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„Ich spreche nicht mit Atheisten, ich spreche mit Menschen“

Interview mit dem ostdeutschen Pfarrer Jörg Bahrke

Über religiöse Indifferenz kann man viel theoretisieren. Man kann sich ihr aber auch ganz konkret stellen. Martin Hochholzer hat dazu Pfarrer Jörg Bahrke aus der ostdeutschen Diaspora einige Fragen gestellt: Er sieht sich gesandt nicht nur für die Katholiken, sondern für alle Menschen im Gebiet seiner Pfarrei.

Wie sieht Ihre Pfarrei aus? Welche Menschen leben hier? Und wie gestaltet sich kirchliches Leben in dieser Diasporasituation?

Die Pfarrei „St. Johannes“ Burg im Bistum Magdeburg besteht aus drei Ge­meinden mit ca. 1.700 katholischen Christen. Insgesamt leben auf dem Pfarreigebiet ca. 52.000 Einwohner. Die Gemeinden sind im Dreieck je­weils 30 km voneinander entfernt. Burg und auch Gommern und Loburg sind im Einzugsgebiet der Landeshauptstadt Magdeburg. Bei den enga­gier­ten Mitgliedern in der Pfarrei gibt es keinen sozialen Notstand, andere sind vielleicht deshalb nicht präsent. Die Pfarrei mit den gemeinsamen Gremien versucht eine Gemeinschaft zu bilden, doch sind die drei Gottes­dienstorte von eigenen Traditionen und Befindlich­kei­ten geprägt. Sie le­ben in eingeübten Mustern – sowohl, was die Ver­an­staltungen angeht, als auch, was die Erwartungen betrifft –, und dadurch ist der Blick über den Tellerrand hinaus gar nicht eingeübt (auch, was die Pfarreiarbeit angeht). Es gibt kaum innovative Initiativen. Auch werden Fremde, Gäste oder Neue nicht immer willkommen geheißen. Unsere Gemeinden sind davon geprägt, dass sich Menschen hier versammeln, die schon immer da waren oder hier hineingewachsen bzw. hineingeboren sind. Das Denken ist von der Vergangenheit geprägt, was auch zu Verklärungen führt und das Leben lähmen kann. Eine inhaltlich Auseinandersetzung unter den Stichworten „Kirchenbilder“ oder „gemeinsam Kirche sein“ ist nur schwer möglich. Mit Visionen zu arbeiten, um sich zu motivieren, ist nicht eingeübt.

Wann und wie begegnen Sie hier Konfessionslosen? Gibt es typische Begegnungspunkte, Begegnungssituationen? Und welche Kontakte bestehen zwischen den Kirchenmitgliedern und Anders- und Nichtglaubenden? Gibt es gemeinsame Aktivitäten?

Bei 3 % katholischen und 12 % evangelischen Christen in diesem Land­strich Deutschlands stets und ständig! Ich begegne Konfessionslosen bei kirchlichen Veranstaltungen durch Familienmitglieder und Freunde; un­sere Gemeindemitglieder in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und in der Arbeitswelt; eigentlich überall.

Zu den Aktivitäten unserer Pfarrei gehört zum Beispiel die Second-Hand-Kleiderbörse unserer Kita mit dem Förderverein zweimal im Jahr, zu der sich viele Familien auf unser kirchliches Gelände einladen lassen. Die Orts­­gruppe „netzwerk Leben“ führt eine weihnachtliche Paketaktion für bedürftige Familien durch, deren Adressen sie durch Sozialarbeiter be­kommt. Auch ein Heilig-Abend-Projekt mit einer weihnachtlichen Fei­er mit 25 alten Menschen, die durch eine staatliche Pflegeeinrichtung als Partner mit uns diese Stunden gestaltet haben, fand großen Zuspruch. Jedes Mal sind die Zielgruppen nicht die Gemeindemitglieder.

Aber auch im seelsorglichen, pastoralen und spirituellen Bereich des ge­meindlichen Lebens gibt es nicht getaufte Personen, die zum Beispiel die Exerzitien im Alltag mitmachen oder im Familienkreis engagiert sind.

Schauen wir einmal besonders auf die im Osten weit verbreiteten „religiös Indifferenten“: Wie nehmen Sie diese wahr? Als defizitär – oder erst einmal als anders – oder …? Und wie geht es den anderen Christen in Ihrer Pfarrei?

Mittlerweile leben hier Menschen ohne kirchliche Erfahrung und ohne religiöses Wissen. Sie haben nach meinem Verständnis alles, was sie zum Leben brauchen, auch Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie können es aber nicht spirituell deuten.

