Kirche macht Schluss
Exnovation in der Diözese Graz-Seckau – Lernerfahrungen und nächste Schritte
Der Beginn: das Zukunftsbild der Katholischen Kirche Steiermark
„In einer sich rasant wandelnden Gesellschaft müssen sich Werkzeuge und Methoden verändern, damit das Evangelium so verkündet werden kann, dass es die Menschen erreicht und bewegt. Dabei stehen verstärkt jene Menschen im Mittelpunkt, die selten oder gar keinen Kontakt zur Kirche haben. Die katholische Kirche in der Steiermark setzt auf Veränderung und Weiterentwicklung, auf Experimente und Innovation. Dazu gehört auch eine Kultur des Loslassens und Abschiednehmens von manch Liebgewordenem.“
(Diözese Graz-Seckau 2019, 25)
„Innovation, entsprechend den Zeichen der Zeit, ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit in allen Wirkungsbereichen. – Aufgaben, Leistungen etc., die nicht (mehr) dem Auftrag der Kirche und der konkreten Situation bzw. den Menschen vor Ort entsprechen, werden aufgegeben.“
(Diözesanes strategisches Ziel, 13)
2017 startete mit dem Amtsantritt des neuen Diözesanbischofs Wilhelm Krautwaschl ein breit angelegter Kirchenentwicklungsprozess. Damit wurde ein inhaltlicher und struktureller Rahmen gesetzt, wie sich die Katholische Kirche Steiermark bis zum Jahr 2035 weiterentwickeln möchte. Seelsorgeräume wurden ebenso eingeführt wie Modelle gemeinsam verantworteter Leitung auf allen Ebenen. Zur Bearbeitung strategisch relevanter Zukunftsthemen wurden Netzwerke implementiert und Prozesse – und damit Verantwortlichkeiten – näher bzw. neu beschrieben.
Inhaltliches Herzstück der steirischen Kirchenentwicklung ist das Zukunftsbild. Davon abgeleitet wurden diözesane strategische Ziele für den Zeitraum 2019–2025, die für alle Bereiche – und damit für Haupt- und Ehrenamtliche – verbindlich sind. Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Exnovation – also dem Beenden und Sichverabschieden von Liebgewordenem, weil es nicht (mehr) dem Auftrag der Kirche und der konkreten Situation entspricht – ist dabei eines der erklärten Ziele. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Raum für Neues nur dort wirklich entsteht, wo auch der Mut vorhanden ist, sich von Bisherigem zu trennen. Andernfalls läuft das, was neu werden möchte, Gefahr, ein ständiges Plus oder Nice-to-have zum fordernd erlebten „Alltagsgeschäft“ zu werden oder dem nächsten Einsparungsprozess als Erstes zum Opfer zu fallen.
Die Rede von Exnovation war zu diesem Zeitpunkt im kirchlichen Bereich noch relativ neu. Weder gab es eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Themenfeld noch Methoden oder gelungene Beispiele, von denen ein erstes Lernen möglich war. Gespräche mit Verantwortungsträgern aus gewinnorientierten Unternehmen über deren Erfahrungen mit Exnovationsprozessen sorgten für großes Erstaunen auf deren Seite über unsere Anfrage, denn: Erzielt dort ein Produkt nicht den gewünschten Erfolg beim Kunden, wird es vom Markt genommen und größtenteils durch ein vielversprechenderes Produkt ersetzt. Neues einzuführen und Bestehendes, das sich nicht bewährt, vom Markt zu nehmen, gehören im wirtschaftlichen Sektor zum Tagesgeschäft und bilden selbstverständliche Prozesse. Innovation und Exnovation sind Schlüsselprozesse, die über Sein oder Nichtsein eines Unternehmens entscheiden. Im kirchlichen Bereich ist deren strategische Bedeutung bis zum heutigen Zeitpunkt im Vergleich dazu noch viel zu wenig erkannt.
