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Exnovation und Innovation

Synergie von Ende und Anfang in Veränderungen

An guten Ideen mangelt es meistens nicht, auch nicht in der kirchlichen Organisationsentwicklung. Doch nicht jede neue Idee setzt sich durch, nicht jede Invention wird auch zur Innovation, die in der Praxis umgesetzt wird und sich dort bewährt. Ein wichtiger und bislang im pastoralen Kontext wenig beachteter Grund dafür ist, dass das System voll ist von alten, früheren guten Ideen, die ihre beste Zeit bereits hinter sich haben, an Relevanz verloren haben, vielleicht inzwischen dysfunktional geworden sind, aber dennoch weitergeführt werden. Wichtig ist daher das Aufhören, das Beenden von Dingen, die ihren Zweck nicht mehr erfüllen oder für die einfach keine Ressourcen mehr da sind. Der Fachbegriff dafür lautet Exnovation, als Gegen- und Komplementärbegriff zur Innovation, als letzter Teil im Innovationszyklus, auch als Voraussetzung dafür, dass wieder neue Innovationen stattfinden können.

Es ist das Verdienst der Theologin und Organisationsentwicklerin Sandra Bils und der Wirtschaftspsychologin Gudrun L. Töpfer, in ihrem Buch auf diesen blinden Fleck aufmerksam zu machen. Während Neues im kirchlichen Bereich oft positiv konnotiert ist (Pro-Innovation Bias) und viele das unternehmerische Innovator’s Dilemma kennen (wer nicht mit Innovationen nach vorne geht, wird abgehängt), ist das Bewusstsein von der Notwendigkeit ihres Gegenstücks noch nicht weit verbreitet. Das mag u. a. auch daran liegen, dass es noch relativ wenig Literatur zu diesem Thema gibt, v. a. kein Grundlagenwerk, das die verschiedenen Perspektiven auf dieses Thema systematisch bündelt und zusammenfasst. Daher hat das Buch von Bils und Töpfer das Potenzial zu einem Standardwerk, aufgrund dessen man die Bedeutung des Themas Exnovation nicht mehr übersehen kann.

Der Band ist in drei Teile gegliedert, die man auch je für sich lesen kann; man kann ihn auch als Nachschlagewerk nutzen und sich von einzelnen Kapiteln oder Abschnitten inspirieren lassen (ein Stichwortverzeichnis hilft dabei). Der erste Teil gibt einen Überblick über die Grundlagen und Relevanz von Innovation. Er beginnt mit der markanten These „Die Zeit der Innovation ist vorbei“, zeigt die Notwendigkeit von Exnovation auf, weist auf bereits bekannte exnovative Muster hin, erklärt den Prozess der Exnovation (besonders durch die Unterscheidung dreier Exnovationsfacetten: Auslöse-, Selektions- und Vollzugsfacette) und erläutert auch Schwierigkeiten und Widerstände gegen Exnovationsbemühungen.

Der zweite Teil befasst sich mit konkreten Fallstudien von Exnovation sowohl im kirchlichen als auch im Wirtschaftsbereich. Die kirchlichen Praxisbeispiele aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verdeutlichen die Virulenz der Exnovationsthematik gerade für den kirchlichen Kontext, zeigen aber auch, dass „eine wirklich umfassende und konsequente Umsetzung von Exnovation an vielen Punkten im kirchlichen Sektor noch in den Kinderschuhen steckt oder gänzlich aussteht“ (136). Interviews mit Expertinnen und Experten zu deren Erfahrungen mit Exnovation in der Praxis runden diesen Teil ab.

Der dritte und letzte, vom Umfang her kürzeste Teil enthält einen Methodenkoffer für die Begleitung von Exnovationsprozessen. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um spezifische Tools und Methoden, sondern um aus der Organisationsentwicklung Bekanntes, das hier unter einem explizit exnovierenden Fokus angeschaut wird. Es wird dabei jeweils angegeben, für welche Exnovationsfacette die Methode passt oder aber weniger geeignet ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nach der Best-Before-Logik wird dafür geworben, Exnovation zu institutionalisieren, also bereits in der Planungsphase eines Produkts ein Ablaufdatum festzulegen, an dem seine Exnovation stattfindet oder es zumindest auf den Prüfstand gestellt wird. Es gilt also, das Ende immer mitzudenken („Endeneering“). Hilfreich dafür kann ein modulares Planen nach dem Baukastenprinzip sein, das es erlaubt, flexibel mit den einzelnen Modulen zu verfahren: fortführen, weiterentwickeln oder beenden (Jonas Göbel spricht hier von „Netflixisierung“ der kirchlichen Arbeit, also davon, in Staffeln z. B. von Gottesdiensten oder Glaubenskursen zu denken).

Gerade angesichts der Verlust- und Erosionsprozesse im kirchlichen Bereich kann die Exnovation eine Ressource für Resilienz darstellen: Aufhören, Ausmisten oder Verlernen sind Kulturtechniken, die zentral sind für Veränderungs- und Transformationsprozesse, gerade in Krisenzeiten. Hinzugefügt seien noch zwei Dinge: Wichtig ist zum einen die Aufmerksamkeit für diejenigen, die die mit der Exnovation zusammenhängenden Verluste erleiden, und ihnen mit der nötigen Sensibilität entsprechende Trauer- und Abschiedsprozesse zu ermöglichen. Und zum anderen die Erarbeitung von Kriterien dafür, ob etwas noch effektvoll und segensreich im Sinne des Evangeliums wirken kann. Der Exnovation im kirchlichen Feld geht es also letztlich darum, den Kern der biblischen Botschaft freizulegen und so das Eigentliche des kirchlichen Auftrags hervorzuheben.

Tobias Kläden