseits der Kirche etwas zu sagen haben. „Sie haben uns“, schreibt der Papst, „vieles zu lehren. Sie haben nicht nur Teil am sensus fidei, sondern kennen dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Chris­tus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen“ (EG 198). Die Armen sind es also, die näher an das Evangelium heran­füh­ren. Deswegen wünscht sich der Papst „eine arme Kirche für (sc. span. „por“ im Sinne von durch und mit) die Armen“ (ebd.) Sie werden erst dann aus ihrer elenden Lage nachhaltig befreit, wenn ihnen nicht bloß mildtätige Gaben zugeführt, sondern die strukturellen Ursachen der sozialen Ungleichheit beseitigt werden. Wer von Armut spricht, darf darum den Reichtum nicht unerwähnt lassen. Was der Papst im Rück­griff auf die Bibel und die Tradition kirchlicher Sozialverkündigung zu einer gerechten Verteilung der Güter schreibt, lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemein­wohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen zurückzugeben, was ihm zusteht“ (EG 189; vgl. auch das noch schärfer formulierte Zitat von Johannes Chrysostomus in EG 57).

Ein prophetischer Ruf zur Umkehr

Um nicht zu ausführlich zu werden, soll es bei diesen Hinweisen belas­sen und mit Nachdruck das aufmerksame Studium dieses ganzen Kapi­tels mitsamt seiner Passagen zum Einsatz der Kirche für den Frieden empfohlen werden. Soviel ist gewiss: Mit seiner intensiven Betonung der sozialen – und damit auch unweigerlich politischen – Dimension des Glaubens ist der Papst dem landläufigen kirchlichen Bewusstsein zumindest in unseren Breiten weit voraus. Die für die mögliche Wir­kung seines Schreibens entscheidende Frage ist, ob es diese im Grunde genommen häretische Mentalität heilsam zu irritieren und im Sinne des Evangeliums nachhaltig umzukehren vermag oder ob man sich diesem prophetischen Ruf weiterhin verschließt.

Ein Traum vom künftigen Weg der Kirche

Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Blick von dem, was das Schrei­ben „ad extra“ der Kirche zu sagen hat – also zu dem, wozu die Kirche wesentlich gesandt ist –, zu den Themen hin gewendet werden kann, was den Papst mit Blick auf das „intra“ seiner Kirche beschäftigt. Hierzu verrät er, welch in verschiedenerlei Verständnis großartigen Traum er vom zukünftigen Weg der Kirche hat: „Ich träume von einer missionari­schen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Ge­wohn­heiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirch­liche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Struktu­ren, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missiona­rischer werden, dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist, dass sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet“(EG 27). In diesen Sätzen steckt zugleich eine Menge Kritik an dem gegenwär­ti­gen Zustand der Kirche: Sie sei zu sehr auf sich selbst bezogen, zu sehr verharrend, zu wenig offen und missionarisch ausgerichtet und verhin­dere damit, Menschen die Freundschaft Jesu zuteil werden zu lassen. Programmatisch spricht darum der Papst von einer „Neuausrichtung“, die er in der Kirche und Pastoral für notwendig hält und in Angriff nehmen will. Dazu ist zweierlei erforderlich: zum einen eine mentale Umkehr, eine Bekehrung der Köpfe, zum anderen eine entschlossene Strukturreform.