Die Macht des Wortes „noch“
Wie kann das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Exnovation in der Diözese unterstützt und gefördert werden? Kann – analog zur Einführung eines diözesanen Innovationsprozesses – ein strategischer Exnovationsprozess entstehen? Diese Fragen bildeten den Anfang der ersten Überlegungen. Dabei wurde schon nach kurzer Zeit aus ersten Rückmeldungen klar, dass die Entwicklung und Einführung eines Exnovationsprozesses für die Gesamtorganisation wenig Erfolgschancen hat, solange das Feld dafür noch nicht bereitet ist.
Dabei sei an dieser Stelle auf die Bedeutung des Wortes „noch“ im kirchlichen Bereich hingewiesen. Auffällig oft taucht es in Gesprächen auf wie z. B. „Auch wenn die Arbeit immer mehr wird: Noch haben wir genügend Haupt- und Ehrenamtliche. Irgendwie schaffen wir es noch“. „Noch“ steht im kirchlichen Kontext meist für die Hoffnung, dass es vielleicht ja doch wieder so werden könnte, wie es früher angeblich einmal gewesen war. Wer genau hinhört, merkt auch, dass zwischen den Zeilen eine Ahnung und so manche Befürchtungen vor zu erwartenden Veränderungen durchklingen: es nicht mehr zu schaffen oder als wichtig eingeschätzte Aufgaben oder Angebote nicht mehr abdecken zu können. Bei aller verständlichen und auch notwendigen Wertschätzung für das Bewährte und Bestehende scheint der Blick dabei vor allem in die Vergangenheit gerichtet zu sein und auf ein Bild von Kirche, die es in dieser Form vielleicht gar nicht gegeben hat. Beenden und Loslassen sind im kirchlichen Bereich anscheinend derzeit stärker mit der Angst vor dem Verlust dessen verbunden, woran das Herz hängt, als mit Lust und Freude zur Zukunftsgestaltung. Kritisch zu hinterfragen ist an dieser Stelle, ob die wahr- und ernstzunehmenden (!) Verlustängste in Kirche wirklich eine fundierte Grundlage haben oder ob das, was befürchtet wird, sich in Wahrheit nicht eigentlich schon längst vollzogen hat, z. B. die abnehmende Relevanz von Kirche oder das Zum-Ende-Kommen manch bewährter Formen und Weisen des Kircheseins.
In der ersten Beschäftigung mit Exnovation in der Diözese wurde klar: Aufhören und Beenden brauchen nicht nur eine Verbindung zu Innovation. Ebenso wichtig ist das Sichtbar- und Erfahrbarmachen von Formen und Weisen des Kircheseins, die nach Zukunft riechen. Kirche in Zukunft wird nicht besser oder schlechter sein als bisher, sondern einfach anders. Will Exnovation in den Diözesen und Landeskirchen gelingen, braucht es dringend anziehende Bilder und Erfahrungen von Zukunftsgestalten von Kirche, die sich nicht am Immer-weniger orientieren, sondern Zugkraft entwickeln können in der Beantwortung der Frage: Wofür soll ich etwas aufhören? Lern- und Inspirationsreisen zu katholischen und evangelischen Initiativen erweisen sich dazu als gute Möglichkeit und Motivationsquelle.
Exnovation konkret: erste Schritte
Aus diesen Beobachtungen ergaben sich erste Schlüsselstellen für die Beschäftigung mit Exnovation im diözesanen Kontext:
- Beschäftigung mit dem Wozu: Die Auseinandersetzung mit dem persönlichen bzw. dem gemeinsamen Wozu einer Gruppe macht die innere Motivation für Beendigungen sichtbar und stellt damit wohl einen der größten Treiber kirchlicher Veränderungsprozesse dar. Als gute methodische Herangehensweise erwies sich dabei u. a. die Arbeit mit dem Goldenen Zirkel von Simon Sinek.
- Erarbeitung von Erkennungsmerkmalen: Diese geben eine Hilfestellung, um den richtigen Zeitpunkt zum Beenden zu erkennen und Exnovationspotentiale zu identifizieren. Dabei gibt eine ursprünglich aus dem Nachhaltigkeitssektor stammende Definition die Richtung vor. Diese beschreibt Exnovation als Zurücknahme oder Abschaffung dessen, was nicht mehr wirksam ist oder nicht mehr mit der Strategie übereinstimmt.
