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Verständigungsorte in polarisierenden Zeiten

Eine Studie von midi zur Stimmungslage der Gesellschaft

Viele Menschen haben derzeit das Gefühl, dass die Gesellschaft verstärkt auseinanderdriftet und sich polarisiert. Wie kann angesichts zunehmender Spannungen, vielleicht sogar Spaltungen in der Gesellschaft Verständigung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern gelingen? Dies ist schließlich Voraussetzung und Zweck demokratischer Prozesse.

Die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) versucht mit ihrer Initiative #VerständigungsOrte, Räume für respektvollen Dialog und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Vor diesem Hintergrund hat midi eine quantitative empirische Studie beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag gegeben, innerhalb derer im Dezember 2024 2.000 Bürgerinnen und Bürger ab 18 Jahren in Deutschland im Rahmen einer repräsentativen Online-Studie befragt wurden. Ziel war es, die aktuelle Stimmungslage der Menschen in Deutschland und ihre Wahrnehmung zu Spaltungen in der Gesellschaft zu erfassen. In den Fragebogen wurden Items zur Demokratiezufriedenheit, zum Solidarklima und zur Einschätzung der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland aus Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung einbezogen.

Wahrnehmungen von Spaltungen in der Gesellschaft, Einstellung zur Demokratie und Solidarklima

Recht eindeutig fällt die Einschätzung zur Frage aus, ob unsere Gesellschaft gespalten ist: 82 % der Befragten bejahen dies, nur eine Minderheit von 12 % nimmt keine Spaltung wahr. Eine größere Gruppe (48 %) sieht diese Spaltung zwischen einer kleinen Minderheit und einer großen Mehrheit; von einer Spaltung in zwei gleich große Lage (ähnlich wie z. B. in den USA) gehen nur 37 % aus. Eine Mehrheit von 61 % äußert eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Demokratie, also mit dem politischen System, wie es in der Verfassung festgelegt ist, eine allerdings recht große Minderheit von 36 % ist damit nicht zufrieden. Fragt man jedoch nach der praktischen Umsetzung, also dem tatsächlichen Funktionieren des politischen Systems, so ist nur noch eine Minderheit von 38 % zufrieden, während 60 % unzufrieden sind. Die Unzufriedenheit ist besonders hoch in Ostdeutschland (66 %), in der Altersgruppe der 45- bis 59-Jährigen (65 %), bei denjenigen mit Hauptschul- oder mittlerem Schulabschluss (65 %), denjenigen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind (82 %), und unter den Anhängern der FDP (72 %) sowie der AfD und des BSW (jeweils 94 %). Das Solidarklima in unserer Gesellschaft wird nicht als besonders hoch eingeschätzt: Eine Mehrheit der Befragten (76 %) stimmt der Aussage zu, dass die meisten Menschen nur an sich selbst denken und nicht an andere. Ebenso empfindet eine große Mehrheit (77 %) die sozialen Unterschiede in Deutschland nicht als gerecht. Die Verteilung wirtschaftlicher Gewinne in Deutschland wird nur von sehr wenigen der Befragten (10 %) als gerecht angesehen.

Gesellschaftliches Sorgenbarometer

Im „gesellschaftlichen Sorgenbarometer“ werden als größte Sorgen aus einer Liste vorgegebener Themen an erster Stelle zunehmender Hass und Feindseligkeit in der Gesellschaft (89 %), eine Zunahme von Konflikten in unserer Gesellschaft (86 %) und eine Verschlechterung des Umgangs der Menschen miteinander genannt (86 %). Es folgen Rechtsextremismus (71 % – Linksextremismus im Gegensatz dazu mit 46 %) und zunehmende Inflation/​steigende Preise (70 %). Über die Möglichkeit einer deutschen Beteiligung an einem Krieg machen sich 61 %, über die Zunahme von Naturkatastrophen infolge des Klimawandels 60 % große bzw. sehr große Sorgen. Fragt man offen danach, welche gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland zurzeit am meisten Sorgen bereiten, werden am häufigsten der Rechtsruck bzw. Rechtsextremismus und der Zerfall der Demokratie (28 %) genannt, danach die Sorgen vor einem mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt und einer Verrohung bzw. Spaltung der Gesellschaft (19 %). Als aktuell größte Probleme in Deutschland werden die wirtschaftliche Lage/​der Arbeitsmarkt (46 %), die Politik/​Politiker allgemein (36 %), Zuwanderung/​Migration (32 %) sowie Inflation/​Lebenshaltung/​Mieten (32 %) eingestuft.

