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Die säkulare Welt als Chance

Die „Gegensätzlichkeit“ von Kirche und Welt nimmt Thomas Herkert zum Anlass, sie in dialektischer Weise durch zu meditieren. Er zeigt auf, wie die Kirche auf diesem Hintergrund zu einem evangelisierenden Dialog kommen kann.

1. Gegensätze

Wir sind es gewohnt, in Gegensätzen zu denken. Das ist zunächst nicht schlecht, erleichtert es uns doch das schnelle Navigieren durch die vie­len Entscheidungsmöglichkeiten, aber auch durch die Entscheidungs­zwän­ge, die tagtäglich auf uns niederprasseln und von denen wir uns nicht dispensieren können, sofern wir nicht das Schicksal von Buridans Esel teilen wollen, der bekanntlich verhungert, weil er sich für keinen der beiden Heuhaufen entscheiden konnte.

Es wird allerdings sofort problematisch, wenn der Irrtum entsteht, das Leben – unseres wie das unserer Mitmenschen – lasse sich vollständig in Gegensätzen abbilden oder mit ihnen ausreichend beschreiben. Denn genau dann verlieren diese Gegensätze ihren Sinn und pervertieren das Leben von uns modernen Menschen, das sich faktisch immer im Zwi­schen­raum dieser Orientierungsgegensätze abspielt: in den Grauzonen, irgendwo zwischen schwarz und weiß.

Auch Jesus nutzt selbstverständlich die Orientierungskraft von Gegen­sätzen, um ihren Kern klar zu konturieren. Gleichzeitig macht der Naza­rener aber durch sein Verhalten deutlich, dass Leben sich nicht durch Orien­tierungsmarken beschreiben lässt, sondern zumeist in deren Zwi­schenräumen stattfindet. Und deshalb kritisiert Jesus auch, wenn Orientierungsmarken zu Gesetzen, gar göttlichen Gesetzen gemacht werden. Wohl deswegen durchbricht er sie mit seinen Jüngern regel­mäßig. Dies ist auch für die Christinnen und Christen der zweiten Genera­tion eine direkte Folge des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu: Da gibt es nicht mehr oben und unten, rein – unrein, Mann – Frau, Gerechter – Sünder; Jude – Heide, Menschenarbeit – Gottesdienst; Gott – Mensch. Es wäre außerdem in diesem Zusammenhang zu überlegen, was der Gegenbegriff zur „säkularen Welt“ wäre und darüber nachzu­den­ken, ob das tatsächlich erstrebenswert ist. „Sakralisierte Welt“ etwa?

2. Kirche und Welt

Die Frohe Botschaft sollte uns also ein gerüttelt Maß an Skepsis gegen­über jeglicher Schwarzweißmalerei vermitteln. Evangelisierung, so mein Vorschlag, sollte genau da ansetzen: Jede Evangelisierung ist zu­nächst Selbstevangelisierung und damit im eigentlichen Wortsinn „meta­noia“: Neubesinnung auf das Wesentliche des Lebens und des Glaubens. Damit meine ich weder geistliche Übung noch strategisches Spiel. Zur „metanoia“ gehört, dass ‚mensch‘ zunächst wahrnimmt, was sein eigenes Leben prägt und ausmacht, wie seine Umwelt aussieht. Dann wird zu einer Vorurteilskritik weiterzugehen sein: Sind denn mei­ne Wahrnehmungen und meine Lebensgestaltung die einzig legitimen? Gar die einzig richtigen? Gilt es nicht zuerst, den Nächsten so zu neh­men, wie er ist? Fremd vielleicht, aber doch zu achten und zu respek­tieren in Lebensführung und Entscheidungen? Hier zitiere ich gerne Klaus Hemmerle, der meisterhaft ausdrückt, was für mich die Dynamik des biblischen Glaubens und der Botschaft Jesu ist: „Lass mich dich ler­nen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“

Kirche hat in ihrer Geschichte selten durch dogmatische Diskurse die Herzen der Menschen erreicht. Ihr über die Jahrhunderte hinweg arg verkompliziertes Lehrgebäude ist für den aufgeklärten Menschen unserer Tage kaum von großer Anziehungskraft.

