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Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext

Bis vor wenigen Jahren ist die Erforschung des Phänomens Konfessions­losigkeit noch kein großes Thema in Religionswissenschaft und Theolo­gie gewesen. Dieses Desiderat begründete sich hauptsächlich mit der Tatsache der bislang angenommenen Unselbstverständlichkeit der Kon­fessionslosigkeit, die daher rührt, sie als Mangel an selbstverständlicher Kirchenzugehörigkeit wahrzunehmen. In den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung hoffte man, das Problem würde sich nach Ende der religions- und kirchenfeindlichen DDR mittelfristig von selbst beheben. Mit der Wahrnehmung eines stabilen und wachsenden Anteils konfes­sions­loser Zeitgenossen in Deutschland insgesamt wächst jedoch die Herausforderung für die Theologie, sich darauf einen Reim zu machen. Der vorliegende Band dokumentiert Beiträge verschiedener Lehrstuhlin­haber der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Univer­si­tät Halle. In Sachsen-Anhalt, dem Bundesland mit der höchsten Quote an Konfessionslosen, scheint eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Phänomen Konfessionslosigkeit im Besonderen und dem Phäno­men Säkularität im Allgemeinen für theologische Wahrnehmung und theologisches Denken möglich zu sein, wie überhaupt die Nicht-Selbst­verständlichkeit des Glaubens im Osten Deutschlands angesichts einer konfessionslosen Mehrheit zu neuen „Auslegungen“ des Christlichen und neuen ekklesiologischen Entwürfen führt.

Domsgen nähert sich dem Phänomen an, indem er den Begriff der Kon­fessionslosigkeit problematisiert. Entkirchlichung erfasst es nicht ausrei­chend, vielmehr scheint einem „Großteil der ostdeutschen Konfessions­losen nicht nur die Kirche, sondern das Christentum insgesamt fremd geworden zu sein“ (12). Mehr noch: Gut zwei Drittel der Konfessionslo­sen seien als klar religionslos einzustufen. Domsgen unternimmt dann den Versuch, die Konfessionslosen nicht als religiös defizitär, sondern als religiös unbestimmt zu beschreiben. „Explizite Religiosität spielt für die Lebensbedeutung und ‑gestaltung […] keine Rolle. Auch für die Bewäl­tigung persönlicher Krisen greifen sie [die Konfessionslosen; HS] aus­schließ­lich auf praktische und diesseitige Lösungsstrategien zurück“ (16). Offenbar braucht es neue Kategorien jenseits von gläubig und ungläubig. Die Forschungen von Monika Wohlrab-Sahr hätten eine „agnostische Spiritualität“ zutage gefördert, bei der anstelle religiöser Denkfiguren „Versatzstücke wissenschaftlicher, parapsychologischer, medialer und neureligiöser Deutungsmuster“ kombiniert würden (17). Im Anschluss an die Forschungen von Gert Pickel präsentiert Domsgen sieben unterschiedliche Typen von Konfessionslosen und unterstreicht damit seine These von der multiplen Säkularität, die Konfessions­losig­keit darstellt. Obwohl er damit den Begriff „Konfes­sions­losigkeit“ eher als Problemanzeige denn als eine inhaltliche Be­schreibung qualifiziert, bleibt ihm nichts anderes übrig, als in Erman­gelung eines besseren Begriffes darauf zurückzugreifen.

Jörg Dierken problematisiert den Graben zwischen religionssoziologi­schen Erkenntnissen und theologischen Entwürfen. Nach ihm verbietet sich angesichts der Zunahme von Konfessionslosigkeit die klassische mis­sionarische Dimension kirchlichen Handelns, die auf quantitative Ausbreitung angelegt sei. Er nimmt das Motiv von der grundlegenden Bedeutung von Religion bzw. deren Rolle im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung auf und beschreibt die unterschiedlichen Entwicklungen von Säkularisierung in verschiedenen Ländern. Obwohl Niklas Luhmann nicht von einem Verschwinden von Religion ausging, wies er ihr im Rah­men der segmentierten Gesellschaft lediglich eine Randbedeutung als Teilsystem zu. Dierken stellt jedoch zu Recht fest, dass „im Unterschied zu dem tendenziellen Zwang zur Teilnahme an den säkularen Systemen der modernen Gesellschaft […] die Teilnahme am Religionssystem hoch­­gradig ins individuelle Belieben gestellt [ist]“ (59). Auch theolo­gisch führt die Konfessionslosigkeit zu Umdeutungen, insofern die Glei­chung, das Christliche decke sich mit dem Konfessionssystem, aufgelöst wird. So kommt Christliches außerhalb der verfassten Kirche in den Blick. Dierken sieht die Gefahr, dass über diesen Weg Phänomene des Nichtglaubens „religiös eingemeindet“ werden (vgl. 65). Für die Kirchen folgt daraus, Phänomene des Christlichen außerhalb der Kirche wahrzu­nehmen und anzuerkennen.