Mentale Umkehr und spirituelle Wegweisung

Was den ersten Punkt angeht, so führt der Papst in Kap. 2 II (EG 76–109) eine Reihe von „Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen“ auf: „Beses­sen­heit, so zu sein wie alle anderen und das zu haben, was alle anderen besitzen“ (EG 79), „praktischer Relativismus“ („so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träu­men, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben“; EG 80), „egoisti­sche Trägheit“ (EG 81), „steriler Pessimismus“ (EG 84), „spirituelle Welt­lichkeit“ (als das Bestreben, „anstatt die Ehre des Herrn die mensch­liche Ehre und das persönliche Wohlergehen zu suchen“ etwa durch eine ostentative Pflege der Liturgie oder durch das Streben nach gesellschaftlichen oder politischen Errungenschaften; EG 93–97), in diesem Zusammenhang ein „Manager-Funktionalismus“ („der mit Statistiken, Planungen und Bewertungen überladen ist und wo der hauptsächliche Nutznießen nicht das Volk Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation“; EG 95) und nicht zuletzt „Neid und Eifer­sucht“ (EG 98). Zusätzlich erwähnt sei die Abneigung des Papstes gegen den „Klerikalismus“, den er in seiner Rede vor dem CELAM (Lateiname­rikanischer Bischofsrat) im Juli 2013 in Rio de Janeiro heftig attackiert hat – eine Versuchung zu einer bevormundenden Attitüde, der zu erlie­gen auch die Laien nicht gefeit sind (EG 102). Um diesen Gefährdungen nicht zu erliegen, sondern um mit Freude und einem aus ihr entsprin­genden Elan der Aufgabe der Evangelisierung treu zu bleiben, fordert der Papst zu einer ständigen Rückbesinnung auf die dieses Tun fundie­rende Spiritualität und deren Vertiefung auf (vgl. insbesondere Kap. 5). „Um den missionarischen Eifer lebendig zu halten“, so schreibt er dazu u. a., „ist ein entschiedenes Vertrauen auf den Hei­ligen Geist vonnöten, denn er ‚nimmt sich unserer Schwachheit an‘ (Röm 8,26). Aber dieses großherzige Vertrauen muss genährt werden, und dafür müssen wir den Heili­gen Geist beständig anrufen“ (EG 280). Aus persönlicher Erfahrung fügt er dem hinzu: „Es gibt … keine größere Freiheit, als sich vom Heili­gen Geist tragen zu lassen, darauf zu verzichten, alles berechnen und kontrollieren zu wollen, und zu erlauben, dass er uns erleuchtet, uns führt, uns Orientierung gibt und uns treibt, wohin er will. Er weiß gut, was zu jeder Zeit und in jedem Moment notwendig ist“ (ebd.). So richtig und wichtig ein solcher Appell ist, so darf er allerdings nicht davon ent­lasten, eigene Anstrengungen zu unternehmen, um zu erkunden, woran es liegt, dass unter den in der Seelsorge Tätigen die genannten Sympto­me dermaßen weit verbreitet sind. Das allein auf das Versagen Einzel­ner zurückzuführen, ist zu kurzschlüssig. Vielmehr scheint hier etwas Pathologisches im Spiel zu sein, das es mithilfe von darauf speziali­sier­ten Wissenschaften aufzudecken gilt – zum Heil der Betroffenen und nicht zuletzt des ganzen Volkes Gottes.

