Inhalt

Trauerfeiern nach Großkatastrophen

Ein interdisziplinäres Fachgespräch in Erfurt (14.–16.5.2015)

Die Veranstalter vom Theologischen Forschungskolleg der Universität Erfurt hatten nicht ahnen können, welche aktuelle Bedeutung ihre schon seit langem geplante Tagung nach dem Absturz des German­wings-Fluges am 24.3.2015 in den französischen Alpen haben sollte. Angesichts sich verändernder Religiosität in der Gegenwart, die nach Aussagen des Veranstalters, des Erfurter Liturgiewissenschaftlers Benedikt Kranemann, religiös und weltanschaulich pluraler wird und sich dieser Pluralität auch bewusst ist, ist es schon sehr bemerkenswert, wie viele Menschen an einer Trauerfeier (in unterschiedlicher Weise) Anteil nehmen und in welcher Weise die Kirchen in Deutschland für solche Feiern angefragt werden. So drehten sich denn die Impulse und Gespräche des dreitägigen Symposiums in Erfurt um den Umgang mit öffentlicher und privater Trauer, den Umgang mit dem Täter sowie der Ge­stal­t(ung) und Theologie solcher Feiern im Spannungsfeld der Erwar­tun­gen der Kirchen, staatlicher Einrichtungen und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Eine besondere Aufmerksamkeit kam der Vermittlung in den Medien und deren Rolle und Verantwortung zu. So wurde deutlich, dass der WDR bei der Übertragung der Trauerfeier am 14.4.2015 aus dem Kölner Dom einerseits selbst reflektierte, was und wie viel von persönlicher Trauer in Bilder gebracht werden könne, ohne die Würde und Gefühle der Angehörigen zu verletzen, andererseits wurden man­che Symbolhandlungen, wie zum Beispiel die Scherben einer zerbroche­nen Schale, durch die Kameraeinstellung dem Zuschauer am Bild­schirm, nicht jedoch allen Teilnehmenden vor Ort sichtbar.

Im Rückblick auf die zentrale Trauerfeier nach dem Amoklauf am Erfur­ter Gutenberggymnasium machte Brigitte Benz, die darüber wissen­schaftlich arbeitet, die Gratwanderung deutlich, die darin besteht, ei­ner­seits für die Gestaltung der Trauer christlich-religiöse Formen anzu­bieten, ohne aber die im Osten Deutschlands mehrheitlich konfessi­ons­losen Mitbürger in etwas hineinzunehmen, was nicht „ihres“ ist. Ist eine Fei­er, in der gemeinschaftlich getrauert wird und eine Gemein­schaft (die Schulgemeinschaft des Gutenberggymnasiums, Stadt Erfurt, der Frei­staat Thüringen, die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Vertretern) sich ihrer Solidarität und Kondolenz versichert, in der aber dann eine christliche Auferstehungshoffnung, wenn überhaupt, dann nur zaghaft und in Zeichen vermittelt thematisiert werden kann, ist eine solche Feier dann ein Gottesdienst oder eine (säkulare) Gedenk­feier? Die Teil­nehmer kamen in ihren Gesprächen recht schnell an den Punkt, dass sich hier ein neuer Religionsbegriff Bahn bricht bzw. die Frage nach den Schnittstellen und dem Verhältnis von Religionsgemein­schaften einer­seits und Gesellschaft und Politik andererseits aufkommt. Dies stellt sich in Deutschland mit seiner spezifischen Kooperation von Staat und Kirchen natürlich anders dar als beispielsweise in den Ver­einigten Staa­ten von Amerika, wo der Präsident der oberste Liturge des Staates ist, die Kirchen mit anderen Religionsgemeinschaften als gleich­berechtigte Partner teilnehmen. In Österreich wiederum sei beim Unglück der Seil­bahn in Caprun ganz unprätentiös vom Salzburger Erzbischof ein katho­lisches Requiem für die Opfer gefeiert worden, dabei waren auch (offenkundig nicht-christliche) Teilnehmer aus Korea und Japan. Die Situation in Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass einem öku­menischen Gottesdienst ein (säkularer) Staatsakt folgt (oder umge­kehrt), wobei der eine wie der andere seine je eigene kirchliche oder säkulare Symbolwelt entfaltet.

