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Resonanz statt Rollenklarheit

Wie eine neue Generation pastorale Beruflichkeit (er-)findet – und was das für die Kirche bedeutet

Kirchliche Transformationsprozesse implizieren auch die Transformation kirchlicher Berufsrollen – nicht im Sinne fest umrissener neuer Berufsbilder, sondern im Sinne von fluiden, pluralen und komplexen Entwicklungen. Clarissa Vilain blickt aus der Perspektive der GR-Studie insbesondere auf Veränderungen im Beruf der Gemeindereferent*in und Konsequenzen für die Kirche als Arbeitgeberin.

Wer heute einen Beruf in der Kirche ergreift, tut dies in einem Raum tiefgreifenden Wandels: institutionell, kulturell, theologisch. Neue Generationen von Seelsorger*innen bringen andere Biografien, andere Erfahrungen von Kirche, andere Fragen und andere Erwartungen mit. Doch nicht nur die Berufseinsteiger*innen verändern sich. Auch die Kirche als Arbeitgeberin steht unter Druck, ihre Rollenbilder, Leitungsmodelle und Ausbildungswege neu zu denken. Die gewohnten Pfade hauptamtlicher pastoraler Arbeit verlieren an Kontur; neue Rollen, Aufgaben und Haltungen entstehen nicht planvoll, sondern im Prozess. Das betrifft alle hauptamtlichen Berufsrollen, die sich inmitten kirchlicher Transformation neu verorten müssen. Was heißt das für Beruf, Berufung und Professionalität im kirchlichen Kontext?

Als Mitglied des Forscherkonsortiums der GR-Studie und vor dem Hintergrund meiner Erfahrung als Pastoraltheologin an der Katholischen Hochschule Mainz fokussiere ich im Folgenden besonders den Beruf der Gemeindereferent*in und ziehe von dort aus auch Schlüsse auf das weitere seelsorgliche Personal.

Wer kommt – und warum?

Die bundesweite GR-Studie unter dem Titel „Gemeindereferent:in. Kompetenzen und Potenziale eines unterschätzten Berufs“ (Feeser-Lichterfeld u. a. 2024) zeigt: Die Motivation für ein kirchliches Studium speist sich häufig aus persönlichen Glaubensfragen – und aus dem Wunsch, gesellschaftlich wirksam zu sein. Kirche erscheint weniger als Institution, sondern als Raum für Beziehungen. Das verschiebt den Fokus: weg von der formalen Funktion, hin zu Sinn, Relevanz und Resonanz. Viele Studierende denken weniger in Pfarreigrenzen, sondern in Netzwerken: sozial, diakonisch, spirituell.

Die neuen pastoralen Mitarbeitenden bringen pluralisierte Biografien, vielfältige Erwartungen und ein hohes Maß an Reflexionsbereitschaft mit. Viele beginnen ihr Studium nicht aus tradierten Selbstverständlichkeiten heraus, sondern als biografische Suchbewegung: zwischen Glaube und Zweifel, zwischen der Sehnsucht nach Sinn und der Unsicherheit über das Berufsfeld Kirche.

Dabei ist die Entscheidung für ein kirchliches Studium oft tastend, offen, prozesshaft. Gerade dadurch werden Hochschulen zu wichtigen Orten – nicht nur der Wissensvermittlung, sondern der Identitätsbildung. Hier begegnen sich Welt- und Glaubensfragen, Biografie und Beruf(ung). Studiengänge werden zu Resonanzräumen, in denen theologische Reflexion und berufliche Orientierung einander durchdringen. Diese Offenheit ist kein Mangel, sondern Ausdruck einer neuen Ernsthaftigkeit im Umgang mit Kirche und Beruf. Ausbildung bedeutet hier nicht nur Qualifizierung, sondern das Eröffnen von Erfahrungsräumen, in denen Identität, Glaube und Profession miteinander ins Gespräch kommen.

Was verändert sich im Beruf selbst?

Die pastorale Praxis ist heute fragmentiert, hybrid, fluide. Pastorale Mitarbeitende arbeiten in Schulen, Krankenhäusern, sozialen Einrichtungen, Citypastoral, kategorialen Kontexten. Die klassische Gemeinde als fester Einsatzort gerät immer weiter unter Druck. Übergreifende Handlungsfelder, Kooperationen und kontextbezogene Formate rücken in den Vordergrund – und fordern neue Kompetenzen: Kontextsensibilität, kommunikative Stärke, verbunden mit theologischer Deutungsfähigkeit.

