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Cyberteologia

Das Internet mit seinen vielfältigen Informations- und Kommunika­tions­möglichkeiten ist aus unserer Welt kaum noch wegzudenken. Kaum zwei Jahrzehnte, nachdem es über einen engen Kreis von „Ein­geweihten“ hinaus überhaupt ins öffentliche Bewusstsein getreten ist, hat es sich zur prägenden Technologie unserer Zeit entwickelt; längst ist es vom bloßen Kommunikationswerkzeug zu einem selbstverständli­chen Teil unserer Lebenswirklichkeit und zu einem Lebensraum gewor­den. Zahllose Veröffentlichungen beschäftigen sich mit seinen ökono­mi­schen, soziologischen, psychologischen Einflüssen und Folgen. Aber wie steht es um seine Auswirkungen auf den Glauben, die Spiritualität? Bleiben Kirche und Theologie von der technologischen Entwicklung unberührt?

Wenn das Netz die Fähigkeit des Menschen prägt, die Realität zu verste­hen, prägt es damit auch die Fähigkeit, Glauben und Glaubenspraxis zu verstehen – wenn es das Denken prägt, dann auch die Theologie, folgert der italienische Jesuit Antonio Spadaro, der sich bereits seit 1999 aus theologischer Sicht mit dem Internet beschäftigt. Wenn das Netz Kom­mu­nikation und Beziehungen neu gestaltet, dann bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf Christentum und Kirche, deren Wesen die Gemein­schaft und die Verkündigung des Evangeliums sind. Die Theologie muss zum einen diese Veränderungen selbst wahrnehmen und deuten, kann dann aber zum anderen auch die Logik des Netzes und seiner Kommuni­ka­tionsformen fruchtbar machen für das Verständnis des Glaubens selbst.

Auf den rund 130 Textseiten von „Cyberteologia“ reißt Spadaro eine Viel­zahl von Fragen an, die jede für sich Thema umfangreicher Unter­suchungen sein könnten. So bietet er hier weniger einen ausgereiften oder gar abgeschlossenen Entwurf einer „Theologie in Zeiten des Net­zes“ an, sondern versucht eher, die Notwendigkeit einer solchen kon­textuellen Theologie aufzuzeigen, den Blick zu schärfen für Zusam­menhänge und Analogien zwischen theologischen Fragestellungen und den Strukturen des Internets sowie Theologinnen und Theologen zu ermutigen, solche Ansatzpunkte zu entdecken und weiterzudenken.

Die Hauptgedanken seien hier kurz zusammengefasst:

1.       Ebenso wie frühere epochale Erfindungen (Buchdruck, Eisenbahn …) prägt das Internet Welt und Gesellschaft. Das Funktionieren tägli­cher Abläufe setzt das Netz bereits voraus. Es ist als Lebens-, Erfah­rungs- und Kommunikationsraum integrierender Teil des täglichen Lebens, keine vom „realen“ Leben getrennte Wirklichkeit, sondern mit anderen Lebensräumen untrennbar verflochten. Insbesondere Mobilge­räte und Touchscreens lassen die Grenzen oder Übergänge zwischen Mensch und Gerät, zwischen Netz und physischer/lokaler Realität un­sichtbar werden.

2.       Diese selbstverständliche Integration des Internets in unser Leben prägt einen neuen Stil zu denken und eine neue Art, die Welt zu bewoh­nen und zu organisieren. Damit wandelt sich auch der Mensch selbst. Technologie ist dabei per se nichts, was dem Menschen fremd und ihn entfremdend gegenübersteht, sondern in ihr verwirklichen sich seine Erkenntnisfähigkeit, Freiheit und Verantwortung, mit ihr erschließt er sich neue kognitive Räume der Interaktion mit der Welt. Vom Glauben her kann sie gesehen werden als Antwort des Menschen auf die Beru­fung, die Schöpfung (und daher auch sich selbst als deren Teil) zu gestal­ten. Der Mensch kann sie in seiner Freiheit ebenso zum Schlechten wie zum Guten nutzen.

3.       Wenn das Netz die Fähigkeit des Menschen prägt, die Realität zu verstehen, heißt das für den Gläubigen auch: die Fähigkeit, Glauben und Glaubenspraxis zu verstehen und auszudrücken. Wenn das Netz Kom­mu­nikation und Beziehungen verändert, dann auch Christentum und Kirche mit ihren Grundpfeilern Botschaft und Gemeinschaft. Nötig sind daher nicht nur Überlegungen, wie man die Netzmedien als Werkzeuge der Evangelisation einsetzen kann, oder eine soziologische Reflexion über den Glauben im Internet, sondern eine systematisch-theologische Reflexion der Auswirkungen auf das Verständnis von Offenbarung, Gna­­de, Kirche, Liturgie, Sakramenten ...