Kirchliche Strukturreform

Auf die seiner Meinung nach unaufschiebbare Erneuerung der kirchli­chen Strukturen geht der Papst in den Abschnitten 27–33 ein. Entspre­chend seiner Volk-Gottes-Ekklesiologie (EG 111–131) setzt er an der kirchlichen Basis an, die den Ernstfall von Kirche ausmacht und in des­sen Dienst die weiteren Ebenen in ihrer Hierarchie stehen. Die Pfarrei hält der Papst nicht für eine überholte Struktur, sondern schreibt ihr eine große Formbarkeit und Beweglichkeit zu mit Blick auf die Heraus­forderungen, die sich vor Ort für die Kirche stellen (EG 28). Entschei­dend ist für ihn, dass sie nahe bei den Menschen ist – eine Maßgabe, die er gegenwärtig nicht hinreichend eingelöst sieht. Bemerkenswert ist auch, dass der Papst die Pfarrei von ihrem missionarischen und diakoni­schen Dienst in ihrem jeweiligen Territorium (und nicht nur innerhalb ihrer eigenen Grenzen) her bestimmt, für die die ganze Gemeinschaft und nicht allein ein ordinierter Leiter Verantwortung trägt. Ausdrück­lich würdigt er den evangelisierenden Eifer der Basisgemeinden und kleinen kirchlichen Gemeinschaften und Bewegungen, möchte diese aber „in die organische Seelsorge der Teil­kirche“ (EG 29) eingefügt wis­sen. Angesichts der Vielzahl der Gruppierungen und ihrer sehr unter­schiedlichen Ausrichtungen hätte man sich in diesem Abschnitt eine größere Differenziertheit gewünscht. Als nächste Ebene wird die Teil­kirche, also das Bistum angesprochen (EG 30 und 31). Bemerkenswert ist, dass der Papst seinen immer wieder erhobenen Appell, die Kirche müsse an die Peripherien gehen, hier mit Blick auf das jeweilige Terri­torium eines Bistums und seine sich wandelnden soziokulturellen Um­felder wiederholt. Mit Nachdruck fordert er, das ganze Volk Gottes an den Belangen der Leitung der Diözese zu beteiligen und die dafür vor­gesehenen Mitspracheregelungen auszuschöpfen. Der Bischof solle „Formen des pastoralen Dialogs anregen und suchen, in dem Wunsch, alle anzuhören und nicht nur einige, die ihm Komplimente machen“ (EG 31). Wie sehr dem Papst ein Verständnis des Bischofsamtes, das inmitten des Gottesvolkes angesiedelt ist, am Herzen liegt, hat er in mehreren Ansprachen seit seinem Amtsantritt eindrücklich zu ver­stehen gegeben.

Schließlich (EG 32) kommt der Papst auf sein eigenes Amt, das Papst­tum zu sprechen. Er greift die Mahnung von Papst Johannes Paul II. auf, die Ausübung dieses Amtes bedürfe einer dringlichen Klärung und Neu­ausrichtung, und stellt nüchtern fest, dass man seitdem in diesem Sin­ne bislang nur wenig vorangekommen sei. Ein Anliegen des letzten Konzils aufgreifend, plädiert er für eine Stärkung der Bischofskon­fe­­renzen und damit einhergehend für eine Dezentralisierung innerhalb der Kirche. Die Bischofskon­fe­renzen müssten über festgelegte Kompe­tenzbe­reiche verfügen, über die sie selbständig zu entscheiden hätten; und er spricht ihnen eine authentische Lehrautorität zu – was er übri­gens in diesem Schreiben bereits in der Weise beherzigt, dass er in seiner Argumentation immer wieder auf Beschlüsse von verschiedenen Bischofskonferenzen verweist. Auf die Reform der Kurie geht der Papst in diesem Schreiben nicht ein. Mit der Aufgabe, dazu Vorschläge zu erarbeiten, hat er bekanntlich eine eigene Kardinalskommission befasst.

In einem Beitrag zum 25. Jahrestag der „Kölner Erklärung“ für die Ka­tho­lische Nachrichtenagentur (veröffentlicht am 02.01.2014) ist Dietmar Mieth auch auf die vom Papst anvisierte Reform des Papst­amtes eingegangen. Ihm ist zuzustimmen, wenn er anmahnt: „Das Papstamt hatte sich seit dem 19. Jahrhundert mit geradezu absoluter Macht ausstatten lassen … Die Fülle und Autorität des Amtes kann ein einzelner nur wahrnehmen, wenn er Aufgaben delegiert. Die Macht war von einer Einzelperson – mit welcher Kompetenz und mit welchem Cha­­risma auch immer – spätestens im Zeitalter von Globalisierung und Pluralisierung weder überschaubar noch beherrschbar … [Denn] diese gemeinsame Leitungsverantwortung aller Bischöfe wird durch die vor­herige Kontrolle ihrer Unterwerfungsbereitschaft unter die Vorgaben der Kurie nicht gerade befördert … Wenn also eine Kurienreform zum Wohle der Kirche und zur ‚Freude des Evangeliums‘ wirksam sein soll, muss die Ausübung der päpstlichen Rechtsgewalt fundamental neu durchdacht werden. Wenn theologische Lehre, priesterliche Weihe und menschennahe Seelsorge immer unter dem Vorbehalt delegierter päpstlicher Rechtsgewalt stehen, ist die Kirche auch im geistlichen Sinne schlecht durchgelüftet. Es geht nicht um die Illusion, die Kirche basisdemokratisch gleichzuschalten. Aber viel wäre gewonnen, wenn die Kirche dem Bild des Zweiten Vatikanischen Konzils von einer Kom­mu­nikationsgemeinschaft ohne Einbahnstraßen entsprechen könnte.“

