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Das „Aachener Innovations- und Gründertraining für Seelsorger*innen“ als strategischer Baustein diözesaner Pastoralentwicklung

Das „Aachener Gründertraining für Seelsorger*innen“ ist Teil der diözesa­nen Pastoralentwicklung im Bistum Aachen. In ihm sollen pastorale Akteure konkretes Handwerkszeug erhalten, um mehr Innovation in der Pastoral zu ermöglichen. Martin Pott stellt Hintergründe und strategische Bedeutung des Gründertrainings dar.

Programm des Zweiten Vatikanischen Konzils war die „Verheutigung“ („Aggiornamento“). Eine Kirche, die nicht „aus der Zeit kippen“ will, braucht Tag für Tag Verheutigung. Voraussetzung dafür ist eine wache Wahrnehmung dessen, wie sich das Leben der Menschen verändert und damit je neu darstellt. Es braucht die Deutung der „Zeichen der Zeit“ (GS 11) und die Unterscheidung, was darin im Sinne und gemäß dem Willen Gottes aufscheint und herausfordert.

Das „Aachener Gründertraining für Seelsorger*innen“ ist nicht vom Him­mel gefallen. Es verdankt sich einem langen Prozess und befördert diesen wiederum. Das Bistum Aachen hat sich in den Amtszeiten der Bischöfe Klaus Hemmerle (1975–1994) und Heinrich Mussinghoff (1995–2015) auf den Weg der Verheutigung eingelassen. Während Bischof Klaus Hemmerle vor allem theologische und spirituelle Grund­linien legte, baute sein Nachfolger darauf auf und überführte sie in viel­fältige konkrete pastorale Umsetzungen. Bischof Hemmerle ist immer eingetreten für eine plurale kirchliche Präsenz. Schon früh in der Hoch­zeit der Gemeindetheologie nach der Würzburger Synode merkte er weitsichtig an:

Wahr ist, daß Kirche von Anfang an Gemeinde ist – aber nicht wahr ist, dass Kirche nur Gemeinde ist. Eine Kirche, die sich aufs Gemein­de­sein reduzierte, unterböte die Inkarnation […]
(Hemmerle 1975, 113)

In der Konsequenz hat das Bistum Aachen früh eine breit aufgestellte „kategoriale Seelsorge“ aufgebaut. Bischof Hemmerle selber gründete z. B. im Jahr 1980 den pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiter­schaft“. Unter seinem Nachfolger wurde weiterhin sensibel auf die Cha­rismen bestimmter Orte gehört und wurden sich anbietende Kairoi genutzt für Innovationen und Gründungen. So führte die Beobachtung der Verände­rungen in der psychiatrischen Versorgung – Paradigmen­wechsel zu „am­bulant vor stationär“ – dazu, dass in der Städteregion Aachen eine „Ambulante Psychiatrieseelsorge“ aufgebaut wurde. Die Tatsache, dass 2004 das Land NRW in der Eifel einen Nationalpark errichtete, wurde zum Anlass, dort ein „Ökumenisches Netzwerk Kirche im Nationalpark“ sowie die „Nationalparkseelsorge“ zu gründen. In Aachen wurde deutsch­landweit die erste Kirche zu einer „Grabeskirche“ (Kolumba­rium) umgewidmet. Die Personalgemeinden „kafarna:um“ und „Zeit­fenster“ wurden gegründet. Die Eröffnung einer kirchlichen Präsenz auf dem neuen Uni-Campus in einem der großen Cluster-Gebäude steht be­vor. Es ließen sich weitere Beispiele anführen.

Diese Illustrationen zeigen, dass das Projekt „Gründertraining für Seel­sorger*innen“ keineswegs aus dem Nichts kam. Es konnte vielmehr überhaupt nur in dieser gewachsenen Kultur des Experimentierens mit alten und neuen kirchlichen Präsenzformen Fuß fassen. Es „verdankte“ sich mittelbar darüber hinaus auch den Auswirkungen der Finanzkrise des Bistums Aachen 2003 und in den folgenden Jahren. Eine einschnei­dende Maßnahme dieser Krise war die Aussetzung der Berufseinfüh­rung für Gemeinde- und Pastoralassistenten/‑innen gewesen. Als diese dann im Jahr 2011 wiederaufgenommen und das Berufseinführungs­kon­zept neu aufgesetzt wurde, brachte der Kollege Florian Sobetzko die Idee ein, so etwas wie ein „Gründertraining“ in das Curriculum aufzu­neh­men. Gerade angesichts der konkreten Aachener Erfahrungen des Aufgebens kirchlicher Dienstleistungen sollte der Gründergedanke die Offenheit nach vorne sichern helfen, um dem Auftrag der Verheutigung unbedingt weiter gerecht werden zu können. Ziel des Ausbildungs- und später auch Fortbildungsbausteins „Gründertraining“ sollte sein, wie mit einem Treibriemen die Potenz der Theologie des Vatikanum II „auf die Straße zu bringen“. Es sollte konkretes Handwerkszeug an die Hand gegeben werden. Das Lernen im Umgehen mit spezifischen „Tools“ soll­te mehr Innovation in die Pastoral bringen.

