Es menschelt: Macht und Machtstreben in anthropologisch-ethischer Hinsicht
1. Eine „katholische“ Vorsichtsmaßnahme: Macht gilt es zu meiden
Im Jahr 1887 formulierte der englische Historiker John Dalberg-Acton, besser bekannt als Lord Acton, Folgendes: “Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely. Great men are almost always bad men, even when they exercise influence and not authority; still more when you superadd the tendency of the certainty of corruption by authority” (Dalberg 2011, 9). Macht wurde hier als gefährliche Kraft skizziert, die Menschen in ihrem Menschsein korrumpiert und von der es entweder Abstand zu halten gilt oder aber die eingehegt und kontrolliert werden muss, um den von ihr ausgehenden schädlichen Einfluss möglichst zu minieren. Hinter dieser Warnung stand für Lord Acton ein Wertekonflikt: Als liberaler Denker geht Acton von der prinzipiellen Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit aller Menschen aus, aus der auch folgt, dass alle Menschen gleichermaßen unter dem Recht stehen. Je größer die reale Macht, desto wahrscheinlicher sei es – so Acton –, dass jemand kein gerechtes Urteil erhalte oder ihm entkomme und sich damit der gebotenen Verantwortung für das eigene Handeln entziehe. Das bedeute also, Macht müsse so stark wie möglich eingeschränkt werden, um ihre gesellschaftsschädigende Wirkung zu minimieren.
Diese Haltung hat etwas intuitiv Einleuchtendes und ist zudem in der christlichen Tradition höchst anschlussfähig, denn „[b]ei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein“ (Mt 20,26). Gleichwohl wird diese Haltung insbesondere im kirchlichen Kontext zurecht als Machtvergessenheit und Machtignoranz – mit problematischen Folgen – kritisiert (vgl. hierzu beispielsweise Haslinger 2022; Henkelmann/Szymanowski 2023). Es lohnt sich also, etwas genauer hinzusehen, um herauszufinden, ob es zum Phänomen Macht nicht doch noch mehr zu sagen gibt. Das möchte ich im Folgenden in drei Schritten tun:
Zunächst interessiert mich die psychologische Dimension der Macht: Welche individuellen Machtmotive gibt es und was ist ihre Bedeutung? Dann werde ich der Frage nachgehen, wie sich Macht im gesellschaftlichen Kontext manifestiert, wie sie legitimiert wird und welche Arten von Kontrolle es gibt. Schließen werde ich mit einem Ausblick auf einige Machtfelder und -konstellationen, die mir besonders relevant erscheinen und an denen man ganz konkret viel darüber lernen kann, wie Machtdynamiken funktionieren.
2. Macht gehört zum Menschen: Machtmotive und ihre Bedeutung
In (sozial-)psychologischer Hinsicht ist Macht folgendermaßen zu charakterisieren: Macht meint, dass jemand, der/die die Macht hat, damit die Kontrolle darüber hat, wie sich eine andere Person verhält, wie diese reagiert, wie sie sich fühlt, welche Emotionen sie hat. Zwei oder mehrere Parteien, beispielsweise natürliche Personen, aber auch Organisationen, Institutionen oder Staaten, stehen dabei in einem Verhältnis zueinander, das von Kontrolle bzw. Kontrollverlust bestimmt ist. Bei der Machtausübung liegt eine momentane oder auch dauerhafte Über- und Unterordnung vor, zum Beispiel in Form einer Hierarchie.
In der konkreten Machtausübung gibt es zudem verschiedene Motivlagen: Es gibt jene, die Hoffnung auf Macht haben, und jene, die aus Furcht vor Machtverlust Macht ausüben. In beiden Versionen ist es möglich, dass diese Macht gehemmt oder ungehemmt ausgeübt wird. Die ungehemmte Hoffnung auf Macht zeichnet jene aus, die es genießen, stärker zu sein. Sie streben nach der direkten Konfrontation und agieren sehr transaktional. Sie manipulieren und koalieren, um ihr Ziel zu erreichen. Man hat den Eindruck, der amerikanische Präsident ist ein Vertreter dieser Gruppe, auch wenn Politiker*innen in ihrer Mehrheit eigentlich der zweiten Subgruppe zugeordnet werden, nämlich der gehemmten Version der Hoffnung auf Macht: Hier lässt es sich von sozialisierter Macht sprechen. Sie ist auf ein Drittes hin gerichtet, zum Beispiel um bestimmte Ziele zu verfolgen, für das Gemeinwohl etwas zu erreichen, Interessen zu vertreten, ihnen Gehör zu verschaffen. Nicht selten sind Vertreter*innen dieses Machtmotivs charismatisch und übernehmen Verantwortung für hochstehende Ziele. Jene, die aus Furcht vor Machtverlust Macht ausüben, genießen das Gefühl der Dominanz, vermutlich als Ausgleich erlebter Schwächen. Sie haben Machtfantasien und kompensieren ihre erlebte Machtlosigkeit zum Beispiel mit Alkohol oder Drogen.