- Umgang mit Emotionen: Vieles von dem, was im kirchlichen Bereich aufgegeben wird, wurde von Menschen mit großem Engagement erarbeitet und getragen. Es gehört menschliche Größe dazu, die eigene Idee oder den eigenen Identifikationsort gehen zu lassen. Das zu verabschieden, wo viel persönliches Herzblut hineingeflossen ist, ist mit unterschiedlichsten Gefühlen verbunden, die in Exnovationsprozessen Berücksichtigung finden müssen. Die inhaltliche Erschließung der Trauerphasen nach Kübler-Ross liefert hier wichtige Inspirationen.
- Erarbeitung von Wertschätzungs- und Abschiedsritualen: Diese eröffnen einen Raum, in dem etwas gut und würdig zu einem Abschluss kommen kann. Die Zur-Verfügung-Stellung von entsprechenden Ritualen zu unterschiedlichen Anlässen in Zusammenarbeit mit einer Kollegin aus der Ritualbegleitung stellt ein weiteres wesentliches Element in der diözesanen Implementierung von Exnovation dar. Diese „Loslass-Rituale“ werden auf der diözesanen Website laufend ergänzt und so Interessierten zugänglich gemacht.
Das Erzählen von gelungenen Geschichten des Loslassens und Neubeginnens im Podcastformat, Workshoptage zur Beschäftigung mit dem nötigen Mindset und zum Erproben hilfreicher Methoden wie auch die Möglichkeit zur Begegnung mit anderen Unternehmen, die eine Geschäftsidee beenden mussten, bildeten weitere Elemente.
Als sehr hilfreich im Rückblick erweist sich weiters die inhaltliche Verankerung der Zuständigkeit für Exnovation. In der Diözese Graz-Seckau liegt diese im Prozessbereich Innovation & Entwicklung und erfolgte im Laufe des Kirchenentwicklungsprozesses. Diese Zuordnung hilft, Exnovation vorzudenken, wachzuhalten und notwendige Maßnahmen (wenn auch manchmal mühsam) voranzutreiben.
Der Weg hin zu einem strategischen Exnovationsprozess: Lernerfahrungen und Ausblick
Mit 2025 kommt die erste Periode der Arbeit mit den diözesanen strategischen Zielen zum Abschluss. Im Zukunftsbild haben wir uns als Katholische Kirche Steiermark dem Selbstverständnis als lernende Kirche verschrieben, die ihr Handeln regelmäßig prüft und dementsprechend zu Veränderungen bereit ist, damit sie ihrem Auftrag immer besser entsprechen kann.
Exnovation ist in der Zwischenzeit kein Fremdwort mehr und das Bewusstsein dafür in ganz kleinen Schritten gewachsen. Gefühlt stehen wir dennoch erst am Anfang der Implementierung eines strategischen Exnovationsprozesses für die Gesamtorganisation.
Einen wichtigen Meilenstein dafür setzte im April 2025 die Diözesankonferenz, ein weiteres wichtiges Element aus dem Kirchenentwicklungsprozess. Diese findet alle fünf bis sieben Jahre statt und wurde als beratende Versammlung für den Bischof eingerichtet. Im Miteinander verschiedenster Personen aus der ganzen Steiermark entwickelt diese Konferenz die großen Linien des gemeinsamen Weitergehens von Katholischer Kirche Steiermark auf Basis des Zukunftsbildes und unter Berücksichtigung relevanter Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche. Die daraus entstandenen sogenannten Richtungsaussagen bilden nach bereits erfolgter Freigabe durch den Diözesanbischof die Basis für die Erstellung der nächsten diözesanen strategischen Ziele für die Jahre 2026 bis 2030. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels befinden sich diese Ziele gerade in Erarbeitung und Resonanz. Nach voraussichtlicher Freigabe im Februar 2026 bilden diese wiederum die verbindliche Grundlage für die Erarbeitung von z. B. Bereichsstrategien und Pastoralplänen.