Für mich ist das erst mal gar nicht wichtig, ob jemand glaubt oder nicht! Ich kenne so viele tolle Menschen und bin sehr freundschaftlich verbun­den mit vielen, die nicht einer Religionsgemeinschaft angehören. Ich spreche nicht mit Atheisten, ich spreche mit Menschen. Durch die Ernen­nungsurkunde des Bischofs bin ich gesandt zu allen Menschen, also zu den 52.000 – für diese Menschen sehe ich meinen Auftrag und mein (priester­liches) Dasein.

Unsere Katholiken leben manchmal mit dem Gedanken: „Ich habe mehr“ und „dabei bleibe ich auch“! Doch leben in fast jeder (Groß-)Fa­mi­lie Nichtglaubende, manchmal sind es die eigenen Kinder. Großeltern und Eltern sind oft betroffen und traurig, dass die nächste Generation nicht getauft wird oder sie nicht mehr in die Kirche gehen oder nicht kirchlich heiraten. Dass kann zu Vorwürfen oder Auseinandersetzungen führen, oder sie vergraben ihre Traurigkeit in Resignation und Traurigkeit.

Und einmal umgekehrt: Wie begegnen Konfessionslose Ihrer Pfarrei, der Kirche, Religion, Christentum, Glaube?

Konfessionslose begegnen uns anlässlich von Sakramentenspendung bzw. Sakramentalien. Unter den Eltern von zu taufenden Kleinkindern oder bei einer Hochzeit sind zumeist konfessionslose Partner, die oft­mals auch vie­le Fragen stellen. Oder der Ehepartner eines erwachsenen Täuflings hat keine Erfahrung mit Kirche. Die meisten Trauernden bei einer Beerdigung sind nicht kirchlich sozialisiert. Also, es kommt immer vor und ist eine schöne Herausforderung in der Verkündigung und beim Bezeugen des eigenen Lebens und Glaubens.

Was meine Person angeht, gibt es viele Gelegenheiten und Kontakte. Das geht los beim Neujahrsempfang der Stadt und dem Kulturstamm­tisch, führt mich zum runden Tisch für Migration des Landkreises bis hin zu Begegnungen in der JVA oder bei Stadtfesten. Bei Kneipenbesuchen, bei dem der Besitzer schon meine Bestellung kennt und ich schon mal „trun­kich“ nach Hause ging: Da wurde ich nach einer langen Diskussion mit drei jungen Leuten über Kirche, Gott und die Welt in einige Trink­runden hin­ein­genommen, ohne zu bezahlen.

Wenn es sich ergibt und ich erzähle, dass ich Pfarrer bin, gibt es zwei Ar­ten von Reaktionen: Es kommt dann vor, dass das Gespräch einfach weiter­geht und diese Info keinen Einfluss hat; oder es gibt Fragen bzw. ich höre plötzlich vertrauensvolle Dinge und darf dann einfach Ohr sein. Die Masse ist von sich aus erst mal gleichgültig gegenüber religiösen Themen.

Was immer wieder passiert, ist ein sozialer Notschrei. Erst jüngst kam ein Anruf: „Es ist Freitag und wir haben für das Wochenende nichts zu essen, Sie sind unsere letzte Rettung.“ So war ich mit dem Familien­vater einkau­fen und habe den Warenkorb bezahlt.

Sehen Sie Unterschiede, wie Christen und nichtreligiöse Menschen ihr Leben gestalten? Erkennen Sie Unterschiede in den handlungsleitenden Motivationen?

Ich sehe bei den meisten Christen keinen Unterschied in der Lebens­gestal­tung, abgesehen von dem Besuch des Sonntagsgottesdienstes. Viele sind genauso konsumorientiert und etabliert wie andere Menschen auch. Wie schon erwähnt, sind die sozial Schwachen nicht da. Beim Thema Flücht­linge und Ausländerfeindlichkeit fällt es mir sehr schwer zuzugeben, dass wir Katholiken oft keine christliche Position einnehmen im Sinne Jesu, der sich „mit besonderer Aufmerksamkeit den Armen, Bedrängten, Einsa­men und Heimatlosen zugewandt hat“. Dies ist übrigens auch eine Formu­lierung aus meiner Ernennungsurkunde von unserem Bischof, als er mir die Pfarrei anvertraut hat. Was ja nicht bedeutet, dass ich der einzige Christ bin, der diesen Auftrag hat!