Kirche hat Menschen dort angezogen und neugierig auf ihre Botschaft gemacht, wo sie sich denen am Rande zugewandt hat und ihnen deut­lich zu machen verstand, dass Gott sie nicht verlässt. Dies ist sicher der Grund, warum Papst Franziskus nicht müde wird, die Kirche auf die Ränder hinzuweisen und sie auffordert, sich genau dorthin zu begeben: an die Ränder von Gesellschaft und Kirche, in die Grauzonen des Lebens. Die intuitive Sicherheit, die aus den Äußerungen des Papstes spricht, mag von seinem sensiblen Gespür herrühren, dass die Kirche eine Botschaft zum Leben auszurichten hat. Dies verträgt sich nicht damit, dass Kirche selbst Menschen marginalisiert und an die Ränder drängt, manchmal auch darüber hinaus. Hier liegt meiner Meinung nach auch der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Glaubwürdig­keitskrise unserer Kirche: Entgegen der Botschaft und dem Beispiel Jesu entfernt sie Menschen aus ihrer Gemeinschaft, weil sie ethischen An­sprü­chen nicht genügen. Gleichzeitig bleiben weit schwerer wiegende ethische Vergehen des eigenen Führungspersonals nicht nur ungesühnt, sondern wurden über Jahrzehnte hinweg vertuscht. Kirche versucht zu definieren, welche Liebe natürlich und gottgewollt sei und welche nicht. Ganz abgesehen von der Diskrepanz zur Erfahrung vieler Men­schen und zum wissenschaftlichen Kenntnisstand transportiert all dies eine Haltung, als wisse die Kirche, wem Gott wie nahe ist.

In einer solchen Situation beeindrucken Sätze, die eine andere Haltung offenbaren – wie etwa der des Berliner Erzbischofs Woelki zur Begrü­ßung von Papst Benedikt XVI. im Olympiastadion. Nachdem er das Leben seiner Stadt, bunt und bisweilen schrill, multikulturell und von allen Religionen geprägt, gleichzeitig weitgehend entkirchlicht, realis­tisch beschrieben hatte, sagte er in überzeugtem Ton: „Dies ist aber keine gottlose Stadt!“ Genau darum geht es, wenn Kirche ihren Ort sucht in unserer säkularen und multioptionalen Gesellschaft. Die Wen­dung hin zum Menschen mit seinem gelebten Leben, das in Gegensatz­paaren einfach nicht adäquat zu fassen ist.

Ich halte die Trennung zwischen Kirche und säkularer Gesellschaft auch deswegen für so schwierig, weil sie zu leicht ein Gefälle in die Diskus­sion bringen: Wir und die, Katholiken und Protestanten, Glaubende und Ungläubige, Kirchliche und Gottlose … Jahrhundertelang verstand die katholische Kirche ihre „Außenbeziehungen“ aus diesem Gefälle her­aus, und viele lehramtliche Dokumente legen davon beredtes Zeugnis ab.

Ich möchte der heutigen Kirche nicht unterstellen, sie agiere wissent­lich und geplant in dieser Haltung, zumal sie im II. Vatikanum bis in die Formulierung der Konzilstexte hinein die Haltung der Konfrontation und des Gefälles (wir – ihr) durch das neue Paradigma der „Communio“ (wir) auch lehramtlich überwunden hat. Aber bei ehrlicher Analyse müs­sen wir zugeben, dass wir den Menschen oft in der „alten“ Haltung begegnen und von ihnen reden, als würden wir etwas besitzen, das sie (noch) nicht haben. Als sei ihr Leben – verglichen mit dem unseren – dann doch irgendwo defizient. Viele Reden von Kirche und Glaube in säkularer Umgebung lassen diese Untertöne durchklingen. Genau das akzeptieren viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche – zu Recht – nicht mehr. Ablesbar ist diese „Fehlhaltung“ an vielen klagen­den Einlassungen von führenden Kirchenvertretern, wie schlecht die Welt doch sei, die säkularisierte natürlich, und wie schlimm es sei, dass der Glaube verdunstet, Wertesysteme zerbrochen und die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaft in Vergessenheit geraten seien. Glaubens­krise! Gottesdämmerung!

Ganz abgesehen davon, dass diese Predigten meist denen gehalten wer­den, die ja (noch) Christen, Kir­chenmitglieder und sogar Gottesdienst­besucher sind, ist dieser Befund abzulesen am Erstaunen derselben Kirchenvertreter, wenn sie in Kontakt mit den echten Lebenswelten z. B. Jugendlicher geraten – wenn diese „Opfer“ unserer entkirchlichten Sinnwüste sehr wohl Idealen folgen, wie sie auch die Kirche vertritt – nur eben ohne jeden Bezug auf sie – und dabei auch noch glücklich sind. Dass darüber hinaus viele Menschen sich durchaus in der Lage sehen, sich als gläubig und sogar als christlich zu bezeichnen ohne jeden Bezug auf eine der Großkirchen. Und nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei haben.