4.       Der weltweite Kommunikationsraum des Internets kann verstan­den werden als Ausdruck der Sehnsucht nach dem, was den einzelnen Menschen übersteigt, er steht für eine Weite und Fülle von Präsenz, Beziehung, Kom­munikation. Technologie und Geistigkeit/Spiritualität, Kommunikation und Theologie kreuzen sich. Wichtige Ansatzpunkte für eine theologische Auseinandersetzung scheinen hier: (a) die Kom­munikation als Kontext der Theologie und (b) das Modellieren theolo­gischer Reflexion anhand von Kommunikationsstrukturen.

5.       (a) Kommunikation als Kontext der Theologie: Wie formt die Logik des Netzes mit ihren starken Metaphern und Bildern das Hören der Bi­bel, die Gemeinschaft der Kirche, die Sakramente? Wie kann der Glaube gedacht werden im Licht der Logik des Netzes? Diese Fragen betreffen sowohl systematische als auch praktische Disziplinen der Theologie.
Einige Beispiele:

- Die Logik des Hörens ändert sich: Musik ist per mp3-Player oder Web­streaming ständig individuell verfügbar und wird zum „Soundtrack“ des täglichen Lebens, der eine emotionale Atmosphäre schafft. Durch Angebote wie die zufällige Wiedergabereihenfolge im „Shuffle-Modus“ beim mp3-Player oder die Nutzung der von einem Streamingdienst vorgeschlagenen Playlists, die zu einer bestimmten Stimmung passen, entsteht eine Zufälligkeit des Hörens, die zu einem Lebensstil der Im­provisation und Flexibilität passt. Indem sich die Alltagslogik des Hö­rens ändert, verändert sich auch das Hören als Grundakt des Glaubens. Das Gehörte überbringt nicht mehr primär eine Botschaft, vielmehr schafft es eine Umgebung, eine Atmosphäre, die emotional berührt.

- Information kommt im Push-Modus ungefragt auf den Menschen zu; der Mensch decodiert die Fragen aus den Antworten, die auf ihn ein­strö­men, statt selbst Fragen zu formulieren und zu stellen. Von zentra­ler Bedeutung ist damit die Unterscheidung dieser auf ihn zuströmen­den Information. So stellt sich auch die Gottesfrage erst in der Decodie­rung der Botschaften, die den Menschen existentiell getroffen haben.

- Beziehungen ändern sich, räumliche Nähe verliert an Bedeutung – wer ist unter diesen Bedingungen mein Nächster? Besteht die Gefahr, sich nur dem Gleichgesinnten irgendwo auf der Welt zuzuwenden, sich dabei von den Menschen der nächsten Umgebung aber zu entfremden?

- Geolokalisationsdienste erleichtern ein räumliches Zusammentreffen mit Freunden, wenn es sich durch zufällige geographische Nähe gerade ergibt. Könnte Kirche vor Ort damit „flüssiger“ werden: Könnte „Ge­mein­de“ sich versammeln, wann und wo es sich gerade ergibt? Was bedeutet, wie entsteht dann Zugehörigkeit?

6.       (b) Modellieren theologischer Reflexion anhand von Kommunika­tions­strukturen: Bietet die Logik des Netzes ein Deutungsmuster für eine theologische Frage?
Am Beispiel Ekklesiologie: Kann Kirche (auch) gesehen werden als „ge­meinfreier“ Raum (ein Raum, der allen frei zur Verfügung steht) und unterstützende Struktur für ein Netzwerk von Gläubigen? Als Plattform eines sozialen Netzwerks – eines dritten Raums zwischen „öffentlich“ und „privat“ –, das Vernetzung, Verbindung, Beziehung, Austausch, Ver­gemeinschaftung ermöglicht? Der hierarchiefreie, autoritäts­kriti­sche Charakter der Netzkommunikation scheint mit der Aufgabe der Kirche zur Verkündigung und Bewahrung der Glaubenstradition, die durch das Amt gewährleistet wird, nicht kompatibel. Das Netz kennt aber durch­aus etwas wie Autorität, nämlich in Form des Zeugnisses. Dieses setzt mehr voraus als bloße Verbindung und Vernetzung, näm­lich personale Beziehungen und Gemeinschaft.
Die Offenbarung übersteigt jedoch als etwas, was notwendig von außen kommt und nicht aus der Netzgemeinschaft hervorgebracht wird, den bloßen hierarchiefreien Austausch.

