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„Wo Sinn war, ist Suche“

Spielarten des Spirituellen in der Gegenwartsliteratur

Christoph Gellners „Wo Sinn war, ist Suche. Spielarten des Spirituellen in der Gegenwartsliteratur“ widmet sich mit beeindruckender Sorgfalt der Frage, wie sich religiöse und spirituelle Suchbewegungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur manifestieren. Das von John von Düffel entlehnte Leitmotiv „Wo Sinn war, ist Suche“ wird von Gellner als Linse genutzt, durch die er die Transformation religiöser Erfahrung in der Gegenwartsliteratur betrachtet. Seine zentrale These lautet: In einer Zeit, in der traditionelle Sinnangebote an Bedeutung verlieren, wird Literatur zum Raum, in dem religiöse Sinnsuche neu verhandelt, erprobt und sprachlich gestaltet wird. Gellner zeigt, dass gerade Literatur dort Worte findet, wo uns die Sprache für das Unsagbare, das Transzendente oder das zutiefst Existentielle abhandengekommen ist.

Das Zitat „Wo Sinn war, ist Suche“ bringt die Verschiebung von einer festen religiösen Sinnordnung hin zu einer offenen, individuellen Suchbewegung auf den Punkt. Von Düffel selbst beschreibt in „Das Wenige und das Wesentliche“ diese Suche als einen Prozess der Reduktion und der Konzentration auf das Wesentliche. Gellner macht deutlich, dass es heute weniger um das Finden von endgültigen Antworten geht, sondern vielmehr um das Aushalten der Suche selbst – um das Fragen und Zweifeln. Die Literatur wird so zum Spiegel und Resonanzraum dieser existenziellen Bewegung.

Trotz der Vielfalt der literarischen Stimmen, die Gellner versammelt, wird eine innere Kohärenz sichtbar. Die unterschiedlichen Texte und Positionen treten bei Gellner in einen produktiven Dialog, der die Vielschichtigkeit und Breite der spirituellen Suchbewegung, darunter auch atheistische, agnostische und ökospirituelle Perspektiven, in der Gegenwartsliteratur sichtbar macht. Gellner arbeitet feine Verbindungen und thematische Resonanzen zwischen den einzelnen Werken heraus. Er zeigt, dass Spiritualität in der Literatur heute oft jenseits traditioneller Religiosität verhandelt wird – als Suche nach Resonanz, nach Verbundenheit, nach existenzieller Tiefe.

Trotz aller Stärken bleibt ein kleiner Vorbehalt, der den Gesamteindruck aber nur unwesentlich schmälert. Gellners Blick auf die Literatur lässt mitunter die Grenzen zwischen spiritueller Erfahrung und allgemeiner existenzieller Fragestellung verschwimmen: Nicht jede literarische Sinnsuche ist zwangsläufig spirituell. Zudem bleibt die Frage, ob die von Gellner beschriebene „Spiritualität der Suche“ wirklich ein neues Phänomen ist oder ob nicht schon frühere literarische Epochen – etwa die Romantik oder die Moderne – vergleichbare Suchbewegungen kannten. Mit großer literarischer Sorgfalt lässt der Autor zahlreiche Zitate anderer Schriftsteller in die Auseinandersetzung einfließen, was dem Text eine beeindruckende intertextuelle Dichte verleiht – gelegentlich hätte jedoch ein etwas zurückhaltenderer Umgang mit diesen Verweisen der Eigenständigkeit der Erzählstimme noch mehr Raum geben können.

„Wo Sinn war, ist Suche“ ist ein anregendes Werk, das die spirituelle Dimension der Gegenwartsliteratur mit analytischer Klarheit erschließt. Gellner eröffnet neue Perspektiven auf das Verhältnis von Literatur und Spiritualität und lädt dazu ein, die eigene Haltung zur Sinnsuche zu reflektieren. Sein Gespür für literarische Feinheiten macht das Buch zu einer inspirierenden Lektüre für alle, die sich für die spirituellen Strömungen unserer Zeit interessieren. Gellners Werk überzeugt nicht nur inhaltlich, sondern ist auch sprachlich ein Genuss. Es gelingt dem Autor, die Leserinnen und Leser durch die Vielfalt der besprochenen Werke hindurch zu begleiten. Die Sprache ist präzise, atmosphärisch dicht und voller Ausdruckskraft – jedes Wort scheint sorgfältig gewählt. Gellners Werk ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Literaturwissenschaft, sondern auch ein Plädoyer für die Kraft der Literatur, dort Worte zu finden, wo uns die Sprache fehlt.

Jasmin Hack