Wenn wir als Kirche immer erst einen Mangel konstruieren müssen, um die Attraktivität der eigenen Botschaft aus dem Negativen zu beschrei­ben, dann müssen wir uns über die Skepsis der Menschen nicht wun­dern. Denn auch angesichts vieler Missstände in unseren westlichen Ge­sellschaften haben wir in der (christlich fest regierten) Geschichte Euro­pas doch noch nie so lange Phasen von Frieden und so großer persönli­cher Freiheit in relativem Wohlstand erlebt. Jenes Gefälle wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einer Haltung. Jenseits aller konkreten Pro­bleme unserer Kirche ist diese Haltung – wo auch immer sie auftritt – das eigentliche Problem.

3. Kirche in Welt

Es ist kein Zufall, dass Papst Franziskus viel von Demut spricht, von Bescheidenheit und – was viel wichtiger ist – vorlebt, was er meint. Viele Bischöfe und Kardinäle reden nun auch wie der Papst und fordern, was ihnen noch vor Monaten tabu war: Nachdenken über den Pflicht­zölibat, einen Primat der Barmherzigkeit auch gegenüber geschiedenen Wiederverheirateten, eine neue Haltung gegenüber homosexuellen Menschen u. v. a. m. Das Problem besteht darin, dass seit dem März diesen Jahres die vorher Mutlosen mutig geworden sind, gleichzeitig aber deutlich wird, dass viele in ihrer Haltung noch weit von dem entfernt sind, was der Papst vorlegt und vorlebt. Dass die Menschen innerhalb der Kirche – den anderen ist das längst egal – das nicht mehr zu akzeptieren bereit sind, kann man nicht nur in deutschen Bistümern besichtigen.

Der Bischof von Rom scheut sich nicht, in einem Interview mit dem atheistischen Gründer der linkliberalen Zeitung „La Repubblica“ das höfische Gehabe in der Kurie als „die Lepra des Papsttums“ zu kritisie­ren. Es wird also auch an der Spitze wahrgenommen und zugegeben, dass die Kirche nicht ein reines Gegenüber zur Welt darstellt, sondern in der Welt existiert: Sie hat eine Geschichte mit Höhepunkten der Mensch­lichkeit und furchtbaren Fehlentwicklungen, und sie lebt zwi­schen den eigenen Idealen und der abgründigen Fehlerhaftigkeit der Menschen, die sie bilden – wie alle anderen Menschen auch. Grautöne!

Ein Weg, wie Evangelisierung wirken kann, zunächst auf die Kirche selbst und dann auf jene Menschen, die religiös Suchende sind, ist Demut. Die De­mut zuzugeben, dass wir selbst Teil dieser Welt sind, von ihr hervorgebracht und geprägt in aller Ambivalenz des freien und zu­gleich sündigen Menschen. Nur in dieser Demut haben wir das Recht, diese Welt zu kritisieren, wo dies im Sinn der Botschaft Jesu nötig ist. Aber nochmals demütig ist einzugestehen, dass diese Kritik uns selbst zuerst trifft – und nicht immer nur „die Anderen“. Ein solches Bewusst­sein schafft Augenhöhe und ermöglicht Dialog. Jeder Versuch aber, das „alte“ Gefälle wiederzubeleben, erzeugt nicht einmal mehr Gegenwehr, sondern gibt die Kirche der Lächerlichkeit preis.

Zugegeben: All das beschreibt ein Übungsfeld. Nicht nur die Kirche findet sich darauf wieder, sondern alle bisher (fast) unangetasteten Institutionen. Aber die Tatsache, dass die kritische Aufmerksamkeit vieler Menschen sich nicht mehr mit Lippenbekenntnissen und ge­drechselten Worthülsen zufrieden gibt, sondern ein feines Gespür für Authentizität hat, eröffnet Kirche die Chance, eine neue Haltung einzuüben. Angesichts der Erkenntnis, dass es lange braucht, bis aus Bekenntnissen Haltungen werden, sollten wir schleunigst damit beginnen.

