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„Für uns ist das Digitale einfach ein anderer Ort“

Konferenz der Internetseelsorge-Beauftragten 2021

Nach der guten Erfahrung mit der Online-Konferenz 2020 und bei leider erst langsam fallenden COVID-Inzidenzwerten fand die Konferenz der Internetseelsorge-Beauftragten am 19. und 20. Mai auch in diesem Jahr wieder als Videokonferenz statt.

Im ersten Teil berichteten als Gastreferenten Maren Trümper und Daniel Konnemann von den Erfahrungen der Exodus-Gemeinschaft in Hannover, die im Frühjahr 2020 schnell und mit großer Selbstverständ­lichkeit von Gottesdiensten vor Ort zu digitalen Formaten übergegan­gen war. Während die Gruppe von aus einer Jugendkirche „herausge­wachsenen“ jungen Erwachsenen und Familien sonst monatlich mit­einander Gottesdienst feiert und dabei in verschiedenen Kirchenge­bäuden zu Gast ist, nutzte man nach Beginn der pandemiebedingten Kontaktbeschränkung zunächst einen Livestream via Twitch und fand dann in Videokonferenzen das passende Medium. Ebenso wie in einem noch unbekannten Kirchenraum habe man auch im Konferenzraum der Plattform Zoom die Möglichkeiten und Grenzen des Raumes erkundet und genutzt, um damit Gottesdienste zu gestalten, die von der Gemein­schaft als erfüllend empfunden werden. Die dafür wichtigen Elemente – Bezug zum Leben der Mitfeiernden, Musik und Ästhetik, berührende Zeichenhandlungen, Beteiligung – sind auch im Digitalen realisierbar. Der Zoom-Gottesdienst ist für die Gemeinschaft Normalität geworden; der bisherige Kreis erweitert sich um Menschen, die so ortsunabhängig teilnehmen können. In Zukunft werden die Gottesdienste von Exodus wohl hybrid sein, um entfernte Mitfeiernde weiter einbeziehen zu können.

Die Partizipation in Vorbereitung und Durchführung ist dabei eher größer als bei den gewohnten Gottesdiensten. Manche trauen sich leichter, im Digitalen einen Part zu übernehmen (Ansprache, Segen, Anleiten einer Zeichenhandlung) als vor der am Ort versammelten Gemeinde; dadurch werden Charismen aktiviert und eingebracht.

Randgespräche und private Begegnung kamen zuerst zu kurz, dafür mussten bewusst Räume geschaffen werden (Plauderrunde nach dem Gottesdienst), damit Leben auch hier geteilt werden kann.

Sakramente fehlen derzeit durch den konsequenten Wechsel ins Digi­tale – neben dem Verzicht auf die Eucharistie bedeutet das z. B. einen „Taufstau“ –, aber Sakramentalität im Sinn von sinnlich-symbolischer Erfahrbarkeit der Nähe Gottes ist auch digital erlebbar durch Rituale bzw. Zeichenhandlungen, etwa Agapefeiern, die bei Exodus vorher schon vertraut und eingeübt waren. Hierbei werden häufig Alltags­gegenstände, die die Mitfeiernden jeweils zur Hand haben, eingesetzt.

Exodus hat manches vom „anderen Ort“ Internet gelernt – die Erfah­rung online hat zur Entwicklung der Gemeinschaft beigetragen. Inspiration durch und Kooperation mit anderen Angeboten ist leicht und ortsunabhängig möglich.

Exodus liegt als private Initiative quer zur pfarreizentrierten (und damit territorialen) kirchlichen Struktur und trägt sich im Wesentlichen selbst aus tätigen und finanziellen Beiträgen der Mitglieder. Das ist herausfor­dernd (z. B.: „Dürfen wir als Nicht-Pfarrei trauen, taufen, firmen?“), bietet aber auch Chancen, beispielsweise eigene Leitungsformen und Entscheidungsprozesse zu finden.