Solchen soziologischen sowie theologischen Umdeutungsversuchen gibt Dierken den Abschied, insofern er klarstellt: „Gerade ein auf ›Glauben‹ abstellendes Verständnis von Religion kommt um die tatsächlichen Voll­züge individueller Subjekte nicht herum“ (69). Auch wenn das Interesse an Kirchbauten Resonanzen für Sakralität im Profanen markiere und es ein Bedürfnis nach passageren Riten im Lebensvollzug gebe, sei institu­tionalisierte kirchliche Praxis die Voraussetzung für Zustimmung wie Ablehnung (vgl. 71). „Ohne kontinuierliche öffentliche Artikulation der Symbolik des christlich-religiösen Glaubens verlöre die Übersetzung des Religiösen in nicht-kirchliche Idiome ihren Ankerpunkt“ (ebd.). Dierken resümiert: „Es gilt gerade im Kontext von forcierter Konfessionslosigkeit Konfessionalität reflektiert zu praktizieren“ (72).

Udo Schnelle verweist in seinem neutestamentlichen Beitrag auf die Erfolge der ersten Christen. „Diese Anschlussfähigkeit ließ sich nicht durch Verweigerung, sondern nur durch eine bewusste Teilnahme an den Debatten erreichen, die im Umfeld der Gemeinden geführt wurden“ (76). Die Kommunikation der frühen Christen bestand in der Bildung von Netzwerken: Das Haus fungierte als natürliches Zentrum religiösen Lebens, in der Außenwahrnehmung erschienen die christlichen Gemein­den als Vereine. In Gruppen von 30 bis 40 Personen kamen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zusammen, Sklaven und Her­ren. Freiheit galt als innere Freiheit, die ihre Ermöglichung und ihren Zielpunkt allein in Jesus Christus hat. „Die Zugehörigkeit zum auser­wählten Volk definierte sich nicht mehr über die völkische oder familiäre Abstammung, sondern durch die ›Neu‑/‌Wiedergeburt‹ in der Taufe“ (91). Als wichtige Merkmale nennt Schnelle Offenheit, Verzicht auf for­male Zulassungsbedingungen, Sozialverhalten, Wohltätigkeit, intensive persönliche Kommunikation. Die fünf Säulen des Netzwerks waren: Brie­fe, Reisen, Mitarbeiter, gegenseitige materielle Unterstützung, aus­geprägte Kultur der Gastfreundschaft (vgl. 93).

Jörg Ulrich lenkt den Blick auf die Selbstsicht des Christentums in der patristischen Epoche. In dieser Zeit strebte das Christentum nach mis­sio­narischem Erfolg, was sich jedoch regional sehr unterschiedlich dar­stellte: „Die neue Religion breitet sich nicht als Einheit, sondern in gro­­ßer Diversität und institutioneller Pluriformität aus“ (98). Im Spiegel der Kritik des Kelsos findet Ulrich „klare Belege für die quantitative Aus­breitung des Christentums wie auch sein allmähliches Eindringen in die Schichten intellektueller, philosophisch gebildeter Römer“ (100). Die Christen selbst machen in den Texten des 2. Jahrhunderts jedoch von dem quantitativen Argument so gut wie keinen Gebrauch. Ulrich erklärt dies einerseits mit der Ambivalenz, dass eine steigende Zahl von Chris­ten angesichts vieler, die die hohen ethischen Standards des Christen­tums nicht einhielten, dem Namen nach jedoch Christen waren, noch kein Wahrheitsbeweis sei. Andererseits habe es keine eigentlich ausge­bil­dete Missionstheologie gegeben. Ulrich zitiert Norbert Brox: „‚Domi­nie­rend war die Idee, wonach nicht die Bekehrung aller das erwartete Ziel ist, sondern im Gegenteil der Unterschied zwischen Kirche und Welt bleibend unaufhebbar gedacht wird, so dass die Mission als Vorgang von Einzelbekehrungen notwendig unabgeschlossen bzw. das Faktum von Nichtbekehrten endgültig ist‘“ (107). Nach der Konstantinischen „Wen­de“ habe dann das Argument der Mehrheitsreligion und des Wachstums als Beweis für die Wahrheit des Christentums an Bedeutung zugenom­men. Im Kontext des zeitgenössischen Mitteldeutschlands zeige sich wieder neu die Ambivalenz des quantitativen. Ulrich empfiehlt eine Ge­las­senheit gegenüber Mitgliederzahlen und ein christliches Selbstver­ständnis als Anlaufstellen für Menschen, die Halt und Orientierung suchen, das sich aus dem Wissen um das (wenn auch kleine) Vorhan­den­sein von Christen und christlichen Gemeinden speist (vgl. 110).