Spiritualität des Gründens

In Aachen, einer Stadt mit einer großen technischen Universität, ist viel vom „Gründen“ die Rede. Laufend schießen „Start-ups“ aus dem Boden. Als Bistum haben wir nicht wenig von den Erfahrungen aus den Grün­der­trainings der Hochschule lernen können. Zugleich sollte das Thema „Gründen“ unbedingt auch geistlich-spirituell fundiert sein. Einige Jah­re, bevor die Vokabel vom „Gründertraining“ die Runde machte, war im Kontext der Bemühungen um eine milieusensible Pastoral die Rede von „Kundschaftern und Kundschafterinnen“ wichtig geworden. Im Rah­men der Entwicklung der pastoralen Räume hatte Bischof Mussinghoff dafür geworben, in jedem pastoralen Raum zwei „Kundschafter*innen-Rollen“ zu vergeben, eine für „soziale Not“ und eine für „religiöse Su­che“. Das Bild der Kundschaftenden sollte bewusst an die alttestament­liche Kundschaftergeschichte aus dem Buch Numeri (Num 13–14) erin­nern. Die dort festgehaltenen Erfahrungen der Ambivalenz, von Sehn­sucht nach dem „Land, wo Milch und Honig fließen“ einerseits und der Angst vor den „Riesen“ in der Fremde andererseits wirken wie ein Spie­gel unserer heutigen Situation. Der Topos des mutigen „ersten Schritts“ gehört zur DNA des jüdisch-christlichen Erbes. Aber das Zögern vor dem Unbekannten, das Zurückschrecken vor dem vermeintlich zu großen Auf­trag – das gehört auch zum Menschsein. Mose brachte gegenüber JHWH Einwand über Einwand vor, um nicht zum Pharao gehen zu müs­sen (Ex 3–4). Es brauchte die Bereitstellung des redegewandten Unter­stützers Aaron und göttliche Erweise zauberhafter Kräfte, damit Mose endlich seine Mission antrat.

Eine symmetrische Eskalation

Zu einem strategischen Moment der Pastoralentwicklung konnte das Gründertraining werden, weil neben der gewachsenen Kultur pastoraler Offenheit an einer bestimmten Konstellation der Kommunikation gear­bei­tet wurde. Die drei Eckpunkte dieser Kommunikation waren zu­nächst die Akteure vor Ort, also die eigentlichen Gründerinnen und Grün­der, dann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Ab­teilungen des Bischöflichen Generalvikariats und schließlich der Bischof selber. Aus dieser Kommunikation entstand ein Kreislauf wechselsei­tiger Impulse. Pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mutig gründeten, gaben in der Kommunikation mit Mitarbeitenden des Bi­schöf­lichen Generalvikariats Informationen und Anregungen weiter, die dort weiterverarbeitet wurden in Richtung Planung von Bildungsmaß­nahmen wie z. B. dem Gründertraining. In den Personen des Zuständi­gen für Pastoralentwicklung und des Seelsorgeamtsleiters wurde die Kommunikation zum Bischof gesucht, was u. a. dazu führte, dass der Bischof 2011 in seinem Vortrag vor den pastoralen Diensten zur Pasto­ralentwicklung des Bistums die zentralen, ihm vorgeschlagenen Voka­beln aufgriff und damit seinerseits die positive Eskalation befeuerte:

Neue Gestalten von Kirche pflanzen, neue Formen von Gemein­schaften und Gemeinden gründen, das scheint mir tatsächlich ein Gebot der Stunde zu sein. Über das Wachsen entscheidet Gott – aber schaffen wir das, eine neue „Gründerphase“ einzuläuten? Wo sind die Gründerväter und Gründermütter unter Ihnen? Wo sind die, die in neuer Weise „sich selbst riskieren“?
(Mussinghoff 2011, 12)