Man könnte auch festhalten, dass Machtausübung bedeutet, Kontrolle auszuüben oder wiederzuerlangen. Dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Mechanismen, mit denen Menschen versuchen, ihr Leben zu leben, in denen sie aber zugleich auf andere (ein-)wirken. Ohnmacht, die sich um Kontrollverlust herum ereignet, gilt es zu vermeiden, um selbstwirksam zu werden. Auf der anderen Seite ist die erlebte Macht potentiell eine Autonomieeinschränkung.
Machtausübung hat also eine wichtige Funktion im menschlichen Miteinander, sie hat positive – man könnte auch sagen: ermächtigende – Elemente, indem sie Kontrolle ermöglicht, sie ist aber ebenso potentiell autonomieeinschränkend.
Wie lässt sich dieser ambivalente Befund etwas aufklären? Dafür lohnt es sich, einen näheren Blick auf das Zueinander von Individuen in einer Gesellschaft und auf sozialwissenschaftliche Machttheorien zu werfen.
3. Macht in Gemeinschaft: Kontrolle durch Verträge und die Frage nach der Legitimation
Einer der Begründer der deutschsprachigen Soziologie, Max Weber, versteht Macht als die Chance, den eigenen Willen auch gegen den Willen der/des Betroffenen durchzusetzen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1922, 28). Möchte man dem Miteinander von Menschen in sozialen Zusammenhängen weiter nachgehen, dann stellt sich die Frage, worauf diese Chance beruht. Anders formuliert geht es dabei um die Frage nach der Legitimation von Macht in Abgrenzung zur illegitimen Macht, der Gewalt. Machtausübung wird als individuelles Handeln innerhalb von sozialen Beziehungen bestimmt, deren gesellschaftliche Bewertung von den Rahmenbedingungen abhängig ist. Herrschaft setzt das Bestehen einer legitimen Ordnung voraus und ist damit ein Sonderfall der Macht.
Die Frage danach, wer wie herrschen darf, wurde und wird unterschiedlich beantwortet. Legitimations- und Plausibilisierungsbemühungen sind jeweils unterschiedlich und sagen etwas über die jeweilige Epoche und den geistesgeschichtlichen Hintergrund aus. Ein paar knappe Schlaglichter möchte ich hier anführen:
Der griechische Philosoph Platon vertritt in seiner Schrift Politeia den Standpunkt, Herrschaft werde bestmöglich ausgeübt, wenn sie in den Händen derer liege, die vermeintlich oder tatsächlich am klügsten seien, nämlich die Philosophen. Die Rede ist hier von der Philosophenherrschaft oder den Philosophenkönigen. Sie hätten idealerweise das Wohl der Gesellschaft ganzheitlich im Blick und würden nicht auf Basis einer Mehrheitsentscheidung, sondern aufgrund der ihnen zukommenden und zugeschriebenen Kompetenz Verantwortung übernehmen bzw. mit Macht ausgestattet.
Im christlichen Mittelalter begegnet uns eine Kombination aus religiöser Legitimation von Herrschaft in Kombination mit einem dynastischen Moment: Macht wird vererbt und/oder göttlich zugesprochen.
Im 30-jährigen Krieg (1618–1648) kommt es zur radikalen Infragestellung dieses Denkens und gewissermaßen zum Scheitern der bisherigen Ordnung. So ist es kein Zufall, wenn der englische Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes – insbesondere geprägt durch die Verwerfungen des englischen Bürgerkriegs 1642–1649 – im Jahr 1651 in seinem Leviathan danach fragt, was denn die Natur des Menschen sei. Was macht den Menschen aus – gerade wenn er zu solchen Monstrositäten fähig ist?