Viele könnten sicher auch sagen: „Das oder jenes Schwere in meinem Le­ben hätte ich so nicht geschafft ohne meinen Glauben.“ Doch sehr weni­ge können sich mitteilen und wie die Emmausjünger eine Wegstrecke mit anderen mitgehen im Bewusstsein, dass sie jetzt ihr Leben mit anderen teilen und mittragen. In unserer Vergangenheit, die uns nach 25 Jahren immer noch prägt, gab es den Blick nach innen, um uns und unseren christ­lichen Glauben zu bewahren. Heute, so meine ich, ist es eher der Blick nach außen, der uns verändern und einladen würde, von uns und unseren handlungsleitenden Motiven zu erzählen. Ich hoffe jedoch, dass in der konkreten Hilfe in der Nachbarschaft und in der Familie alle ihren Teil tun.

Was kann Kirche lernen, wenn sie sich auf diese Begegnungen einlässt? Wo und wie können sich Glaube und Nicht-Glaube annähern und gegenseitig befruchten? Braucht es gar ein neues Grundverständnis von Kirche und Christsein?

Kirche ist für alle da! Solange wir das nicht verstehen, erfüllen wir nicht unseren christlichen Auftrag. Schon das II. Vatikanische Konzil hatte alle Katholiken weltweit dazu eingeladen, „von der Welt zu lernen“ (vgl. GS 40). Das kann doch auch heißen, jeder und jede darf uns nicht nur beob­achten oder mal vorbeischauen, sondern darf zu uns reinkommen, unser Leben wahrnehmen und unser Leben teilen.

Natürlich ist es dabei gut, das eigene Haus in Ordnung zu halten und im­mer wieder mal zu putzen und, wenn notwendig, auch zu renovieren.

Wir müssen verstehen, dass wir 24 Stunden lang Christ sind oder eben nicht. Es ist fatal zu denken: Ich bin Mensch – und auch Christ! Im Gegen­teil: Ich bin Christ und lebe als solcher als Mensch unter Men­schen! Wir Christen sind keine besseren Menschen, weil wir getauft sind. Doch wir sind demütiger, einfacher und barmherziger, wenn wir alle Menschen in unser Herz aufnehmen und auch mit „Zöllnern und Sündern“ essen.

Dazu schenkt uns der Glaube die Kraft, und das Leben mit Jesus stärkt uns.

Ich weiß aus Erfahrung, dass viele Zeitgenossen sensibel sind für per­sönli­che Wertschätzung, ein gutes Wort und Begegnungen auf Augen­höhe. Wir können uns gegenseitig befruchten, wenn wir uns nicht klassifizieren und das jeweilige Gute zu entdecken suchen. Zum Glück leben wir nicht mit Fraktionszwang, indem wir immer die vermeintlich Besseren sind, im­mer Recht haben und die jeweils bessere Antwort parat haben, die es oft gar nicht gibt. Wir dürfen uns solidarisieren mit den „Menschen guten Willens“ und im sozialen Engagement zusam­men­stehen. Die vielen guten „Nicht-Glaubenden“ sollten uns ein An­sporn bleiben, uns immer neu zu vergewissern, wo unser Auftrag ist in der Welt.

Was bedeuten vor diesem Hintergrund Weitergabe des Evangeliums und Mission? Oder hat Mission hier gar keine Bedeutung mehr?

Mission ist zunächst Zeugnisgeben ohne Worte. Mission ist Gebet, in dem ich Menschen Gott hinhalte. Mission ist die Haltung, alle Menschen lieben zu wollen, ohne sie zu sortieren.

Mission hat Bedeutung unabhängig von (Katholiken-)Zahlen, weil sie ab­sichtslos ist in ihrem Ansatz und das eigene Leben nach dem Evangelium ausrichtet.

Ich selbst habe nicht den Ehrgeiz, neue Katholiken zu machen, und darf dennoch sagen, dass ich lange keine Osternacht gefeiert habe, in denen ich nicht Erwachsene taufen durfte. Die Menschen sind da, die auf der Suche sind nach „mehr“, die den nächsten Schritt gehen möchten und denen ich ein Stück des Weges Wegbegleiter sein darf. Somit ist Mission auch Beglei­tung. Und wer weiß, wie viele in unseren Gemeinden es gibt, die genau das tun!

Folgender Satz hat mir neulich weh getan: „Was soll ich mich mit Flücht­­lingen abgeben, die kommen ja doch nicht in die Kirche.“ Ich meine, Kir­che ist die Quelle meines Handelns und nicht das Ziel meines Handelns.

