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Kirchenaustritte seit 2018: Wege und Anlässe

Eine bundesweite Repräsentativbefragung des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der EKD

Das vergangene Jahr war für die katholische Kirche in Deutschland ein Rekordjahr: Fast 360.000 Menschen sind 2021 aus ihr ausgetreten – deutlich mehr als jemals zuvor, und nach allen Signalen zeigt der Trend weiter nach oben. Zuvor war schon 2019 hinsichtlich der Austritte sowohl aus der katholischen als auch der evangelischen Kirche ein Rekordjahr: In der katholischen Kirche war damals mit über 272.000 Austritten die mit Abstand bislang höchste absolute Zahl an Austritten zu verzeichnen; nur zweimal vorher hatte die Zahl über der Marke von 200.000 gelegen (2014: 217.000 und 2018: 216.000). Auch 2020 wurde mit 221.000 Austritten diese Schwelle wieder erreicht, wobei dieser Wert pandemiebedingt nur eingeschränkt aussagekräftig ist. Auch für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) stellte 2019 eine (bisherige) Austrittsspitze mit über 266.000 Austritten dar, die mit 280.000 Austritten im Jahr 2021 noch übertroffen wurde. Die Austrittszahl von 2019 war zwar nicht der absolut höchste Wert (infolge der Übernahme des westdeutschen Kirchensteuersystems in den ostdeutschen Bundesländern gab es zu Beginn der 90er Jahre bereits sehr hohe Austrittszahlen mit einer Spitze von 361.000 im Jahr 1992; 2014 waren es schon einmal 270.000 Austritte), jedoch ergab dies die bis dahin höchste gemessene Austrittsquote (der Anteil der Ausgetretenen an der Gesamtzahl der Kirchenmitglieder) von fast 1,3 %; in der katholischen Kirche betrug die Austrittsquote 2019 1,2 %. 2021 steigerte sich die Austrittsquote weiter, in der katholischen Kirche auf fast 1,7 %, in der evangelischen auf 1,4 %.

Vor dem Hintergrund der (bisherigen) Austrittsspitze 2019 führte das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD 2020/21 eine bundesweite, repräsentative Studie zu Kirchenaustritten mit 1.500 Befragten durch, der eine qualitative Teilstudie in Form von Fokusgruppen vorgeschaltet worden war. Dabei wurden zu gleichen Teilen aus der katholischen bzw. aus der evangelischen Kirche Ausgetretene befragt. 1.000 Personen waren seit 2018 aus der Kirche ausgetreten, bei 500 Personen lag der Austritt vor 2018, teils schon viele Jahre oder Jahrzehnte zurück. So ergibt sich eine interessante Vergleichsmöglichkeit zwischen den vor der Veröffentlichung der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland und den danach Ausgetretenen.

Zunächst wird nach der Relevanz konkreter Austrittsanlässe gefragt. Dazu antwortet eine Mehrheit, dass es eine schon länger zurückliegende Entscheidung gegeben habe, die nur noch nicht in die Tat umgesetzt worden war (bei den nach 2018 Ausgetretenen 70 % der vormals Evangelischen und 63 % der vormals Katholischen). Konkrete Anlässe benennt jeweils nur eine Minderheit, wobei dieser Anteil mit 37 % bei den vormals Katholischen deutlich größer ist als bei den vormals Evangelischen mit 24 %. Von der Nutzung einer guten Gelegenheit zum Kirchenaustritt sprechen jeweils nur 13 %. Die Nennungen für einen konkreten Anlass steigen mit zunehmendem Alter an, während die Nutzung einer guten Gelegenheit von den Jüngeren häufiger angegeben wird. Diejenigen, die auf einen konkreten Anlass hin austreten, weisen im Durchschnitt eine höhere Verbundenheit mit der Kirche auf als diejenigen, bei denen die Entscheidung schon länger zurückliegt bzw. sich eine gute Gelegenheit zum Austritt ergeben hat – auch wenn dieser Mittelwert unterhalb der theoretischen Mitte der Skala liegt. Offenbar fungieren konkrete Anlässe eher für diejenigen als Auslöser der Austrittsentscheidung, die sich mental noch nicht völlig von der Kirche abgekehrt haben.

An vorderster Stelle der Anlässe wird „Kindesmissbrauch“ genannt (vormals Evangelische: 41 %/​vormals Katholische: 79 %) sowie „Skandale um die Verschwendung finanzieller Mittel“ (39 %/​61 %), bei den vormals Katholischen zudem „Ablehnung von Homosexuellen in der Kirche“ (63 %). Klare Mehrheiten bei den vormals Katholischen stehen also (allerdings beträchtlich ausfallenden) Minderheiten bei den vormals Evangelischen gegenüber. Zu den weniger häufig genannten Anlässen gehören „Unterstützung von Geflüchteten (z. B. Rettungsschiff im Mittelmeer)“ (18 % der vormals Evangelischen/​9 % der vormals Katholischen) und „Zulassung gleichgeschlechtlicher Trauungen in der Kirche“ (9 %/​17 %). Die Nennung von Skandalen bei den vormals Katholischen geht übrigens mit einer stärkeren kirchlichen Verbundenheit zur Zeit des Kirchenaustritts einher, während sie unter den vormals Evangelischen eher den besonders ‚Kirchenfernen‘ zur Untermauerung der Austrittsentscheidung dient.