Die GR-Studie spricht in diesem Zusammenhang von „liquid jobs“ in einer „liquid church“: Berufsbilder, die sich nicht über feste Stellenbeschreibungen definieren, sondern über Haltungen, Prozesse und Beziehungsarbeit. Rollen werden weniger zugewiesen als ausgehandelt. Sie entstehen oft erst in der konkreten Praxis – im Kontakt mit Menschen, im Deuten von Situationen. Beruflichkeit bildet sich zunehmend prozesshaft und kontextuell – nicht als Produkt institutioneller Festlegung, sondern als Ausdruck gelebter Verantwortung.

Das verändert das Selbstverständnis der Berufsträger*innen: Wer heute pastoral arbeitet, braucht mehr als Fachwissen. Gefragt ist die Fähigkeit, mit Unsicherheit, Ambiguität und Komplexität professionell umzugehen. Die GR-Studie identifiziert fünf zentrale Kompetenzfelder, die für zukünftige pastorale Berufe besonders bedeutsam sind: spirituelle Kompetenz, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und Sachkompetenz.  Spirituelle Kompetenz umfasst die Fähigkeit, den eigenen Glauben reflektiert zu leben und spirituelle Prozesse zu begleiten. Selbstkompetenz bezeichnet die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung. Sozialkompetenz meint die Fähigkeit zur Beziehungsgestaltung, Kommunikation und Kooperation. Methodenkompetenz beschreibt die Fähigkeit, zielgerichtet und kreativ zu planen, umzusetzen und zu evaluieren. Sachkompetenz umfasst das theologische und pastorale Fachwissen, das zur qualifizierten Bearbeitung von Aufgaben notwendig ist. Diese fünf Felder bilden die zentralen Kompetenzbereiche zukünftiger pastoraler Berufsrollen. Viele Berufseinsteiger*innen bringen genau das mit – und wünschen sich ein Arbeitsumfeld, das ihnen Gestaltungsspielräume bietet und ihre Beiträge wertschätzt.

Was heißt das für kirchliche Arbeitgeber*innen?

Wer hauptamtliche pastorale Arbeit sichern und zukunftsfähig gestalten will, muss sich von einem Führungsverständnis lösen, das auf Kontrolle, Hierarchie und normierte Karrierewege setzt. Die GR-Studie zeigt deutlich: Berufsbindung entsteht dort, wo Mitarbeitende als Subjekte gesehen werden – nicht als bloße Funktionsträger*innen. Wo Vertrauen, Teilhabe und Eigenverantwortung gelebt werden, wächst die Zufriedenheit und auch die Bindung an den Arbeitgeber.

Das bedeutet: Kirchliche Arbeitgeber*innen müssen ihre Rolle neu denken. Gefragt sind nicht Verwalter*innen, sondern Ermöglicher*innen. Leitung muss sich vom Gatekeeping zum Cultivating wandeln – von der Sicherung bestehender Ordnung zur Förderung neuer Prozesse. Wer Verantwortung trägt, sollte nicht primär steuern, sondern Räume öffnen: für Entwicklung, für Vielfalt, für Beteiligung. Leitung bedeutet in diesem Verständnis nicht Festlegung, sondern Begleitung.

Dazu gehört auch: biografische Übergänge ernst zu nehmen, verschiedene Lebensentwürfe zu integrieren, flexible Arbeitsmodelle zu ermöglichen. Kirche muss sich als lernende Organisation verstehen, die nicht nur Systeme erhält, sondern an ihren Rändern weiterlernt. Insbesondere die Berufseinführung und die Personalentwicklung muss sich an individuellen Lernwegen im Gegensatz zu starren Laufbahnen orientieren. Das wird neue Aus- und Weiterbildungskonzepte erfordern und eröffnet die Frage, wie Lernen und Entwicklung im Kontext von Aus- und Weiterbildung eigentlich verstanden wird.

Zentral ist zudem die Teamkultur. Dort, wo kollegial gearbeitet, gemeinsam entschieden und Verantwortung geteilt wird, entsteht Resonanz. Mitarbeitende erleben sich als wirksam, gebraucht, verbunden. Demgegenüber wirken starre Zuständigkeiten, hierarchische Abhängigkeiten, lange Entscheidungswege und eine Verwaltungskultur ohne kommunikative Nähe oder kooperative Resonanz demotivierend – insbesondere für eine Generation, die mit Innovationsfreude und partizipativen Erwartungen antritt.