Welche Sprache und Symbolik spielt eine Rolle? Es haben sich im Laufe der Zeiten bestimmte Rituale entwickelt, die oft noch sehr der kirch­li­chen Formensprache anverwandt sind, so das Anzünden von Kerzen, das Verlesen der Namen, das Niederlegen von Blumen, Steinen und Fo­tos der Opfer, aber auch von Kuscheltieren und Transparenten mit der Aufschrift „Warum?“. Überhaupt stellt die Frage nach dem Warum, hin­ter der sich theologisch die Theodizee verbirgt, ein zentrales Element des Trauerprozesses dar, in dem diese Feiern zeitlich verortet sind. Die Predigt des Kölner Kardinals Rainer Woelki im Kölner Dom wurde als ein gutes Beispiel für eine fragende, nach Antwort suchende und rin­gen­de, gleichzeitig aus dem christlichen Hoffnungspotenzial unauf­dringlich schöpfende Rede analysiert. Die Sprache muss theodizee-sen­sibel sein. Vorschnelle Antworten, auch wenn sie gut gemeint sein soll­ten, verbieten sich hier ebenso sehr wie Kirchenvertreter, die sich selbst inszenieren. Bei der Trauerfeier für die Opfer der Massenpanik bei der Love Parade in Duisburg zitierte der Notfallseelsorger Klaus Andrees in seinem Beitrag den EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider mit seinem Hauptgedanken: „Die Love Parade wurde zum Totentanz.“ Es wurde deutlich, wie schwer es ist, Worte für das Unaussprechliche zu finden, ohne banal oder verletzend zu werden. Oft sind es jedoch Musik und Zeichen und Symbole, die die Dichte einer solchen Trauerfeier aus­machen. Bei der Trauerfeier in Winnenden (2009) hatten die Schüler der betroffenen Realschule eine beeindruckende Performance gestaltet, bei der die Kerzen mit den Namen der Opfer nach vorne getragen wurden. In Köln erhielten ausgewählte Personen einen kleinen Holzengel, bei dem es darum ging, zu halten und gehalten zu werden. Hier gingen die Meinungen der Teilnehmer weit auseinander: Ein Notfallseelsorger stieß sich am Symbol, da das Flugzeug ja gerade nicht mehr flog, son­dern abgestürzt war, andere berichteten jedoch, dass nach der Feier und ihrer Übertragung der Run auf Holzengel sprunghaft angestiegen war. Für manch anderen war die Grenze zum Kitsch mit dem Holzengel überschritten.

Lange wurde darüber diskutiert, ob und wenn ja, wie in den Trauerfei­ern jeweils der Täter thematisiert wurde. Die anwesenden Notfallseel­sorger attestierten, dass eine Thematisierung oder Nennung des Atten­täters für die Hinterbliebenen in der ersten Phase ihrer Trauer fast un­möglich sei. So war es für die Akteure nicht ganz einfach, auch diesen zu thematisieren, dessen Familie eben auch ihren Angehörigen verloren hatte. In Winnenden sagte Landesbischof Frank Otfried July: „Wir schwei­gen auch den Täter nicht tot.“ In Erfurt stand für den Amokläu­fer, der sich selbst das Leben genommen hatte, eine Kerze abseits. Ein Beteiligter berichtete, er konnte nur deshalb damit versöhnt sein, als der Wind die bereits brennende Kerze für den Täter ausblies. Im Kölner Dom war es vor allem die musikalische Gestaltung mit Gabriel Faurés Requiem, was die Teilnehmer der Tagung als eine sehr vorteilhafte und angemessene musikalische Gestaltung erachteten.

Solche Feiern sind zunehmend als Rituale zu sehen, in denen sich eine säkulare Gesellschaft über sich selbst verständigt. Wichtig für die Kir­chen ist es, eine solche Öffnung auf die Gesellschaft hin im Blick zu ha­ben und zu realisieren und eben nicht nur innerkirchliche Prozesse im Blick zu haben. Albert Gerhards, Liturgiewissenschaftler aus Bonn, fragte denn auch in diesem Zusammenhang: „Wie muss sich Kirche gegenüber der Gesellschaft verhalten, dass sie in ihr präsent bleibt?“ Eine solche Feier gilt als ein temporärer Ort religiös-gesellschaftlicher Vergewisserung, bei dem auch die Kirchen als religiöse Institutionen angefragt sind; ein temporärer Ort, der entsteht und wieder vergeht. Stephan Winter stellte „Situativität“ in den Mittelpunkt biblisch be­grün­deten Gottesdienstes, was  insbesondere in einer „Grenzsituation“ wichtig sei. Als Liturgiewissenschaftler merkte er an, dass solche Rituale nach Großkatastrophen sich so verstehen ließen, „dass sie das Vorrecht des Körpers, auf Grenzsituationen mit Weinen zu reagieren, in institu­tionellen Formen aufnehmen“.

