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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

der derzeitige Epochenumbruch, der spätestens in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte, beeinflusst nicht nur individuelles und gesellschaftliches Bewusstsein, sondern selbstverständlich auch die Art und Weise, wie Menschen nach Sinn und Transzendenz fragen und dies in religiösen Vorstellungen und Praktiken realisieren. Die fran­zö­­si­sche Soziologin Daniele Hervieu-Léger hat Religion in Bewegung be­schrie­ben und die Typen spätmoderner Religiosität als „Pilger und Kon­vertiten“ gekennzeichnet. Wenn Modernisierung insbesondere durch Prozesse der Pluralisierung stattfindet, dann gilt dies für Religion in gleicher Weise. In Deutschland führt die Begegnung mit fernöstlichen und esoterischen Vorstellungen dazu, dass nicht nur außerhalb der ver­fassten christlichen Kirchen, sondern auch bei ihren Gläubigen selbst die Bandbreite dessen zunimmt, wie heute Religion verstanden und gelebt wird. Spirituelle Orientierung gilt als Megatrend, zeigt sich aber in vielfältigen Formaten. Natürlich gab es immer eine gewisse Differenz zwischen dem von der Kirche als normativ verstandenen, in geronne­nen Bekenntnisformulierungen (Symbola) niedergelegten Glauben der Gesamtkirche und dem personal und biografisch rückgebundenen Glau­ben und der religiösen Erfahrung des Einzelnen. Dennoch scheint in der Gegenwartskultur der Pool des religiös Möglichen und Vertretenen zu wachsen und scheinen die Gläubigen als Akteure ihrer Religiosität zu Wanderern zu werden, die verschiedentlich Glaubensvorstellungen auf­nehmen, verarbeiten und unter bestimmten Gesichtspunkten kombi­nie­ren. Ist dies ein Trend, dem eine Kirche um der „Reinerhaltung ihrer Lehre” willen Einhalt gebieten muss? Oder zeigen sich hier unter neuer Wert­schätzung von „Volksreligiosität” auf dem Hintergrund der Lehre vom Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidelium) neue Inkultura­tio­nen des Evangeliums? Wo sind möglicherweise verantwortete Grenzzie­­hungen zwischen persönlicher Religiosität einerseits und überliefertem, wenn auch kontextualisiertem Christentum zu ziehen? Diese Ausgabe von euangel befasst sich mit dem interessanten Grenzbereich von religi­ons­wissenschaftlicher Wahrnehmung und kirchlicher Deutung religi­öser Pluralisierungsprozesse. Wie kann die Kirche, mithin ihre Verant­wort­lichen, mit dieser Situation umgehen? Ich wünsche Ihnen eine anregen­de Lektüre und grüße Sie herzlich