Seinen Ausführungen zur Strukturreform misst der Papst „eine pro­grammatische Bedeutung“ (EG 25) zu. Es müsse Schluss sein mit dem bequemem pastoralen Kriterium des „Es wurde immer so gemacht“ (EG 33). Wagemut und Kreativität stünden auf der Tagesordnung.

Konzentration auf das Wesentliche

Als Maßgabe für alle Reformmaßnahmen führt der Papst an, dass sie dazu dienen müssten, dass die frohe Botschaft von dem Gott, der die Menschen liebt und rettet, im Mittelpunkt stehe und die Verkündigung und das sonstige kirchliche Tun sich nicht in Allotria verlieren (EG 34–39). Entsprechend großen Wert legt er auf gut vorbereitete Predigten (EG 135–159) und eine gehaltvolle Katechese (EG 163–168). Obwohl er betont, dass das ganze Volk Gottes das Evangelium verkün­det (EG 111–134), kommt ihm allerdings nicht in den Sinn, dass auch Laien mit dem Dienst der Predigt beauftragt werden könnten.

Barmherzigkeit als pastorale Tugend

Die Kirche sendet eine Double-bind-Botschaft aus, wenn sie den Men­schen die Liebe Gottes predigt, aber im Zweifelsfall – wenn die Men­schen sich nicht entsprechend ihren Normen verhalten – mit ihnen per Gesetz verfährt. Hier gilt es für den Papst, sich an der Barmherzigkeit Gottes zu orientieren. Wie wichtig ihm diese Maxime „Barmherzigkeit“ ist, zeigt sich daran, dass das Wort wie ein roter Faden sein Schreiben durchzieht. Allerdings kann das auf Dauer kein Ersatz dafür sein, die Frage nach der Gerechtigkeit aufzuwerfen. Wenn der Forderung des letzten Konzils Rechnung getragen werden soll, Lehre und Leben wieder stärker zusammenzubuchstabieren, muss auch der Bereich der über­kom­menen Lehre, vor allem der zur Moral, auf den Prüfstand gestellt werden.

Bei aller Zustimmung hat das apostolische Schreiben auch, wie bereits zu einigen Punkten vermerkt, Schwächen. Zu diesen gehört auch, was der Papst über den Beitrag der Frauen im kirchlichen Leben schreibt (EG 103 f.). Hier vertritt er ein Frauenbild, das weit hinter dem Stand des Genderdiskurses auch innerhalb der Theologie zurückbleibt und für den Großteil der Betroffenen kaum nachvollziehbar ist.

Ein Hoffnung machendes Dokument

Aber insgesamt ist dieses Schreiben wegweisend für eine Kirche, die den epochalen Wandel von der konstantinischen zu einer nachkonstan­ti­nischen und postkolonialen Ära zu vollziehen gewillt ist. Der Pastoral­theologie, die sich dem konziliaren Aufbruch verpflichtet weiß, steht es gut an, alles für sie Mögliche zu tun, um diesen Weg – auf dem mit vie­ler­lei Widerständen zu rechnen ist – entschieden zu forcieren.