Subjekt und System

Dieses Zusammenspiel der verschiedenen und verschiedenartigen Ak­teure führte dazu, dass das „Gründertraining für Seelsorger*innen“ kein isoliertes Fortbildungsmodul blieb, sondern zu einem strategischen Bau­stein der Aachener Pastoralentwicklung werden konnte. Die not­wen­dige Bedingung war der Bischof, der offensiv zum Experimentieren und zum Gründen aufforderte, ein Bischof, der Fehlerfreundlichkeit anmahnte und Pluralität hochhielt. Das alleine hätte aber niemals ge­reicht. Wie es in der Mathematik manchmal zum Zusammentreffen von notwendigen und hinreichenden Bedingungen kommen muss, damit die Gleichung aufgeht, so fehlten hier als hinreichende Bedingung: Kol­leginnen und Kollegen aus dem pastoralen Dienst, Gemeinde- und Pas­toralreferenten/‑innen, aber auch Priester, die mutig ein Risiko eingin­gen und mit dem Gründen begannen oder den Gründer*innen den Rücken freihielten. Etwas Neues kann nur entstehen, wenn Mitarbei­ten­de die Dinge, wofür ihr Herz brennt, in die Hand nehmen. Wenn sie das anpacken, von dem sie glauben, dass es einen wirklich relevanten Beitrag zum Lebenkönnen der Menschen leisten wird. Wenn sie fest­stellen, dass und wie man ko‑kreativ Kirche entwickeln kann. Und wenn sie im Prozess des Gründens und im Umgang miteinander etwas von dem Geist dessen erfahren, „der allen das Leben, den Atem und alles gibt“ (Apg 17,25).

Die Akteure vor Ort hier und der Bischof dort repräsentieren „Subjekt und System“. Das Bistum, verkörpert durch den Bischof („System“), muss die Rahmenbedingungen abstecken, muss den Grundauftrag geben, in diesem Fall also die explizite Ermutigung zu Innovation und Gründungen. Das System muss auch angemessene personelle und finanzielle Ressourcen bereitstellen. In diesem Korridor können sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter („Subjekt“) ermutigt fühlen, ihre Kompetenzen, ihr Charisma in die Waagschale zu werfen und mutig einen Gründungsschritt zu setzen – wissend, dass sie auch Fehler machen und scheitern dürfen. Diese wechselseitige Verbindlichkeit, aber auch dieses wechselseitige Vertrauen in die jeweils andere „Seite“ ist ein nicht zu unterschätzendes Moment, will man so etwas wie Grün­dung und Innovation strategisch in einer Diözese implementieren. Es ist so wichtig, weil es ein Moment der „Unternehmenskultur“ ist!

„Pragmatistische Agenda“

Mit Blick auf die Pastoralentwicklungsbemühungen der deutschen Diözesen und deren Innovationspotenziale hat Matthias Sellmann darauf hingewiesen, dass es zwei leitende Agenden und eine noch eher schwach ausgebildete Agenda gibt (vgl. Sellmann 2017, 77–79). Stark sind die normativistische und die utilitaristische Agenda. Die normati­vistische Agenda zeigt sich in Leit- und Zukunftsbildern. Das sind Texte, die auf den gemeinsamen Horizont hin einschwören. Sie berufen sich auf die spirituelle Tradition. Das normativistische Aktionsmuster ist konsensorientiert und absichernd. Es geht um Anpassungslernen. Sein Gefahrenpotential liegt darin, weltfremd oder frömmelnd oder indok­tri­nie­rend zu sein. Seine Theologie ist die Theologie des Folgens.

Die utilitaristische Agenda sieht Sellmann dann am Werk, wenn Plan­vor­gaben ausgeführt werden. Die Strategie geht klar von oben nach un­ten. Das Beziehungsmuster heißt Kontrolle. Das Motiv ist der Erhalt des Bestands. Das Konzept agiert reaktiv. Es folgt einer Theologie der Konti­nui­tät. Beispiele für solche utilitaristischen Konzepte sind die Struktur­pläne der Diözesen, die pastorale Räume anpassen an bestimmte Para­meter, oder auch Immobilienkonzepte, die versuchen, die Sakral- und Profanbauten in die Zukunft zu retten.