Zufriedenheit und Zukunftsaussichten

Trotz dieser Sorgen sind 78 % der Befragten mit ihrem Leben alles in allem zufrieden oder sehr zufrieden, 21 % sind eher bzw. sehr unzufrieden. Hinsichtlich der finanziellen Zufriedenheit sinkt die Zufriedenheit ab, allerdings nur leicht: 70 % sind desbezüglich eher/​sehr zufrieden, 30 % eher/​sehr unzufrieden. Auf das neue Jahr 2025 wird weniger optimistisch geblickt: Nur 44 % schauen persönlich eher mit Zuversicht, 52 % eher mit Sorgen auf das neue Jahr. Noch negativer fällt der Zukunftsausblick für Deutschland aus: Hier blicken nur 13 % mit Zuversicht, aber 85 % mit Sorgen auf 2025. Negativ fallen auch die Zukunftsaussichten für die künftigen Generationen aus: Nur 7 % glauben, dass es der jüngeren Generation in dreißig Jahren besser geht, 66 % gehen davon aus, dass es ihr schlechter im Vergleich zu heute gehen wird (18 % vermuten keine große Veränderung).

Politische Selbstwirksamkeit

Um die Einschätzungen zur politischen Selbstwirksamkeit ist es nicht besonders gut bestellt: Hier meinen 67 %, dass es jenseits von Wahlen für die Bürger nicht genügend Beteiligungsmöglichkeiten gibt; fast genauso viele (66 %) denken, dass die politischen Probleme heute so kompliziert geworden sind, dass sie nur sehr schwer zu durchschauen sind. Die Hälfte der Befragten gibt an, in Deutschland könne man nicht mehr frei seine Meinung äußern, ohne Ärger zu befürchten (51 %), 50 % fällt es schwer, politische Entscheidungen einer bestimmten Partei oder Person zuzuordnen. Nur 11 % glauben, dass die Politiker sich darum kümmern, was einfache Bürger denken.

Diskurskultur in der Krise

Eine überwiegende Mehrheit (70 %) der Befragten meint, dass Diskussionen in der Öffentlichkeit heute weniger sachlich und respektvoll geführt werden als früher. Über polarisierende Themen wird v. a. im persönlichen Nahfeld gesprochen, mit Freunden (64 %), dem engeren Familienkreis (59 %) oder dem/​der Partner/in (57 %). Im weiteren sozialen Umfeld finden solche Diskussionen weniger häufig statt (mit Arbeitskolleg/innen: 31 %, mit Bekannten: 19 %, mit Nachbarn: 14 %). 36 % berichten davon, dass solche Diskussionen nicht ganz so respektvoll oder unsachlich geführt wurden. Obwohl 80 % der Befragten angeben, mit den meisten Menschen in ihrem persönlichen Umfeld, mit denen sie in ihrem Alltag zu tun haben, in wichtigen Fragen des Lebens und der Politik übereinzustimmen, gibt es bei 59 % Themen, die sie im Umgang mit Menschen in ihrem persönlichen Umfeld bewusst nicht ansprechen, um mögliche Konflikte aufgrund unterschiedlicher Meinungen zu diesen Themen zu vermeiden. Bei diesen Themen handelt es sich v. a. um Politik allgemein (30 %) oder Asylpolitik/​Migration (26 %). 32 % sind schon einmal zu Personen in ihrem persönlichen Umfeld auf Distanz gegangen aufgrund unterschiedlicher Meinungen zu wichtigen gesellschaftlichen Themen oder haben sogar den Kontakt abgebrochen; am meisten kommt dies bei Anhängern der Grünen (43 %) und der Linken (52 %) vor.