Berufung, Profession, Kirche – eine theologische Vergewisserung

Im Wandel pastoraler Berufsrollen stellt sich auch die Frage nach ihrem theologischen Fundament neu. Beruflichkeit ist in kirchlicher Perspektive nie nur funktional zu verstehen. Sie ist stets auch Ausdruck gelebter Berufung – einer je persönlichen Antwort auf das Handeln Gottes in dieser Welt. In Zeiten, in denen traditionelle Strukturen an Bindungskraft verlieren, rückt diese existenzielle Dimension in den Vordergrund: Was heißt es, als Gesicht von Kirche zu handeln? Wie verändert sich das Bild vom Mitwirken am Reich Gottes in einer fragmentierten Welt?

Pastorale Berufung lässt sich unter diesen Bedingungen nicht mehr aus einem einmal fixierten Amtsverständnis ableiten. Vielmehr geht es um ein dialogisches Verständnis von Berufung: nicht nur als „Gerufensein“, sondern als ein Sich-Verstehen in Beziehung – zu Gott, zur Welt, zur eigenen Biografie. Dieses Verständnis fordert dazu heraus, Beruflichkeit als ein dynamisches Geschehen zu begreifen: als geistlich-theologische Selbstverortung im Wandel. Beruf(ung) wird zur existenziellen Praxis – im Ringen um Relevanz, Resonanz und Verantwortung.

Auch ekklesiologisch ist diese Verschiebung bedeutsam. Kirche erscheint nicht (mehr) primär als festgefügte Institution, sondern als Kommunikationsgeschehen im Raum des Evangeliums – relational, prozesshaft, auf Partizipation angelegt. Eine solche Kirche braucht keine perfekt standardisierten Rollen, sondern vielfältige, kontextuelle Beiträge. Der Dienst am Evangelium wird so zum offenen Prozess: zu einem Miteinander, das sich aus theologischer Tiefe und biografischer Suchbewegung speist. In diesem Sinn sind pastorale Berufsrollen heute mehr denn je Orte der Theologie selbst – Laboratorien für eine Kirche, die sich im Hören und Handeln neu entwirft.

Berufe im Werden: eine neue pastorale Landschaft

Die Kirche von morgen wird nicht mehr über einheitliche Berufsbilder funktionieren, sondern über eine Pluralität von Akteur*innen, die gemeinsam Pastoral gestalten. Neben Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen, Priester und Diakone treten Sozialarbeiter*innen, Quereinsteiger*innen – Menschen mit unterschiedlichen beruflichen und spirituellen Hintergründen, auch ohne eine theologische Ausbildung.

Diese Vielfalt ist keine Beliebigkeit. Sie braucht klare Kriterien: spirituelle Verwurzelung, theologische Reflexion, professionelle Haltung. Aber sie ist offen für neue Formen, Kooperationen und Lernorte. Genau in dieser Offenheit liegt die Chance: Wenn kirchliche Arbeitgeber*innen bereit sind, nicht nur Stellen zu besetzen, sondern Beruflichkeit zu fördern, kann aus dem strukturellen Wandel ein geistlicher Aufbruch werden. Die aktuelle Dynamik ist nicht nur Verlust, sondern ein Labor: für neue Berufsbilder, in denen Berufung, Biografie und Spiritualität neu zusammenkommen.

Fazit: Kirche als Ermöglichungsraum

Die Entwicklungslinien pastoraler Arbeit deuten nicht auf die Auflösung, sondern auf die Transformation von Beruflichkeit hin. Die GR-Studie macht deutlich: Hauptamtliche pastorale Mitarbeitende bringen ein hohes Maß an Motivation, Ernsthaftigkeit und Innovationsbereitschaft mit. Was sie benötigen, ist ein System, das nicht einengt, sondern begleitet.

Kirchliche Arbeitgeber*innen stehen vor der Aufgabe, diese neue Beruflichkeit nicht nur zuzulassen, sondern aktiv zu gestalten. Dafür braucht es neue Formen von Leitung, Ausbildung und Personalentwicklung – und ein anderes Verständnis von Verantwortung und Zusammenarbeit. Die Kirche von morgen wird sich daran messen lassen müssen, ob sie nicht nur neue Formate hervorbringt, sondern auch neue Formen des Miteinanders erkennt, ermöglicht, begleitet und mitgestaltet.

Das Ziel können nicht neue festgefügte Berufsbilder sein, die sich in Abgrenzung profilieren. Gefragt ist die Fähigkeit, Beruflichkeit im Modus des Werdens zu denken. Wer Verantwortung für pastorale Mitarbeitende trägt, sollte nicht nur Strukturen verwalten, sondern Horizonte eröffnen. Wenn das gelingt, könnten kirchliche Berufe zu Resonanzräumen einer beweglichen, glaubwürdigen und menschenzugewandten Pastoral werden. Nicht trotz der Veränderung – sondern gerade durch sie.