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Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen

Wer sich mit einem der sensibelsten und zugleich dringlichsten Themen im kirchlichen Kontext beschäftigen will, findet in Sr. Marie-Pasquale Reuvers Buch „Missbrauchsbetroffenen in Kirche und Gemeinde sensibel begegnen“ eine wertvolle Orientierung. Trotz des Anspruchs, kein Fachbuch (vgl. 11) zum Thema sexualisierte Gewalt sein zu wollen, bietet Sr. Marie-Pasquale durch die Kombination von Beispielen und praxisnahen Handlungsempfehlungen eine fundierte und zugleich zutiefst menschenzugewandte Orientierungshilfe.

Die Autorin gibt als erfahrene Seelsorgerin den oft verborgenen Stimmen der Betroffenen Gehör und richtet sich an all diejenigen, die im Alltag mit den Folgen sexualisierter Gewalt konfrontiert sind. Das Buch ist kein Ratgeber für institutionelle Schadensbegrenzung, sondern ein Appell, Räume zu eröffnen, in denen Heilung möglich wird.

Das Buch besteht aus fünfzehn Kapiteln, die sich jeweils einem Aspekt des Umgangs mit Betroffenen widmen. Die Beispiele zeigen, wie wichtig ehrliches und wertschätzendes Zuhören ist und „… mehr im anderen zu sehen als die Betroffenheit von Missbrauch“ (69). Es geht zu Beginn darum, was Betroffene nach Traumatisierungen erleben, aber auch was Tabuisierungen des Themas zur Konsequenz haben (vgl. Kapitel 3 und 4). Im Hinblick auf den Glauben der Betroffenen lassen sich häufig das Gefühl des Verlassenseins und des mangelnden Beistands als Folgen des Missbrauchs benennen (108 f.). Bestimmte Gottesbilder, z. B. die Frage nach der Allmacht Gottes (117 f.), sollten in diesem Fall vermieden werden bzw. es sollten andere, passendere angeboten werden, z. B. weibliche oder apersonale Gottesbilder (Gott als „Kraft“, „Schöpfungsmacht“ oder als „die Ewige“; vgl. 125)

Sr. Marie-Pasquale setzt sich für eine Kultur des Dialogs ein, indem sie die Bedeutung von Transparenz, sensibler Sprache und transparenten Gemeindestrukturen betont, die durch „Schweigebruch“ (52) u. a. das Thema Prävention voranbringen. Besonders wichtig ist dabei ihr klarer Verzicht auf Floskeln und die Aufforderung, Schweigen nicht zuzulassen. Ihre Sprache ist kein sanftes Plädoyer, sondern ein präziser Angriff auf Gleichgültigkeit, Verschweigen und Verharmlosung sowie mangelnde Transparenz – Themen, die oft übersehen werden.

Das Buch ist nie abstrakt, sondern nah am Alltag und voller Respekt für die Betroffenen als „Überlebende“ (52), die zur Selbstermächtigung ermutigt werden sollen. „Es braucht unzählige Erfahrungen, dass eigenes Verhalten die Macht hatte, etwas zu verändern und zu gestalten, um die Ohnmachtserfahrungen zu überschreiben“ (103). Die Dekonstruktion von Machtgefällen stellt dabei eine Notwendigkeit dar, auch auf der Ebene des Ehrenamtes, z. B. durch eine Sichtbarmachung unterschiedlicher Menschen innerhalb der Liturgie oder in Gremienstrukturen.

Sr. Marie-Pasquale Reuver schafft mit diesem Buch eine Verbindung zwischen persönlichen Erfahrungen und seelsorglicher Arbeit, vor allem in der Gemeindearbeit. Ihre klare und menschliche Sprache macht das Buch zu einem wichtigen Leitfaden – aus Sicht der Rezensentin vor allem – für kirchliche Verantwortungsträger, denn sie schreibt aus der Praxis heraus, nicht aus dem Elfenbeinturm, nicht aus der Distanz der Theorie. Sie appelliert an alle, die in kirchlichen Strukturen leitend Verantwortung tragen, einen geschützten Raum (zur Problematik von safe spaces vgl. 86–91) für Heilungsprozesse und Anerkennung zu schaffen.

Sr. Marie-Pasquale liefert eine unbequeme Wahrheit, zeigt aber Möglichkeiten auf, wie gerade der Glaube und das Entwickeln einer heilsamen Spiritualität (150 f.) eine Ressource für den:die Einzelne:n sein kann und wie Gemeinden eine Sprache entwickeln können, die dem Erlebten und der Lebensleistung der Betroffenen Rechnung trägt. Damit leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung pastoral-diakonischer Praxis im Umgang mit sexualisierter Gewalt und präsentiert sich als ein bedeutendes Kapitel auf diesem Weg.

Jasmin Hack