Methodisch geht Hobbes in De Cive dabei so vor: Er leitet ausgehend von Aussagen über den Menschen Prinzipien ab, die als Vernunftwahrheiten gelten können. Ihm geht es darum, das Wesen des Gemeinwesens zu ergründen, und er beginnt dabei beim Menschen. Für die Frage nach Macht und Herrschaft ist folgende bekannte Annahme bedeutsam: Im Naturzustand stehen Menschen nach Hobbes miteinander im Krieg – homo homini lupus. Um gegenseitigen Schaden zu verhindern, brauche es also ein Sicherungssystem dafür, dass nicht allein das Recht des Stärkeren herrsche. Es brauche zur Freiheitsermöglichung und ‑sicherung Herrschende. Die dauerhafte und stabile Sicherung dieser Verhältnisse erfolge durch einen Gesellschaftsvertrag.
Der zeitgenössische kanadische Kognitionswissenschaftler und Psychologie Steven Pinker kann diese Hobbes’sche Annahme empirisch belegen. In seiner Monografie Gewalt zeigt er, dass Gewalt in Gesellschaften insgesamt zurückgeht, und stellt unmittelbar den Zusammenhang zum starken Staat her (vgl. Pinker 2011). Ein starker Staat gebe Sicherheit und dämme die Neigung zur Gewalt ein. Dafür müsse es allerdings ein starker demokratischer Staat sein. Ein autoritär-starker Staat könne dieses Ergebnis nicht garantieren. Das lässt sich ganz aktuell beispielsweise in der Erforschung von Verrohung und Gewaltexzessen in der russischen Gesellschaft beobachten. Zahlreiche Publikationen zum sowjetischen Erbe einer Gewaltgeschichte und der Rolle von Gewalt in der russischen Gesellschaft heute (vgl. Hans 2024; Fischer 2023) weisen ebenfalls in diese Richtung.
Nun ließe sich aber einwenden, dass Hobbes möglicherweise zu kritisch, zu pessimistisch auf den Menschen geschaut hat. Geht es denn wirklich nur darum, die Menschen so zu kontrollieren, dass sie sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen? Man kann es auch mit dem Genfer Philosophen der Aufklärung halten, mit Jean-Jaques Rousseau, der den Menschen für von Natur aus gut hielt, jedoch die Gefahr sah, durch die Gesellschaft verdorben zu werden. Auch dann könne man mit Hilfe eines contrat social, eines Gesellschaftsvertrags, gemeinsam das Gute wollen.
Was haben diese beiden Denker gemeinsam? Sie erkennen an, dass es in Gesellschaften verschiedene Interessen gibt; dass einzelne Bürgerinnen und Bürger zusammenleben und dabei Macht wirksam wird. Unregulierte und illegitime Macht gelte es zu verhindern – und zwar um der individuellen Freiheiten der Einzelnen wie auch der Stabilität des Gemeinwesens willen. Für die Kontrolle und Legitimation brauche es also eine Auseinandersetzung darüber, wie Macht und Herrschaft ausgestaltet werden. Sie werde durch Zustimmung der betroffenen Bürger und Bürgerinnen ins Werk gesetzt.
In den spätmodernen Gesellschaften der Gegenwart ließe sich daran anschließend fragen, ob es überhaupt noch hilfreich ist, in derart absoluter Perspektive zu sprechen, oder ob es nicht angemessener ist, die jeweiligen Machtlogiken einzelner gesellschaftlicher Systeme zu untersuchen. Hier kann es unterschiedliche Legitimationen und verschiedene Arten der Kontrolle geben. Festzuhalten ist damit vorerst:
Erstens: Macht gibt es dort, wo Menschen sind. Deshalb ist dieser Beitrag mit „Es menschelt“ überschrieben. Die These von Lord Acton, wonach Macht immer korrumpiert, ist damit zumindest anzufragen. Zumindest kann sie aber als Warnung vor dem destruktiven Potential von Macht dienen und einen Fokus auf die soziale Umgebung von Macht legen. Denn für den kirchlichen Kontext besonders signifikant macht dieses Zitat der zeithistorische Kontext. Lord Acton war Katholik sowie ein Schüler und Freund des einflussreichen Münchner Theologen und Kirchenhistorikers Ignaz von Döllinger, der aufgrund seiner Ablehnung des Dogmas über die päpstliche Unfehlbarkeit im April 1871 exkommuniziert worden war. Acton selbst gehörte zu den freimütigen Kritikern eines ultramontanen Katholizismus, auch wenn er zeitlebens Mitglied der katholischen Kirche blieb. In genau diesem Kontext schrieb er im April 1887 an den anglikanischen Kirchenhistoriker und späteren Bischof der Church of England, Mandell Creighton, die oben zitierten Zeilen. Lord Actons Sorge, dass Macht korrumpiert, war also ganz konkret bezogen darauf, dass sich seine Kirche durch die Dogmatisierung päpstlicher Macht selbst schaden könne.