Im Zeitvergleich vor/​seit 2018 haben besonders bei den vormals Katholischen die drei meistgenannten Anlässe stark an Bedeutung gewonnen (Zuwachs in %-Punkten: Kindesmissbrauch 44, Finanzskandale 31, Ablehnung von Homosexuellen 42). Nach einer groben Überschlagsrechnung sind diese drei Gründe ausschlaggebend für etwa 30 % der Austritte aus der katholischen Kirche im Jahr 2019 (ca. 90.000 Austritte); in der evangelischen Kirche sind es (unter Hinzunahme von „Unterstützung für Geflüchtete“) etwa 15 % (ca. 40.000 Austritte). Die kirchlichen Skandale dürften also erheblich zur bisherigen Austrittsspitze im Jahr 2019 beigetragen haben, v. a. in der katholischen Kirche. Der anhaltende Trend zu einem höheren Niveau von Kirchenaustritten wird sich aber wohl auch unabhängig von diesen Gründen auch in Zukunft kaum ändern, da die überwiegende Mehrheit der Austritte ohne Bezug auf diese Anlässe/​Skandale vollzogen wird.

Die Mehrheit der Austritte ist eher mit einer zunehmenden allgemeinen Entfremdung von der Kirche im Rahmen übergreifender Säkularisationsprozesse zu erklären. Darauf weist auch die Analyse der weiterreichenden Gründe, die als Hintergrund für die Austrittsentscheidungen genannt werden. Dabei kristallisiert sich faktorenanalytisch eine offenbar überdauernde Dimension heraus, die als persönliche Irrelevanz von Religion und Kirche bezeichnet werden kann und frühere Untersuchungen zu Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber Religion, Glaube und Kirche bestätigt. Bei den vormals Evangelischen gehört zu dieser Dimension besonders der Aspekt der Ersparnis der Kirchensteuer, der mit 71 % die Gründe zum Austritt anführt. Damit bestätigt sich die geläufige Figur des Kosten-Nutzen-Kalküls zur Kirchenmitgliedschaft, nach der bei einer fehlenden oder abnehmenden religiös-kirchlichen Bindung die Kirchensteuer als Kostenfaktor bewusst wird und über kurz oder lang der Austritt wahrscheinlich(er) wird.

Der konfessionelle Vergleich ergibt, dass die vormals Evangelischen ihre fehlende kirchliche Einbindung stärker betonen als die vormals Katholischen und damit ihre eigene handlungspraktische Kirchenferne stärker in den Vordergrund rücken; die vormals Katholischen richten ihren Blick stärker auf ein Versagen der Kirche. Damit ist eine weitere Dimension beschrieben, die sich auf ein Versagen der Kirche hinsichtlich ihrer eigenen Ansprüche, aber auch im Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen bezieht: Die Zustimmung der vormals Katholischen ist besonders hoch bei der wahrgenommenen Unglaubwürdigkeit der Kirche (85 %), der mangelnden oder fehlenden Gleichstellung der Frauen (79 %) sowie der Ausrichtung an Werten, die an den Gegebenheiten in der modernen Gesellschaft vorbeiläuft (72 %).

Genauer wird nach der Bedeutung der Kirchensteuer beim Kirchenaustritt gefragt. Dabei stehen finanzielle Aspekte weniger im Vordergrund, wichtiger sind generalisierende Bewertungen (Kirchensteuer als Zwangsabgabe, mangelnde Transparenz bei der Mittelverwendung) bzw. die schon erwähnten Kosten-Nutzen-Abwägungen, die für 55 % der vormals Evangelischen und 62 % der vormals Katholischen von hoher Bedeutung sind. Eine zeitweise Verminderung oder Aussetzung der Kirchensteuer hätte nur marginalen Einfluss auf eine Revision der Austrittsentscheidung. Die Kirchensteuerzahlung eignet sich daher bei den meisten nicht als Stellschraube, um den Entschluss zum Kirchenaustritt zu verhindern. Das Problem scheint vielmehr in der mangelnden oder fehlenden individuellen Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft zu liegen, die sich aber kaum herstellen lässt, wenn es keine religiös-kirchlichen Bezüge gibt.

Schließlich untersucht die Studie Aspekte der religiös-kirchlichen Sozialisation, die offensichtlich eine hohe Bedeutung für die weitere Entwicklung der persönlichen Religiosität und Beziehung zur Kirche hat. Dabei werden konfessionsbezogene Unterschiede deutlich: Bei den vormals Evangelischen zeigt sich eine über die Generationenfolge nachlassende Religiosität hin zu einem aktuell ganz überwiegend nicht mehr religiösen Selbstbild. Schon in der Kindheit ist z. B der Gottesdienstbesuch meist auf punktuelle Erfahrungen begrenzt. Bei den vormals Katholischen ist zwar ebenfalls der Trend des Nachlassens der Religiosität über die Generationen hinweg zu erkennen, jedoch wird die eigene Erziehung mehrheitlich als ziemlich bzw. sehr religiös und der Gottesdienstbesuch als regelmäßig erinnert. Im aktuellen Selbstbild als überwiegend nicht religiös gibt es aber keinen Unterschied mehr zu den vormals Evangelischen. Somit scheint sich bei den vormals Katholischen in der weiteren Entwicklung nach der Kindheit ein Bruch in der Religiosität vollzogen zu haben oder scheinen jedenfalls die Prägungen der Kindheit nicht überdauert zu haben.

 

Petra-Angela Ahrens, Kirchenaustritte seit 2018: Wege und Anlässe. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung (SI-Studien aktuell 1), Baden-Baden 2022; Open-Access-PDF kostenfrei erhältlich.