7.       Spadaro hält – unter Berufung auf lehramtliche Aussagen – fest, dass bei Sakramenten und Liturgie die „reale“, räumlich-körperliche Präsenz nicht durch eine „virtuelle“, medial vermittelte Präsenz ersetzt werden kann; es gibt im Internet keine Sakramente. Obwohl grundsätz­lich auch im Netz authentische religiöse Erfahrung möglich ist: Selbst wenn immer größere Immersion des auf technischem Weg Teilnehmen­den in das medial vermittelte Geschehen erreicht werden kann, bleibt das eine reduzierte, psychologisch-subjektive Präsenz, die dem objekti­ven Charakter von Liturgie nicht gerecht wird und in Gefahr ist, deren gemeinschaftlichen Charakter zu vernachlässigen und sie einseitig zu spiritualisieren.
Dennoch zeigt sich das Bedürfnis nach Gebet und Ritual im neuen Er­fah­rungs­raum des Internets, das nach neuen, den Netzmedien entspre­chenden Formen verlangt.
Weiter stellt sich die Frage, wie sich die von der Selbstverständlichkeit der Netzkommunikation geprägten Menschen auch als Subjekte der Liturgie verändern, so dass auf diesem Weg die technische Entwicklung eine Rückwirkung auf die Liturgie hat.

8.       Die Idee einer „kollektiven Intelligenz“ im Netz, so stellt Spadaro fest, hat eine theologische Grundprägung. Gegen Pierre Lévys Theorie der kollektiven Intelligenz, die ein mittelalterliches muslimisches Kon­zept des von Gott ausgehenden und über geistige Hierarchien bis hin zu den einzelnen Menschen sich ausbreitenden Intellekts so umkehrt, dass nun mit Hilfe der Technik die Intellektualität der Einzelnen sich zu ei­nem höheren Ganzen vereinigt, stellt Spadaro Teilhard de Chardins Begriff der Noosphäre, zu deren Entwicklung die Informations- und Kommunikations­technologie beiträgt. Das Internet und die Möglich­keiten, die es eröffnet, können somit verstanden werden als Elemente und Werkzeuge der durch den Logos gewirkten Entwicklung der Schöp­fung auf die Vollendung hin.

Nicht immer befriedigen die hier vorgelegten Denkansätze. Bei der Fra­ge nach Liturgie und Sakramenten etwa ist die lehramtliche Aussage, die „virtuelle“, medial vermittelte Präsenz habe nicht die dafür notwen­dige Qualität, bereits die Prämisse der Reflexion, die plausibel gemacht, aber nicht in Frage gestellt werden soll. Gerade eine solche Unterschei­dung von „virtuell“ und „real“ wird für die mit dem Lebensraum Inter­net Vertrauten jedoch immer weniger plausibel. Über das Netz kann durchaus authentische personale Begegnung und Gemeinschaft zustan­de kommen. Hier müsste erst einmal untersucht werden, ob diese Form der Gemeinschaft tatsächlich so defizient ist, wie die zitierten Doku­men­­te das offenbar voraussetzen. Beschränkt sich das Wirken des Heili­gen Geistes tatsächlich auf einen geographisch definierten Ort, oder kann dieser „Ort“ auch die physisch verstreute, aber medial versammel­te Gemeinschaft sein?

Zudem wird Liturgie anscheinend auf sakramentale Feiern enggeführt; schon die Stundenliturgie kommt nicht in den Blick. Die Frage ließe sich auch dahin erweitern, dass nicht nur die Einzelsakramente betrachtet werden, sondern die Sakramentalität der Kirche – wo und wie zeigt sich diese im Netz? Wodurch wird – trotz der angenommenen Defizienz und Gefährdetheit des „Virtuellen“ – Gnadenerfahrung im Netz möglich (was auch das zitierte Dokument des Päpstlichen Rates für die sozialen Kommunikationsmittel einräumt), welche Rolle kann die Kirche dabei spielen?

Man sieht an diesem Beispiel: Es bleibt noch viel weiterzudenken – interessante Fragen werden einer „Theologie in Zeiten des Netzes“ so schnell nicht ausgehen.

Andrea Imbsweiler