4. Kirche mit Welt

Kirche spielt sich nicht nur in Welt ab (und ist ein Teil von ihr), sondern auch in Zeit. Es war noch nie anders. Deshalb gehört neben der Konti­nui­tät in den Grundaussagen auch die Diskontinuität – man könnte auch sagen die Reformfähigkeit – zu ihrem Grundprogramm. Das beste Beispiel gibt uns Jesus in den Evangelien selbst: „Ihr habt gehört … Ich aber sage euch!“ Kaum jemand behauptet heute noch, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus stelle auch das Ende der geschichtlichen Ent­wicklung der Kirche und ihrer Lehre dar. Diese Kirche hat sich in ihrer Geschichte für jedermann sichtbar enorm weiterentwickelt und hat immer – wenn auch oft mit einiger Verzögerung - auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert. Warum also sollte ihr das heute nicht gelingen? Zumal sie aus einem reichen Fundus an Erfahrungen schöpfen kann, wenn sie erst einmal ihre eigene Vielfalt ernst nimmt.

5. Evangelisierung und Dialog

Wenn wir einen echten Dialog nicht nur innerkirchlich, sondern in und mit unserer Gesellschaft führen wollen, kann es sich die Kirche nicht mehr leisten, sich wie ein hier kleinerer, dort größerer Binnenraum zu verstehen, in dem eine besondere Sprache gesprochen, besondere Um­gangsformen gepflegt und besondere Konventionen beachtet werden – vor allem dann, wenn man darüber nachdenkt, wie diese Kommunika­tion auf jene wirken muss, die diesem Binnenraum nicht (mehr) ange­hören und infolgedessen Sprache und Umgangsformen nicht (mehr) verstehen.

Stattdessen muss sie sich mühen, nicht nur die „Zeichen der Zeit“, sondern auch die „Sprache der Zeit“ zu verstehen und aufruhend auf diesem Verständnis ihre Botschaft für die Menschen so übersetzen, dass sie für deren Lebensgestaltung fruchtbar werden kann.

Der christliche Glaube muss sich auf dem modernen Markt der Möglich­keiten keinesfalls verstecken, sondern ist mit seinen Inhalten gegenüber den unglaublich breit gefächerten und aus den verschiedensten kultu­rellen Hintergründen zusammengestellten Sinnangeboten, die dem mo­dernen Menschen ständig als angeblich »neue Wege« begegnen, ab­solut konkurrenzfähig. Das Menschenbild des Christentums ist durch­aus gefragt. Entscheidend aber ist die Form, wie dieses Menschenbild und damit auch das christliche Gottesbild erklärt und in Diskussionen eingebracht werden. Weiter entscheidend wird sein, ob wir Christen in einen echten Dialog eintreten wollen und in verantworteter Zeitgenos­senschaft die Stimme dort erheben, wo Zeugnis für unseren Glauben verlangt oder Einspruch gegen menschenunwürdiges Handeln geboten ist.

Wohlgemerkt: Einen ernsthaften Dialog zu führen heißt gerade nicht, die eigene Meinung zurückzunehmen oder sie nur zaghaft-defensiv zu vertreten. Im Gegenteil. Dialog heißt, von einem entschiedenen Stand­punkt aus den Gesprächspartnern auf Augenhöhe zu begegnen. Dies mit Achtung vor der anderen, fremden, vielleicht befremdenden Meinung, jedenfalls aber mit Respekt und Toleranz vor dem Dialogpartner. Dies gilt auch dann, wenn je eigene Gewissensentscheidungen in Spannung zu kirchlichen Lehrvorgaben stehen.

Eine durch das Pontifikat Franziskus‘ aktualisierte Frage ist, worauf die Kirche in unserer Zeit strategisch setzen wird: eine Gegenwelt aufzu­bau­en, zu der sich zu bekehren die moderne Gesellschaft aufgerufen und eingeladen ist; oder sich der Herausforderung zu stellen, sich im Sinne einer aus christlichem Glauben verantworteten Zeitgenossen­schaft in die aktuellen Diskussionen einzumischen – um der Menschen und ihres Lebens willen. Dies sollte sie dann aber nicht in Form von autoritativ definierten und bei Nichtbeachtung mit Strafen sanktionier­ten Lehrsätzen tun, die weder beachtet noch verstanden werden. Die Kirche hätte die Chance, sich als erfahrene Anwältin der Menschen, die keine Stimme haben, zu Wort zu melden und als entschiedene Streite­rin für ein Menschenbild einzutreten, das der christlichen Botschaft entspricht.

Dann womöglich werden wir auch wieder nach unserem Glauben gefragt.