Friedemann Stengel räumt in seinem Beitrag über die Kirche im SED-Staat mit dem Vorurteil der „Protestantischen Revolution“ (117) ebenso auf wie mit der These, die Religionspolitik der DDR sei monokau­sal für die Entkirchlichung und Konfessionslosigkeit im Osten Deutsch­lands verantwortlich. Vielmehr beschreibt er es als einen Abgrenzungs­akt, der gegenüber den Religionsattributen des Westdeutschen eine ost­deutsche Identität generiere und garantiere. In dieser Situation plädiert Stengel dafür, nicht auf eine „von selbst laufende Reorganisation der ge­genüber anderen Religionsgemeinschaften privilegierten Volkskirche“ (137) zu hoffen, sondern eine Situation zu akzeptieren, die „als Hand­lungsort und -auftrag“ (ebd.) begriffen wird: „bewusste Annahme, aber nicht unkritische Anpassung an die gesellschaftliche Situation“ (138).

Dirk Evers fragt angesichts des Schwindens von Mitgliederzahlen und ökonomischer Basis der nach dem „Wie eines die Kirche gestaltenden, leitenden und damit gerade als Institution erhaltenden Handelns“ (155). Kirche entstehe neutestamentlich da, wo „Jesus Christus selbst in die Mitte tritt und in, mit und unter der Gestalt menschlicher Worte und Handlungen Menschen für seine Gemeinde gewinnt“ (155 f.). Er er­innert daher daran, „dass das, was Kirche wesentlich begründet und erhält, nicht als Resultat, nicht als Zielvorgabe, nicht als Gestaltungs­aufgabe, sondern immer nur als Herkunftsangabe, als vorgängiges und uns entzo­genes, aber uns einbeziehendes Geschehen in Betracht kommt“ (156). Das Wirken des Heiligen Geistes dürfe keineswegs nur auf die Sozial­gestalt von Kirche beschränkt werden. Kirche sei prozess­haftes Gesche­hen als Lebensbewegung des Heiligen Geistes. Konfes­si­onslosigkeit bedeute für die Kirchen in Deutschland, „dass sie sich in Staat und Gesellschaft neu verorten, mittelfristig neu organisieren und wohl auch finanzieren müssen“ (165). Konfessionslosigkeit sei eine Herausforde­rung, die Vielfalt der Weltbezüge wahrzunehmen und sich entfalten zu lassen. „Müssten wir uns nicht mehr darüber austauschen und reichhal­ti­gere Modelle und Beschreibungen dafür finden, welche Stadien es auf Lebenswegen gibt und welche Pfade es von ihnen hin zum Glauben ge­ben kann, auch und vielleicht gerade für in ihrer Sozia­lisation durch und durch weltlich imprägnierte Menschen?“ (167). Evers will der hartnäcki­gen Pflege religiöser Binnenmilieus den Abschied geben und wirbt für „Begegnungsmöglichkeiten und Foren, auf denen Menschen konstruktiv über ihre Wege des Glaubens und des Unglaubens Erfahrungen sam­meln, sich austauschen und sich auf biblische und kirchliche Traditionen in einer frischen unverbrauchten Weise beziehen können“ (ebd.).

Die Beiträge von Malte Dominik Krüger über den Protestantismus als Bild­religion im Wechselspiel von Entzug und Präsenz, von Marianne Schröter und Christian Senkel über Konfessionalitätsdämmerung, die für ein Christentum als symbolistische Alltagsreflexion votieren, Daniel Cyrankas Versuch einer kontextuellen Theologie für Ostdeutsch­land und Michael Domsgens Beitrag über religiöse Kommunikation in Ost­deutschland komplettieren einen anregenden Band , der zum Wahrneh­men der Situation und zum Weiterdenken und zur Überprüfung kirch­licher Bilder und Haltungen einlädt und herausfordert. Einzig der alttes­ta­mentliche Beitrag von Ernst-Joachim Waschke wirkt in seinem man­geln­den Bezug zum Kontext des Bandes wie aus der Geschichte heraus­gefallen.

Hubertus Schönemann