Verständigungsmöglichkeiten

Als geeignete Umgebungen, um kontroverse gesellschaftliche Themen respektvoll und sachlich zu diskutieren, kommen nach Ansicht der Befragten v. a. Bürgerversammlungen in der eigenen Stadt oder Gemeinde in Frage (58 %), schon deutlich weniger klassische Medien (39 %) oder politische Parteien (38 %). Am wenigsten werden nichtkirchliche Wohlfahrts- und Sozialverbände (17 %), religiöse Gemeinden, Kirchengemeinden oder Diakonie und Caritas (16 %) und schließlich Social Media (15 %) für geeignete Umgebungen gehalten. Als wichtigstes Kriterium für Verständigungsorte wird eine neutrale, unvoreingenommene Moderation genannt (75 %), gefolgt von klaren Regeln für die Kommunikation (69 %), einer Anreicherung mit Expertenwissen und Fakten (61 %) sowie einem geschützten Rahmen, um frei seine Meinung äußern zu können (59 %).

Resilienz und Glaube

Mental auftanken können Menschen am besten in der Natur (57 %), durch Unternehmungen oder durch das Beisammensein mit der Familie (56 %), durch Lesen oder Fernsehen (52 %) oder durch Hobbys und Freizeitaktivitäten (50 %). Meditation, Gebet oder Gottesdienste werden nur von 6 bis 8 % der Befragten genannt. Es geben aber 32 % an, dass Spiritualität bzw. Religiosität für ihr mentales Wohlbefinden wichtig oder sehr wichtig ist. 36 % stimmen der Aussage „Gläubige Menschen kommen besser durch herausfordernde Zeiten als nicht gläubige Menschen“ zu.

Fazit: Die Gesellschaft im Modus „Ja, aber …“

Die Studie zeigt eine in vielfältiger Hinsicht ambivalente Situation auf, die auch mit einer „Ja-aber-Haltung“ beschrieben werden kann: Einerseits wird die demokratische Grundordnung anerkannt, andererseits gibt es Vorbehalte und Kritik an ihrer konkreten Umsetzung. Einerseits nimmt eine Mehrheit eine Spaltung der Gesellschaft wahr, andererseits nur eine Minderheit eine Spaltung in zwei gleich große Lager. Einerseits gibt es das Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung, andererseits eine Enttäuschung über die politische Repräsentation und Ordnung. Einerseits bleibt die soziale Kohäsion in Deutschland insgesamt relativ stabil, andererseits wird die gefühlte Spaltung durch Medien und politische Debatten verstärkt. Einerseits gibt es eine stille Mehrheitsgesellschaft, andererseits eine laute (rechts‑)​populistische Minderheit. Einerseits wird mehrheitlich eine hohe persönliche Lebenszufriedenheit geäußert, andererseits aber auch eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Zukunft der Gesellschaft und künftiger Generationen. Einerseits gibt es ein Bedürfnis nach Verständigung und Diskussion, andererseits eine Frustration über deren Qualität. Einerseits sind Anhänger der AfD überdurchschnittlich stark besorgt über den Zerfall demokratischer Institutionen und Strukturen, andererseits lehnen sie gleichzeitig die Demokratie in ihrer aktuellen Form mehrheitlich ab (das so genannte „Populismus-Paradox“).

Ambivalenz und Ungewissheit (Armin Nassehi spricht von „Unbehagen“ an der Gesellschaft) sind offensichtlich ein Kennzeichen moderner Gesellschaften. Sie müssen nicht nur als Defizit, sondern können auch als produktive Ressource angesehen werden: Sie fördern Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, aktivieren die Suche nach innovativen Lösungsstrategien und können so als Antrieb für soziale Transformation wirken.

Es käme also darauf an, die Diskurse in diese Richtung zu gestalten, so dass die Erfahrung des Wandels zu einer positiven, produktiven Ressource für neue gesellschaftliche Narrative wird. Professionell moderierte Verständigungsorte wären dafür wichtige Orte. Sie können helfen, emotionale Spannungen abzubauen und Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen zu schlagen. Ohne solche Räume, an denen konstruktive Dialoge geführt werden können, droht jedenfalls eine weitere Polarisierung der Gesellschaft.

 

Die Studie ist auf der Homepage von midi abrufbar:

Daniel Hörsch, Verständigungsorte in polarisierenden Zeiten. Studie zur Stimmungslage der Gesellschaft, Berlin 2025.