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Kirche Kunterbunt – Kirche, wie sie uns gefällt

Eine „Kirche Kunterbunt“ ist eine neue Form von Kirche, die sich vor allem an junge Familien ohne kirchliche Nähe richtet. Im englischspra­chigen Raum ist sie als „Messy Church“ bekannt und in Großbritannien als eine Form der anglikanischen Fresh Expressions entstanden, die all­tagsbezogen und niederschwellig kirchendistanzierte junge Familien mit ihren Kindern anspricht. Um ein monatliches Treffen für Eltern und Kinder herum bildet sich dabei ein neues Beziehungsnetzwerk. Über­haupt wird Gemeinde hier weniger von Programmangeboten her defi­niert, sondern als Beziehungsqualität. Kern-Elemente der zwei- bis dreistündigen Treffen sind Kreativ-Stationen zu einem Thema oder Bibeltext, ein gemeinsames Essen und ein kurzer „Werkstatt-Gottesdienst“. In den letzten fünf Jahren sind europaweit über 3000 Messy Churches entstanden, vor allem im englischsprachigen Raum – ein Phänomen …

Wie kann eine Kirche Kunterbunt ablaufen?

Freitagnachmittag halb vier. Unser zwölfköpfiges Team hat zehn Tische mit Stationen zur Jona-Geschichte vorbereitet. Wir treffen uns für die Gebetsrunde. Gleich wird sich das Gemeindehaus mit Eltern und Kin­dern füllen und ein wildes Gewusel einsetzen. Manche kommen direkt von der Schule, andere mit Spielkameraden, einige Eltern direkt von der Arbeit und haben eben ihre Kinder aus dem Kindergarten abgeholt.

Im Foyer wurden zwei bis drei kleinere Tische aufgebaut und mit Kek­sen ausgestattet. In dem ruhigeren Raum ist Platz zum Ausruhen, für eine Tasse Kaffee und ein nettes Gespräch. Zwei ältere Damen überneh­men den Ausschank und haben als „Barkeeper“ immer ein offenes Ohr für die Besucher.

Alle Besucher werden persönlich begrüßt. Auf einem Tisch mit Namens­schildern suchen alle nach ihrem Namen und für Neue erstellen wir ein Schild. Die Atmosphäre ist entspannt, man redet sich mit Vornamen an. Aus der Küche duftet es verführerisch. Manche haben sich in die Online-Liste eingetragen und bringen Salate mit. Dann klettert Heike auf einen Stuhl, begrüßt alle, sagt was zur Geschichte von Jona und dem Wal („Kann man vor Gott davonlaufen?“). Sie erklärt kurz die Stationen, die überall im Raum verteilt sind. Meist ist ein Mitglied aus dem Team am Tisch und erklärt, was zu tun ist, stellt einen Bezug zur Geschichte her. Wenig später geht es rund.

Hier drüben basteln einige einen Knet-Wal, dort kann man mit Playmo­bil die Jona-Geschichte nachstellen und das Ergebnis wird fotografiert. An einem Tisch wird geknobelt, es werden Abzählreime ausprobiert – Jona wurde ja auch ausgelost. In der Ecke gibt es den Wal-Tunnel. Wie fühlt es sich an im Innern eines Wals? Die Älteren können an drei Lap­tops mit einem PC-Spiel die Stadt Ninive entwickeln. Oder sie versu­chen auf dem Hof den Ball in ein improvisiertes Wal-Maul zu kicken. Auf der Bühne lernen einige mit Tobi das Jona-Lied und studieren einen kurzen Sketch ein. Andere lassen mit einem blauen Schwungtuch einen aufgeblasenen Wal im Meer tanzen und in einer anderen Ecke entsteht aus Kartons die Stadt Ninive. Auf einem Tisch ist Teig ausgerollt, Fisch-Ausstecher liegen bereit. Die Fisch-Plätzchen wandern in den Backofen und kommen zum Dessert wieder auf den Tisch. Immer wieder kann man die Station wechseln, Neues ausprobieren.