Eine Passage im diesjährigen Fastenhirtenbrief meines Bischofs Gerhard Feige begleitet mich bis heute:

„‚Ohne Zweifel‘ – so war von Papst Franziskus schon gleich nach seiner Amts­ein­führung zu hören – ‚ist die Barmherzigkeit die stärkste Bot­schaft des Herrn.‘ Das zeigt sich auch in der innigen Verbindung von Gottes- und Nächs­tenliebe, wie Christus sie uns vorgelebt hat und ans Herz legt. ‚Ein neues Ge­bot gebe ich euch‘ – sagt er – ‚Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben‘ (Joh 13,34). Das ist keine unverbindliche Empfeh­lung, sondern gehört zum Wesen unseres Glaubens. […] Dabei ist nicht unse­re Großzügigkeit, Berech­nung oder Rührung der Maßstab, sondern die Notla­ge und Bedürftigkeit derer, die unseren Weg kreuzen. Im Gleichnis vom barm­herzigen Samariter kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck. Wäh­rend die etablierten Personen – Priester und Levit – eher fragen: ‚Was wird aus mir, wenn ich dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfe?‘, ist der Samariter, der als Fremder zufällig des Weges kommt, von der Sorge erfüllt: ‚Was wird aus dem, der da liegt, wenn ich ihm nicht helfe?‘“

Weitergabe des Glaubens geht für mich auch nicht vordergründig über Kate­chismuswissen, sondern über Haltungen. Ich führe „Neue“ auch nicht vorrangig zu der Quelle und zum Gipfel unseres Glaubens, der Eucharis­tie­feier, sondern in eine christliche Lebenshaltung. Am Ende des Lebens wer­de ich gefragt werden nach den Werken der Barmherzigkeit (Mt 25) und – etwas überspitzt gesagt – nicht danach, wie oft ich die Kommunion emp­fangen habe. Wer sich täglich mit den Texten des (Tages-)Evangeliums be­schäftigt, wird in der Liebe zu den Nächsten wachsen, und dadurch wird wie von selbst die Sehnsucht wachsen nach der Mitfeier der großen Dank­sagung, der Eucharistie. Das ist meine persönliche Erfahrung!

Welche Rolle spielt das Pfarrteam beim Bemühen, Kirche für alle Menschen – auch Nichtglaubende – zu sein?

Das Pfarrteam mit Gemeindereferentin, Diakon und meiner Person ist für mich Stärkung, Ermutigung, Korrektiv und Ernüchterung zugleich. Für mich ist es wichtig, mich abgleichen zu können in meinen Ideen, Beurtei­lun­gen und meinen Gedanken. „Zwei sehen mehr“, heißt es. Und: „Wer glaubt, ist nicht allein.“ Unser Papst hat mal gesagt, dass er große Ent­schei­dungen nie allein trifft. Das ist etwas sehr Wichtiges, denn gemein­sam sind wir Kirche und gemein­sam sind wir auch verant­wortlich für die Menschen. Natürlich bin ich immer letztverantwortlich als Pfarrer. Doch vorher muss ich den Weg suchen, spüren und finden; und das gelingt mir nur im Mit­einander aller, die mit mir zu den Men­schen gesandt sind. Die Jünger wurden zu zweit ausgesandt, weil sie im Miteinander das neue Gebot bezeugen sollten. Das Hören aufeinander und das gemeinsame Spüren für den nächsten Schritt halte ich für besonders bedeutsam in unserer Situation.

Seit über einem Jahr feiert unser Team zusammen mit der Pfarr­sekretärin und dem Hausmeister das Bibelteilen vor der wöchentlichen Dienstbera­tung. Wir versuchen, die Haltung aus dem Evangelium uns schenken zu lassen. Dies ist dann die Grundlage für die Besprechung danach und gibt uns für den Tag eine gewisse Stärkung und Orien­tierung. Dabei gibt es immer eine bestimmte Abhängigkeit von der Bereitschaft, mitzudenken und sich einzubringen. Doch oft habe ich erleben dürfen, dass eine anfäng­liche Idee mit der Ergänzung der anderen etwas Neues und Schöneres her­vorbrachte. Allein hätte ich zum Beispiel unser wöchentliches Projekt „Workshop Miteinander“ für die Flüchtlinge niemals anstoßen, organisie­ren und durchführen können. Zuerst wollten wir etwas für sie tun, dann ist die Idee des Miteinanders entstanden, und jetzt gibt es Begegnung auf Augenhöhe und jeder kann sich einbringen mit seinen Begabungen.

Auch wollen wir, als pastorale Mitarbeiter, die Menschen begleiten und nicht versorgen. Die Kirche hat das lange genug getan. Daran erinnert mich mein Team regelmäßig, und mein Kirchenbild ist vielleicht wieder­um eine Hilfe für die Teammitglieder. Ich bin dankbar, dass wir uns so begegnen und ergänzen können.