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Stellvertretung durch Christen?

Die Meinung eines säkularen Menschen

Wie kommt der Gedanke der Stellvertretung der christlichen Existenz und des christlichen Gottesdienstes und Gebets bei Menschen an, die sich selbst als nicht glaubend verstehen? Die Redaktion von εύangel hat Michael Matthes gebeten, dazu kurz Stellung zu nehmen.

Gern nehme ich das Angebot an, als säkularer Mensch auf die Gedanken einer Stellvertretung von Christen für andere zu antworten. Ich habe die Beiträge von Andreas Odenthal und Stefan Tausch, die in dieser Ausgabe enthalten sind, zur vorherigen Lektüre erhalten mit der Bitte, mich dazu zu positionieren.

Zunächst zu meinem Hintergrund: Ich bin in Sachsen geboren und auf­gewachsen, lebe aber schon lange in Erfurt. Ich stamme aus einer evan­gelischen Familie, die ihren Glauben sehr wenig praktiziert hat. In den 90er Jahren trat ich dann aus der Kirche aus. Denn mir wurde immer klarer: Ich bin ein durch und durch säkularer, nicht-religiöser und welt­lich denkender als auch fühlender Mensch. Transzendenz und Spiritua­lität, d. h. die Akzeptanz der Möglichkeit, dass die Grenzen von Erfah­rung und des Bewusstseins im Diesseits auch einmal überschritten werden können bzw. müssen, sind mir völlig fremd.

An die Existenz eines Gottes kann ich nicht glauben. Auch deshalb: Warum hat ein Gott nicht eingegriffen, als Hitler Millionen von Men­schen ermorden ließ? Warum kommen Kinder bei Erdbeben ums Leben? Deshalb ist es mir auch nicht möglich zu beten.

Ich möchte dazu eine kleine Begebenheit berichten: Ein Hotel in Kan­dersteg in der Schweiz. Nach einer wunderbaren Wandertour sitze ich in der Gaststube und bestelle etwas zu essen. Ein paar Tische weiter sehe ich einen älteren Mann. Er betet vor dem Essen. Ich glaube nicht an einen Gott, Beten kommt mir nicht in den Sinn. Aber der Anblick faszi­niert mich. Bei dem vielen Hunger auf der Welt ist etwas Demut vor dem Essen, das Bewusstwerden, dass es uns gut geht, natürlich hilfreich.

Aber dann kommen mir Zweifel: Wenn ich Gott für mein Essen danke, dann steht auch die Möglichkeit im Raum, dass ich nichts zu essen hätte. So wie es anderen Menschen geht, die tatsächlich hungern. Wenn aber die einen etwas zu essen haben, die anderen nicht und ich Gott dafür danke, dass ich etwas zu essen habe, dann akzeptiere ich, dass Gott eine Auswahl trifft. Mit dem Gebet akzeptiere ich, dass Gott dem einen etwas gibt, dem anderen nicht. Deshalb kann ich nicht beten, nicht mit Gott sprechen, ihm meine Sorgen und Ängste mitteilen, ihn nicht um Vergebung bitten oder ihm danken.

Aber können (dürfen) andere Menschen für mich beten? Natürlich ist es schön, wenn Menschen für ihre Mitmenschen etwas Gutes tun wollen. Und natürlich hat jedermann die Freiheit, für andere zu beten, andere in ein Gebet einzubeziehen. Es gibt Menschen, die wohlmeinend für mich beten (wollen), die mir und der Welt Gutes wünschen. Die mir Gottes Segen wünschen. Ich bin zwar überzeugt, dass dieser Gott in mein Leben nicht eingreifen kann, aber ich verstehe die liebevolle Zuwendung.

Das „Für-andere-beten-Wollen“ hat aber auch etwas von Indoktrina­tion, von Beeinflussung zur Bildung einer bestimmten Meinung oder Einstellung. Die Gefahr, dass der Betende zu wissen meint, was ich brauche, ist groß. Insbesondere konservative Christen könnten für mich beten in einem Sinn, der mir zuwider ist. Häufig wird z. B. auf die geis­tige Entwurzelung und Orientierungslosigkeit der Menschen (in der westlichen Welt) verwiesen. Als Beweis kommt schon einmal die mehr­heitliche Zustimmung zum BGH-Urteil über die Sterbehilfe ins Ge­spräch. Ich möchte ausdrücklich nicht, dass im Gebet eine solche angebliche Entwurzelung und Orientierungslosigkeit anderer – also offenbar auch von mir – „vor Gott“ gebracht wird. Die Gefahr ist groß, dass bestimmte Menschen dabei „benutzt“ und als Mängelwesen gesehen werden, eventuell, damit man sich selbst als Christ besser fühlen kann als sie?

In einem Blog habe ich diese Sätze gefunden: „Meistens wissen die anderen gar nicht, wie leidenschaftlich wir für sie beten. Das Gebet für andere ist eine ganz besondere Art der Liebe. Ich stehe für andere Men­schen ein, kämpfe für sie. Ich investiere mein Herz und meine Zeit, damit Gott in ihre Situation eingreift.“ Ich möchte ausdrücklich nicht, dass in dieser Art für mich gebetet wird.

Und: Wie würden wir reagieren, wenn das gleiche Angebot aus kon­servativ-islamischer Richtung käme? Die Gefahr einer Abqualifizierung Andersdenkender und einer spirituellen „Vereinnahmung“ oder „Heimholung“ ist nicht von der Hand zu weisen.

Im Folgenden beziehe ich mich auf den Text von Andreas Odenthal. Ich gestehe, dass ich mit vielen der Gedanken in seinem Beitrag nur sehr wenig anfangen kann. „Wenn die Kirche Gottesdienst feiert, dann steht sie in Solidarität mit der ganzen Welt vor Gott.“ Und: „Es ist die Univer­salität der Liebe Gottes, die die Kirche stellvertretend in ihrem Gottes­dienst feiert, nicht nur für die versammelte Gemeinde, sondern für eine ganze Welt, das heißt: anstelle und zugunsten aller Menschen.“

Wie können heute in Kenntnis z. B. des Missbrauchsskandals solche Sätze formuliert werden? In Kenntnis einer Ablehnung der Homo­sexualität in weiten Teilen der Weltkirche? In Kenntnis der Unter­stützung grauenhafter Praktiken der Militärdiktaturen in Portugal und Südamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch durch kirchliche Akteure? Wo bleibt die Solidarität mit den Opfern? Diese Sätze empfinde ich als eine Anmaßung. Die Kirche kann gar nicht stellvertretend die Liebe Gottes feiern!

Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Grausam­keiten. Die Kirche war an diesen Grausamkeiten beteiligt (z. B. die Plünderung Südamerikas) und hat eigene hinzugefügt (z. B. Folter für Blasphemie). Es gibt also in Kenntnis der geschichtlichen Zusammen­­hänge keinen Grund, die katholische Kirche als moralische Institution anzuerkennen. Natürlich denken und handeln heute viele Vertreter dieser Kirche ganz anders. Aber eben noch lange nicht alle!

Deshalb: Der katholischen Kirche spreche ich das Recht ab, für mich im Gottesdienst zu beten. Wohlwollende, liebende Menschen, die mich in keiner Weise beeinflussen wollen, die mein Wollen respektieren, dürfen dies sehr gern.

Und abschließend: „Trotz der unzähligen Erfahrungen von Lieblosigkeit, Hass und Gewalt […] lässt Gott sich […] nicht schachmatt setzen“ (Andreas Odenthal).

Ich möchte diesen Gott, auch wenn es ihn nicht gibt, anschreien: Warum tust du nichts?