Um fünf stellt sich Tim, der heute den Werkstatt-Gottesdienst leitet, wieder auf einen Stuhl. Er bittet alle, in die Ecke zu kommen, wo Sitz­kissen liegen, der Beamer aufgebaut ist und einige Stühle stehen für die Omis, die mit ihren Enkeln da sind. Tobi stimmt das Jona-Lied an und lauthals singen viele mit. Der Sketch macht den Auftakt. Einige bleiben hinten stehen, sind noch auf Distanz. Aber das ist okay so. Es wird still im Raum für einige Sekunden. Wer will, kann mit Gott reden.

Inzwischen hat Nicole fünf Fotos aus der Playmobil-Ecke auf den Laptop gezogen. Tim erzählt an Hand der Bilder sehr dramatisch, wie Jona be­rufen wird, wie er abhaut, wie sie fast im Seesturm untergehen, wie Jona ausgelost wird und im Wal landet. Kann man vor Gott davonlau­fen? Hat er auch einen Auftrag für uns? Tim stellt die Frage an Jessica, die kurz erzählt, welchen Auftrag von Gott sie für sich erkannt hat. Schließlich werden ein paar Verse aus dem Walfisch-Gebet (Jona 2) in einfachen Sätze gemeinsam gesprochen, danach stehen alle im großen Kreis zum Segens-Lied. Der Werkstatt-Gottesdienst ist kurz, lebensnah und kurzweilig.

Im Anschluss bauen alle das Buffet auf. Ein Tischkanon mit Bewegun­gen eröffnet das Essen. Manchen gefällt er, sie werden ihn zuhause ein­führen. Es gibt Fischstäbchen („Sind die echt von einem Wal, Mami?“), Kartoffelbrei und die mitgebrachten Salate. Der Nachtisch, blauer Wa­ckelpudding mit frisch gebackenen Fischplätzchen, schmeckt super. Die Gespräche an den Tischen sind lebhaft. Um 18.30 Uhr ist der offizielle Teil zu Ende. Viele helfen mit beim Aufräumen. Einige haben für Sonn­tag einen gemeinsamen Ausflug vereinbart. Am schwarzen Brett im Foyer hängen Gesuche für Kinderklamotten oder Babysitter-Annoncen. Außerdem ein Infoplakat mit allen wichtigen Infos für die nächsten Veranstaltungen und der Nummer der WhatsApp-Gruppe sowie die Facebook-Adresse.

Nach und nach leert sich der Raum. Gegen halb acht schalte ich die Spülmaschine aus und lösche das Licht. Einige vom Team treffen sich noch in der Kneipe nebenan, werten aus und schmieden Pläne. Ich gehe erschöpft, aber überglücklich nach Hause. Menschen entdecken Gott, die Kirche gar nicht auf ihrem Schirm hatten, und fangen zuhause an, mit ihren Kindern zu beten. Welch ein Vorrecht, hier dabei zu sein. Nächste Woche trifft sich das Team – und in vier Wochen ist es schon wieder so weit. Viele sehe ich bereits morgen vor dem Kindergarten wieder.

Grundprinzipien einer Kirche Kunterbunt und Zielgruppen

Die Grundprinzipien einer Kirche Kunterbunt sind:

  • Gastfreundschaft: Eine Willkommens-Kultur leben – Tischgemein­schaft als Kennzeichen der Christen neu beleben. Gott ist Gastgeber, wir alle seine Gäste. Kreative Tischgebete, viele Tisch-Gespräche.
  • Generationenübergreifend: Ein Erlebnis für die ganze Familie, keine Altersgrenze nach unten, damit alle dabei sein können. Erwachsene lernen von Kindern – und umgekehrt.
  • Kreativität: Beteiligung an den Stationen und beim Werkstatt-Gottes­dienst, gemeinsam Spaß haben. Einen Lern-Raum eröffnen zum Entdecken des Evangeliums. Gelebtes Priestertum aller Gläubigen.
  • Feier: Werkstatt-Gottesdienst, Ergebnisse der Kreativ-Stationen flie­ßen ein, lokale Einfärbung. Eine eigene christliche Gemeinschaft – kein „Zubringer“ zum Sonntagsgottesdienst.
  • Christus-zentriert: Weit offen – und eine klare Mitte: Christus. Authen­tisches Christsein im Team leben. Nachfolge-Impulse geben, ein beziehungs-, nicht programmorientiertes Gemeindeverständnis.