Eine dritte Agenda, von der Sellmann sagt, dass sie ausgebaut werden sollte, ist die sog. „pragmatistische Agenda“. Der wissenschaftstheore­tische Ansatz von Sellmann ist sehr stark vom amerikanischen Pragma­tismus, hier vor allem durch Charles S. Peirce, geprägt (vgl. Sellmann 2015). Eine pragmatistische Agenda wäre vom Charakter her riskant und investierend, strategisch eine kreativdialogische Grundbewegung. Ihr Beziehungsmuster heißt Vertrauen. Ihr Andockpunkt sind Start‑up-Erfahrungen aus den Bereichen der Wirtschaft. Ihre leitenden Motive heißen: machen, gründen, experimentieren, scheitern, wagen, Chancen generieren. Ihr Aktionsmuster ist nicht reaktiv, sondern proaktiv ge­win­nend, dabei durchaus fragmentarisch. Ihr Lernmuster ist nicht Anpas­sung, sondern Veränderung. Theologisch geht es um eine Theologie des Anfangens. Beispiele für diese Agenda sind zukunftsorientierte Bera­tungsformen oder die gezielte Förderung von Projekten der Innovation oder Gründung in den verschiedensten pastoralen Feldern.

„Effectuation“

Agieren nach der pragmatistischen Agenda kann gut am Modell „Effec­tua­tion“ gezeigt werden, einem Weg, in den auch beim „Gründertrai­ning“ eingeführt wird (vgl. Faschingbauer 2013). Hier können nur ein paar Grundinformationen gegeben werden. Der „Effectuation-Prozess“ wurde entwickelt für Situationen, in denen trotz großer Ungewisshei­ten gehandelt werden muss oder will. Exaktes Vorhersagen und Planen sind unmöglich – eine Ausgangslage, die heute für viele Felder kirchli­chen Handelns gegeben ist. Statt in einer kausalen Logik Ziele festzu­legen und darauf hin zu planen, ist die „Mittelorientierung“ zentral: Was steht mir aktuell an Mitteln zur Verfügung (Ideen, Wissen, Vernet­zung …)? Mit wem kann ich über meine Idee, meinen vagen Plan reden? Wen könnte ich gewinnen? Statt über erwartbare Gewinne zu spekulie­ren, geht es bei „Effectuation“ darum, den „leistbaren Verlust“ zu be­stimmen: Wieviel darf ich maximal verlieren? Zufälle und Unerwartetes werden nicht als Störung empfunden, sondern als Chance aufgegriffen. Andere Player im Feld werden nicht als Konkurrenten wahrgenommen, sondern als potenzielle Partner. Denn das Einbeziehen weiterer Akteure vermehrt die Mittel. Es erfordert allerdings auch eine Neujustierung des Ziels. Der Verständigungsprozess unter den Beteiligten kann mehrere Schleifen umfassen, bevor die Idee handlungsreif entwickelt worden ist. Und dann geht es ans Ausprobieren und Testen … So kann Neues in die Welt kommen, in die Pastoral kommen. Mancher Versuch wird den Pra­xistest nicht bestehen. Das ist nicht schlimm. Anderes wird sich als pas­send erweisen und wachsen. Wenn die Innovation oder Neugründung sich etabliert hat, kann dann mit anderen Entwicklungsverfahren wei­tergearbeitet werden.

Resümee

Die Aachener Erfahrungen mit drei Durchgängen des „Aachener Inno­vations- und Gründertrainings für Seelsorger*innen“, wie es mittler­weile heißt, sind – so sollte gezeigt werden – ein „Stein“ in einem gro­ßen Mosaik. Damit sind eine Chance und eine Grenze markiert. Die Chance ist, dass das „Gründertraining“ nicht isoliert dasteht, sondern ein Teil einer diözesa­nen Strategie ist. Die Grenze ist, dass es nur ein Element unter vielen ist. Nur ein Teil der Seelsorger*innen des Bistums Aachen hat das Training durchlaufen. Die vermittelten Tools sind längst nicht flächendeckend prägende Medien pastoralen Agierens. Die diöze­sanen Rahmenbedingungen haben hinsichtlich Innovationsfreundlich­keit und Gründungsförderung noch viel Luft nach oben. Das „Gründer­trai­ning“ setzt als Idee auf Zeit und auf Prozesse (vgl. Evangelii gaudium 222–225). Es pusht Ko‑Kreation und Ko‑Evolution. Das „Gründertrai­ning“ macht handhabbare Vorschläge, wie man gute Theologie pastoral-praktisch wirksam werden lassen kann. Es vermittelt Handwerkszeug, um die „works of ministry“, wie es in der englischen Übersetzung von Lumen gentium 4 heißt, „verheutigt“ tun zu können. Und leistet so einen Beitrag zum Lebenkönnen und zum Glaubenkönnen heutiger Zeitgenossen.