Zweitens: Menschen streben nach Macht – in unterschiedlichem Maß und mit unterschiedlichen Motiven. Anhand der Motive ist die Legitimität der Macht zu bewerten, insbesondere in Bezug auf die Gesellschaftsordnung.
Drittens: Menschen erleiden Macht – teilweise bereitwillig, etwa wenn Sie mit den Zielen übereinstimmen können, oder gezwungenermaßen, in Form von Gewalt. Diesen Aspekt möchte ich nun vertiefen und exemplarisch in zwei Feldern untersuchen.
4. Besondere Machtkonstellationen und ihre Gefahren: Macht, Manipulation und Gewalt
Wenn Machtzusammenhänge wie eben dargestellt umfassend beschrieben wären, dann könnte man der Machtausübung zustimmen oder sich wehren. Nun kennen wir aber Situationen, in denen Menschen Opfer von Machtmissbrauch werden, sich als ohnmächtig erfahren und ihre Situation von einem Mangel an Kontrolle geprägt ist. Wenn Macht als unzulässig oder illegitim markiert wird, ist sie damit noch nicht verschwunden. Was kann man also tun, um illegitimer Machtausübung, Machtmissbrauch oder Gewalt entgegenzuwirken? Hierzu möchte ich exemplarisch einige Schlaglichter werfen.
Komplexe Machtbeziehungen können auch Elemente der Manipulation enthalten, indem entweder Erwartungen offen oder verdeckt kommuniziert werden oder Umstände einen (vermeintlichen) Handlungsdruck nahelegen. Die Brandbreite umfasst dabei mehr oder weniger absichtsvolles Verhalten.
Idealtypisch gehen wir von symmetrischen Machtbeziehungen aus, tatsächlich gibt es aber häufig sowohl punktuell als auch dauerhaft Asymmetrien. Machtgefälle ergeben sich beispielsweise durch Rollen, aber auch durch ungleich verteilte Ressourcen. Eltern-Kind-Beziehungen sind wiederum ein Beispiel für Fürsorgebeziehungen, die mit einem natürlichen Macht- (und Verantwortungs‑ [!])Ungleichgewicht einhergehen. Daraus folgt grundsätzlich zunächst die Notwendigkeit, sensibel für Machtbeziehungen zu sein und sie in ihrer Komplexität, beispielsweise in Form von Rollenkonflikten, wahrzunehmen. Abhängigkeiten können vielfältig sein – es ist möglich, in verschiedenen Situationen je mächtig oder ohnmächtig sein. Professioneller Rat ist hierbei eine hilfreiche Option.
Gerade weil Ohnmacht für Menschen schwer auszuhalten ist, kann es ein Bewältigungsmotiv sein, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem man einen Teil der Schuld ungerechtfertigterweise zu sich nimmt. Diese Strategie spiegelt sich auch auf fatale Weise im sog. victim blaming (Täter-Opfer-Umkehr) wider. Die Herausforderung, die eigenen Grenzen wahrnehmen und markieren zu können, stellt sich zudem jeweils konkret-individuell und ist biografieabhängig. Eine bessere Verarbeitung von Erfahrungen von Machtmissbrauch und langfristig bessere Perspektiven entstehen bei klarer Markierung der Grenzen und Benennung von Grenzüberschreitungen. Häufig passiert jedoch tatsächlich das Gegenteil: Um die Beziehung zu schützen, wird die Schuld internalisiert und die Beziehung stabilisiert, auch wenn sie letztlich schädlich ist. Für Betroffene erscheint die Situation dahingehend ausweglos.