 

So wird auch klar, was Kirche Kunterbunt nicht ist. Sie ist:

  • keine interne Gemeindeveranstaltung, denn über die Beziehungen vom Spielplatz oder der Grundschule werden junge Familien eingeladen. Taufeltern bekommen einen Brief, wenn ihre Sprösslinge fünf werden …
  • keine Brücke zum Sonntagsgottesdienst, sondern eine eigenständige Gemeinschaftsform und mehr als ein Event oder ein Programm-Angebot. Es gibt eine Namensliste, das Team betet für die Menschen, gibt Gebetsbücher für Kinder weiter. Christen und Nichtchristen fahren gemeinsam in Urlaub.
  • kein Sonntagsevent, denn Kirche Kunterbunt findet zu der Zeit statt, die allen am besten passt.
  • kein theoretisches Konzept, denn Kirche Kunterbunt ist eine breite Bewegung mit vielen lokalen Beispielen, die meisten bisher in Großbritannien, aber auch in den Niederlanden, Dänemark oder Schweden.

 

Eine Kirche Kunterbunt hat recht klare Kern-Zielgruppen und Andockstellen:

  • Familien mit Kindern von 0 bis 12 Jahren. Die Stationen sind meist für 5- bis 12-Jährige und ihre Eltern konzipiert.
  • Postmoderne Familien, die unter Alltagshektik und Berufsstress leiden, erleben eine „quality time“.
  • Eltern, deren Kinder in der Jungschar, d. h. in der christlichen Grup­penarbeit für Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren sind oder an Programmen eines CVJM/​einer Gemeinde teilnehmen.
  • Eltern, die ihre Kinder in den konfessionellen Kindergarten oder die christliche Kindertagesstätte schicken.
  • In sozial-missionarischen Projekten, die oft mit Kindern starten, ist eine Kirche Kunterbunt der passende nächste Schritt, da so auch die Eltern mit einbezogen werden (systemischer Ansatz).
  • Ein Kinderbibelwochen-Team bekommt eine „Ganzjahresaufgabe“.
  • Taufpaten lösen ihr Taufversprechen ein, indem sie ihr Patenkind zur Überraschungskirche begleiten.
  • Flüchtlingsfamilien oder Eltern mit behinderten Kindern können Gemeinschaft, Inklusion, kreative Betätigung, visuelle Verkündigung erfahren, erhalten Zugang zu einer christlichen Glaubenserfahrung.
  • Evaluationen zeigen, dass kirchenfernere Zielgruppen hier sehr gut erreicht werden – durch die natürlichen Beziehungsnetzwerke junger Familien vor Ort (Kindergarten, Spielplatz).

Ausblick

Unter dem Dach von Fresh X Deutschland soll bis Herbst 2019 eine Ver­netzungsplattform entstehen, die die Gründung neuer, generations­übergreifender christlicher Gemeinschaften fördert. Hier sollen Fami­lien Glauben erleben und Gottes frohe Botschaft für sich und ihre Fami­lien (wieder neu) entdecken können. Der Begriff Familie beschränkt sich dabei nicht auf die Kernfamilie, sondern ist explizit auch im Sinne der weiteren Familie bzw. moderner Familienformen zu verstehen.

Dies ist bedeutsam, gaben doch bei einer Umfrage in Deutschland zum Stellenwert von Familie, Beruf, Hobbys und Freunden rund 76 Prozent der Befragten an, dass für sie die Familie den höchsten Stellenwert hat. In der Regel fehlt die Altersgruppe zwischen 30 und 50 jedoch in den Kirchenbänken. Die Kirche Kunterbunt nimmt die Wichtigkeit der Fa­mi­lie in der Gesellschaft wahr und richtet sich an ein Kernelement der heutigen Familien: Gemeinschaft. Sie zeigt die Vereinbarkeit von Glau­ben in Gemeinschaft und Familienleben auf und praktiziert für Kinder und Familien angemessene Glaubensformen.