In den Richtungsaussagen der Diözesankonferenz wird die Bedeutung von Exnovation für die nächsten Jahre erkannt und die weitere Vorgehensweise festgelegt:
„Es gibt in der Katholischen Kirche Steiermark ein gemeinsames Verständnis von Loslassen im Sinne einer bewussten Entscheidung dafür, was aktiv beendet werden soll. Dabei besteht bei der Mehrheit der Haupt- und Ehrenamtlichen das Bewusstsein, dass Prozesse und Maßnahmen zum Loslassen für die Transformation der Kirche notwendig sind. Regelmäßig (mindestens einmal pro Jahr) hinterfragen und evaluieren alle Haupt- und Ehrenamtlichen die Tätigkeiten und beenden auf Basis von definierten Entscheidungskriterien, was sich nicht mehr bewährt. Strategien und Maßnahmen des Beendens werden von den Führungsebenen kompetent und konsequent umgesetzt. Menschen werden im emotionalen Prozess des Loslassens begleitet.“
(Katholische Kirche Steiermark, Strategische Richtungsaussagen, 2025, 5)
Damit ist für die Entwicklung und Einführung eines diözesanen Exnovationsprozesses ein wichtiger Schritt getan. Ziel ist, dass dieser Prozess in den nächsten beiden Jahren mit Verantwortlichen aller wichtigen Bereiche (Seelsorge, Bildung, Wirtschaft; Personen aus Kirche vor Ort und Bischöflichem Ordinariat) gemeinsam auf den Weg gebracht wird.
Parallel dazu starten 2026 mehrere „Aufhörlabore“. Diese geben Haupt- und Ehrenamtlichen an unterschiedlichen Orten in der Steiermark die Möglichkeit, Ideen und konkrete Schritte zur Beendigung von Aufgaben, Projekten usw. für den kirchlichen Kontext allein oder im Team zu entwickeln und in weiterer Folge auch umzusetzen.
Wer A sagt, muss auch …
Zu Exnovation ist in den letzten Jahren im und aus dem kirchlichen Bereich viel entstanden. Mittlerweile gibt es tolle Grundlagenwerke (vgl. z. B. diese Rezension) und umfassende Methodensammlungen für die Praxis. Unterschiedlichste Berechnungen und die Erarbeitung von wirtschaftlichen Zukunftsszenarien sind in vielen Landeskirchen und Diözesen (so auch in Graz-Seckau) gang und gäbe. Man könnte sagen: Eigentlich liegt zu Exnovation doch alles auf dem Tisch. Erste Maßnahmen werden da und dort ergriffen. Diese reichen jedoch bei weitem nicht aus: Zu groß sind die Um- und Abbrüche.
Wer Exnovation sagt, muss auch: Entscheidungen treffen. Dies scheint derzeit in vielen kirchlichen Veränderungsprozessen der springende Punkt zu sein. Entscheidungen zu treffen, gerade wenn es um das Beenden von Liebgewonnenem geht, bringt den Verantwortlichen meist weniger Lob und Wertschätzung als eher Kritik und Widerstand ein. Diese Reaktionen in Verbindung mit der eigenen Angst, falsche Entscheidungen in einer Führungsverantwortung zu treffen, führen viele Beschäftigungen mit Exnovation derzeit noch ins Leere.
Ebenso wie es inspirierender Formen des Kircheseins von morgen bedarf, braucht es den Mut und die Befähigung von Leitungspersonen, auf den unterschiedlichen kirchlichen Ebenen – gemeinsam mit anderen – Entscheidungen zu treffen, was beendet werden muss (und manchmal auch darf). Hier ist noch viel Luft nach oben und großer Handlungsbedarf.
Es ist an der Zeit, Loslassen und Beenden nicht als vermeintliches Schreckgespenst wahrzunehmen, sondern selbst zu (Wieder‑)Entdecker/innen einer großen Stärke von Kirche zu werden: dass nämlich Neubeginn und Abschiednehmen immer schon in deren DNA liegen. Ohne diese Fähigkeit, das Evangelium der jeweiligen Zeit und den Menschen entsprechend in Beziehung zu bringen, und die dem zugrundeliegende Veränderungsbereitschaft hätte es die Botschaft des Christentums wohl kaum bis ins Jahr 2025 geschafft.