Wenn es zu Machtmissbrauch kommt, ist neben der professionellen Begleitung und Verarbeitung auch maßgeblich, wie die gesellschaftlichen Reaktionen ausfallen. Gewaltbetroffene, deren Erfahrung validiert wird, können diese deutlich besser verarbeiten. Konkret bedeutet das: Missbräuchliche Macht muss benannt werden, Betroffenen gilt es empathisch und mit Vertrauensvorschuss zu begegnen. Zugleich sind die Erwartungen von Dritten, wie Betroffene zu sein haben, kritisch zu reflektieren.
Denn: Machterfahrungen passieren nicht im luftleeren Raum! Aus der sog. Kauai-Studie mit Kindern, die unter extrem herausfordernden Umständen (Vernachlässigung, Suchtprobleme der Eltern, Armut) groß geworden sind, lässt sich der Schluss ziehen, dass Validation, empathische Begleitung und schon einzelne stabile Bindungen als protektive Faktoren fungieren können (vgl. hierzu Bucher 2011). Gesellschaftliche Reaktionen auf Machtmissbrauchserfahrungen machen einen Unterschied. Diese Form der Validation ist besonders relevant, wenn sie durch Personen erfolgt, die Betroffenen wichtig sind oder aber hohes Sozialprestige haben wie beispielsweise Polizisten, aber auch Geistliche oder Seelsorger*innen. Dass das Fehlen entsprechender Reaktionen unrechtstabilisierend wirken kann, hat der jüngst verstorbene Historiker Thomas Großbölting in der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt treffend mit dem Phänomen der Bystander beschrieben: jene Zeitgenoss*innen, die etwas mitbekommen haben oder haben konnten und nicht gehandelt haben; die wegschauten und damit Unrecht implizit oder explizit legitimierten (vgl. Großbölting 2022).
5. Und jetzt? Ein vorläufiges Fazit
Soziale Ordnungen werden heute in der Regel als menschlich verfasst und veränderbar verstanden. Sie sind nicht göttlich oder von Natur aus gegeben und deshalb kritisierbar, gestaltbar und entwerfbar. Das bedeutet, dass sich mit dem erweiterten menschlichen Gestaltungsspielraum normative Ordnungen betreffend auch der Wirkraum von Macht erweitert. Er ist damit abgegrenzt von schicksalhaften Gegebenheiten und „höheren Mächten“. Macht bildet dabei aber einen Gegenpol zu Freiheit bzw. Autonomie: Das Auftreten von Macht begrenzt Möglichkeits- oder Freiheitsräume. Zudem ist Macht vergesellschaftet und entfaltet sich als Machtpotential in verschiedenen Milieus und Kontexten.
Im Jahr 2020 veröffentlichte die Schriftstellerin Petra Morsbach ein Sachbuch mit dem Titel „Der Elefant im Zimmer. Über Machtmissbrauch und Widerstand“, in dem sie in drei Essays Fälle von Machtmissbrauch thematisiert. Mit dem Elefanten im Zimmer, einer Übertragung der englischen Formulierung des elephant in the room, bezeichnet sie das Phänomen der Machtverleugnung, das, so ihre These, allgegenwärtig ist. Macht, so Morsbach, sei präsent, habe aber eine Tendenz, verleugnet zu werden: „Sie füllt den Verhandlungsraum nahezu komplett aus. Doch alle müssen so tun, als spiele sie keine Rolle, und diese akrobatische Heuchelei bindet einen Großteil ihrer Konzentration und Kraft“(Morsbach 2020, 72).
Ein Essay handelt vom „Fall Groër“, dem österreichischen Kardinal und Erzbischof von Wien (1986–1995), Hans Hermann Groër (1919–2003), der des schweren sexuellen Missbrauchs überführt worden war. Im Gespräch mit der Herder Korrespondenz sagt Morsbach darüber: „Institutionell verdeckte Gewalt wird dadurch ermöglicht, dass keiner über sie spricht. Wenn nun eines Tages doch einer redet, bricht ein Tumult los“ (Morsbach 2021, 18). In diesem Sinn ist die Auseinandersetzung mit Machtansprüchen, Machtmanifestationen und Machtmissbräuchen zwingend geboten. Der menschlichen Seite der Macht ins Auge zu sehen bedeutet, über Macht nachzudenken, über Macht zu reden und einen offenen, selbstreflexiven Umgang zu pflegen und damit auch gerade jene zu unterstützen, die der Unterstützung bedürfen. Denn: Machttabuisierung und Verteufelung dient jenen, die sie manipulativ verwenden.