Interessante Einblicke ergaben sich neben den liturgiewissen­schaft­­li­chen Aspekten mit dem sozialethisch orientierten Beitrag von Christof Mandry, dem pastoral-praktischen Impuls von Thomas Klie, der ein Buch über „Riskante Liturgien“ herausgegeben hat, und auch im theolo­gisch-systematischen Vortrag von Hans-Joachim Sander. Thomas Knoch gab mit der Vorstellung der Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) die Perspektive der Regierungsorganisationen auf das Phänomen wieder. Stephanie Hammer, die als Politologin über die Trauerfeiern bei Opfern von Bundeswehreinsätzen forscht, deutete insbesondere den Staatsakt als Teil symbolischer Repräsentation der sa­kralen gemeinschaftlichen Überzeugungen im Rahmen ritueller Hand­lungen. Von hier ist der Weg nicht weit zu einem neuen Verständnis von Zivilreligion (Rolf Schieder). Sie ist möglicherwiese nicht nur die „Reli­gi­on“ des staatlich-politischen Apparates (wie in den USA: civil religi­on), sondern kann vielmehr im Sinne einer „public religion“ gedeutet werden. Sie bündelt private Religiosität und gibt ihr eine Gestalt und verhilft der Gesellschaft zu Konsensen und Vereinbarungen über sich selbst und ihre Gemeinschaft. Schieder verwies in diesem Zusammen­hang darauf, dass es unklar sei, worauf das Wort „Gott“ der Theologen sich in der Wirklichkeit beziehe. Der verteilte Engel stelle daher einen zivilreligiösen Minimalkonsens dar, der deutungsoffen sei, „du Gott bei den Menschen“. Schieder ermutigte zu einer „Monumentalen Theolo­gie“, in der Monumente eine Aussage hätten. Der Kölner Dom sei bei­spiels­weise deshalb gleichermaßen geeignet für die Trauerfeier und den Staatsakt, weil er in seiner Fertigstellung durch die Preußische Regie­rung im 19. Jahrhundert als Monument für die nationale Einheit Deutschlands gewissermaßen ein zivilreligiöses Monument darstellt. Die Tagung legte in dieser Richtung einige Gedankenstränge und Fragen religionspolitischer und gesellschaftsreligiöser Art aus, die sicher in ande­ren Kontexten noch weiter bedenkenswert sind.

Paul Post aus den Niederlanden rekurrierte auf die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer und zeigte auf, wie in Literatur-, Foto- und Dokumenta­tionsprojekten im Internet die Gedenkritualisierung für Vermisste neue mediale Formen annimmt. Für ihn ist Lampedusa eine Heterotopie, an­ge­sichts derer die Gesellschaft nicht kalt bleiben darf, sondern zum En­ga­gement aufgefordert ist. So sind die Pilgerfahrt von Papst Franziskus nach Lampedusa und die Schiffsprozession mit Kranzniederlegung For­men von „disaster rituals“, die sich in einer digitalen Kultur zunehmend fluide und ortlos zeigen.

Für eine sich als missionarisch verstehende Kirche ist sicher die Frage der Spannung zwischen Anknüpfung und Bekenntnis entscheidend. Wie viel kann ich als „Dienstleister“ in diese zivile Religiosität hinein wirken, ohne mein Proprium aufzugeben? Hat eine Kirche, die das Evan­gelium mit allen Menschen kommunizieren will/soll, nicht die Aufgabe, in diesen Situationen mit den Menschen nach dem zu suchen und zu fragen, was Zusammenhalt, Trost und Sinn gibt? Ist ein Mitten-unter-den-Menschen-Sein gleichbedeutend mit dem Aufgeben von Mis­sion? Kann hier die Kirche nicht lernen, wie sich das Evangelium heute Bahn bricht und sich in der säkularen Kultur zeigt und er-eignet? Der eine wird diese Anknüpfungspunkte befürworten, ein anderer mag mit Robert Kaltenbrunner über die „friedlich-freundliche Gottes-WG in einer säkularen Stadtgesellschaft, in der die Mitbewohner ihre Unter­schiede weder verheimlichen noch verabsolutieren sollen“ (FAZ vom 9.6.2015, 10), spotten: Es bleiben jedenfalls viele interessante Fragen offen … Eine inspirierende Tagung, deren Akzente weitergedacht werden wollen.