Die Beauftragten aus den Bistümern legten vergleichbare Erfahrungen aus ihren digitalen Angeboten dazu. Ein wesentlicher Punkt der folgen­den Diskussion war die Feststellung, dass das Internet als interessanter Ort, von dem für die Pastoral gelernt werden kann und der als „anderer Ort“ pastorale Chancen bietet, auf den Leitungsebenen der Bistümer nur wenig im Blick ist – ebenso wenig wie eine den gewohnten Rahmen sprengende Gemeinschaft wie Exodus. Digitale Angebote gelten als Spielwiese, die nicht recht zu der territorialen Pfarreistruktur passt, auf die sich die Pastoral nach wie vor konzentriert. Selbst erfolgreiche, inno­vative Projekte, deren Erfahrungen zur Kirchenentwicklung insgesamt sicher einiges beitragen könnten, werden vielfach auch im eigenen Bistum nicht gesehen und kaum unterstützt. Die Corona-Zeit hat zwar positive Erfahrungen im Digitalen gebracht, aber angesichts notwendi­ger Einsparungen geht es nun dennoch eher darum, möglichst viel vom Vertrauten wiederherzustellen und zu bewahren, als darum, neue Chancen zu nutzen. Was digital in dieser Zeit entwickelt wurde und durchaus weiterlaufen könnte (und sollte), steht oft mangels Ressour­cen vor dem Aus. Bündelung und damit Synergien fehlen. Die EKD ist den katholischen Bistümern in vielen Punkten offenbar deutlich voraus, da die Leitungsebene hinter der Idee #digitalekirche steht und Ressour­cen dafür bereitstellt.

Die Erfahrungen von 2020/21 zeigen auf, dass das bekannte Argument der Niederschwelligkeit digitaler Angebote nach wie vor gilt. Zudem ist digital eine große Vielfalt an Stilen, Ästhetiken und Spiritualitäten orts­unabhängig erreichbar, die vor Ort nur selten möglich ist. Es fällt den kirchlichen Leitungsebenen meist schwer, aus Nutzer:innensicht zu denken und mit Kontrollverlust (der ohnehin geschieht!) umzugehen – etwa manche (territorial gesehen) „eigenen“ Nutzer:innen gehen zu lassen und andererseits „andere“ zu begrüßen. Sowohl im Digitalen wie auch in anderen Freiräumen geschieht z. B. liturgische und spirituelle Selbstermächtigung der Gläubigen, die theologisch angezeigt und ange­sichts der schwindenden Zahlen und Ressourcen notwendig ist, aber dennoch sowohl im analogen wie im digitalen Kontext Widerstand hervorruft. Fragen nach Leitungsverständnis, Partizipation, Begabung und Sendung der Gläubigen oder auch Sakramentalität und Konfessio­nalität stellen sich zunehmend in der Pastoral allgemein und begegnen im digitalen Kontext noch einmal zugespitzt. Die Erfahrungen aus den digitalen Angeboten können zur Kirchenentwicklung insgesamt beitragen.

Es ist heute notwendig, Digitales und das vertraute Analoge zusammen zu sehen, nicht getrennt; ein Sowohl-als-auch zu fördern; in beiden Kontexten Selbstverantwortung zu begrüßen und Kontrollverlust zu akzeptieren. Das Digitale ist keine fremde, feindliche oder zumindest defizitäre (Sonder‑)​Welt, sondern „einfach nur ein anderer Ort“ in der einen Wirklichkeit, in der wir leben, an dem ebenso wie an allen ande­ren Orten Gottes „ICH BIN DA“ gilt. Das Digitale sollte in allen pastora­len Bereichen mitgedacht, nicht als Sonderaufgabe betrachtet werden.

Da der Begriff „Internetseelsorge“ erfahrungsgemäß immer noch sehr mit der Vorstellung einer Sonderform des beratenden und begleitenden 1:1-Seelsorgekontakts (analog zur „Telefonseelsorge“) verbunden ist, schlagen die Beauftragten vor, mit Blick auf das viel weitere Feld der digitalen Möglichkeiten in der Pastoral den Begriff „Digitalpastoral“ zu nutzen. Die Rolle der diözesanen Beauftragten wandelt sich: Stand bis­her die Verantwortung für ein zentrales pastorales Internetangebot der Diözese im Vordergrund, braucht es nun, wo es eine Vielzahl von pasto­ralen Akteur:innen in digitalen Kontexten gibt, eher Personen, die ver­netzen, konzipieren, beraten, unterstützen, die Leitungsebenen infor­mieren und Anwaltschaft für das Thema Digitalpastoral übernehmen.

Die nächste Konferenz soll am 1. und 2. Juni 2022 wieder digital statt­finden; ein Tag ist als offen ausgeschriebene Tagung zu einem Thema der Digitalpastoral geplant, ergänzt durch den fachlichen Austausch im kleineren Kreis. Zuvor gibt es am 4. Oktober 2021 und am 2. Februar 2022 die Möglichkeit zu einem jeweils etwa zweistündigen „Stamm­tisch Digitalpastoral“, ebenfalls per Videokonferenz (bei Interesse, daran teilzunehmen, bitte Mail an imbsweiler@remove-this.kamp-erfurt.de).