„Postparochiale Kirche“ als Arbeitsbegriff für eine umfassende Transformation
Ökumenisches Symposium zur Kirchenentwicklung tagte in Erfurt
Die Kirchen in Deutschland stehen mitten in massiven Veränderungen. Nicht nur gehen die Zahlen von Gläubigen, Hauptberuflichen und Finanzen zurück. Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), erstmalig ökumenisch durchgeführt, hat auch deutlich aufgezeigt, dass säkulare Orientierungen in Deutschland wachsen und religiöse abnehmen. All dies hat Auswirkungen nicht nur auf die Art und Weise, wie Kirchen sich lokal und auf Bistums- und Landeskirchenebene strukturieren, sondern auch, wie Glaubenspraxis und Verkündigung vor Ort gestaltet werden. Das klassische Parochial-(Pfarrei‑)Prinzip als Bezugsgröße für die Identifikation und Ansprache von „Zielgruppen“, für Verwaltung, Ressourcenzuteilung und Angebots- und Prozessplanung scheint immer weniger relevant. Aber welche Gestalt wird Kirche in der erwartbaren Minderheitensituation annehmen? Wie inklusiv oder exklusiv wird sie das religiöse und gesellschaftliche Leben (mit-)gestalten? Wen werden christliche Gemeinschaften auf welche Weise adressieren und beteiligen können?
Der Begriff „postparochial“ markiert daher nicht nur eine grundsätzliche Verschiebung im Blick auf die kirchliche Raumstruktur, so Philipp Elhaus in seiner Einführung zu einem Symposium „Postparochiale Kirche“ (Erfurt, 16. bis 18. Juni 2025). Gleichzeitig stehe die Vorsilbe post- nach Dieter Thomä für ein Wunschbild und eine Chiffre oder Projektionsfläche für etwas Neues in der kirchlichen Performanz, das sich noch nicht so richtig auf den Punkt bringen lässt.
Ein Blick in den „Rückspiegel“ mit Karl Gabriel (Münster) und Jan Hermelink (Göttingen) machte deutlich, wie massiv die Veränderungen der vergangenen 60 Jahre von einer Volkskirche über Gemeindeorientierung ab den 60er Jahren bis hin in die Gegenwart (gewesen) sind. Nach Gabriel zeigt sich zumindest für die katholische Kirche in der Krise der Parochie die Krise der Klerikerkirche. Das zweite Vatikanische Konzil habe nur zu einer „halbierten Häutung“ geführt, die Entwicklung von einer „Parochialkirche“ zu einer „Sozialkirche“ sei unvermeidlich, um Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen und als Kirche in der Zivilgesellschaft anschlussfähig zu bleiben. Hermelink bestätigte auch die evangelische als „Theologenkirche“, bei der die Pfarrpersonen zumeist im Mittelpunkt stünden. Bereits seit den 60erJahren gäbe es Bestrebungen, Kirche jenseits traditioneller Parochiestrukturen zu realisieren. In einer Situation der Ressourcenverknappung sei nun die Konkurrenz verschiedener Kirchenbilder gestiegen. Hermelink warb dafür, neu zu fragen, für welche Aufgaben eine sich verändernde Kirche lokal und regional Pfarrer:innen brauche und wie sich dieser Dienst verändern solle. In der Situation vielfältiger und pluraler Ekklesiologien (Kirchenvorstellungen) spiegelten sich gesamtgesellschaftliche Erwartungen an das religiöse System wider.
Die Veränderungsfaktoren in Gesellschaft und Kirche, zu denen die rund 85 Teilnehmenden in Projektgruppen das Gehörte weiter reflektierten, betreffen Engagementformen und demokratische Kultur, Kommunikation und Digitalität, Veränderungsdynamiken im Zusammenhang zwischen globalen und lokalen Aspekten sowie die Rolle von Kirche in Staat und Zivilgesellschaft.
Am zweiten Tag standen Kirchentheorie und aktuelle kirchliche Umbauprozesse im Mittelpunkt. Christian Bauer (Münster) und Sonja Keller (Neuendettelsau) beleuchteten aktuelle kirchentheoretische (ekklesiologische) Hintergründe. Bauer verwies auf die duale Ekklesiologie des II. Vatikanums (Sammlung und Sendung, Lumen gentium und Gaudium et spes, Komm-her- und Geh-hin-Struktur) und warb dafür, dass größere pastorale Räume einen Raum der Weite mit Orten der Nähe verbinden könnten, anstatt Räume der Ferne und Ort der Enge (Kirchturmdenken) zu sein. Keller fragte, ob Erprobungsräume, frische Ausdrucksformen von Kirche, Sozialraumorientierung etc. in der kirchentheoretischen Diskussion nicht eher Schlagworte als Konzepte seien. Post- sei eben eine Sehnsuchtsvokabel in einem Epochenwechsel. In einer Situation von Ungleichzeitigkeit und Entwicklungsoffenheit gebe es Treiber, um Ressourcenverluste zu operationalisieren, z. B. Stärkung von Kirchenbindung, Ehrenamtsarbeit, Quereinstieg, Fundraising, Immobilienprozesse etc. Modelle der Postparochie gebe es hingegen noch nicht, um verlässliche Aussage über die künftige Kirchengestalt treffen zu können.
Christiane Bundschuh-Schramm und Matthias Kreplin gaben Einblicke in die praktischen Umbaubestrebungen im katholischen Bistum Rottenburg-Stuttgart und in der evangelischen Landeskirche Badens. Auf dem Podium kamen dann noch Ludwig Jetschke, der die digitale Community „Lingualpfeife“ ins Leben gerufen hatte, Jana Petri, die in der Landeskirche Mitteldeutschlands das Projekt der „Erprobungsräume“ begleitet, sowie Miriam Zimmer vom Zentrum für Angewandte Pastoralforschung (zap) Bochum, die sich v. a. mit Fragen von Evaluation und Wirkungsmessung kirchlicher Praxis befasst, mit den beiden ins Gespräch. Ein verlässlicher, dienstleistender organisationaler Zentralrahmen erleichtere die freie und selbstverantwortliche Entwicklung von lokalen Ortsformen von Kirche. Dabei wurden aber auch die Hemmnisse deutlich, die einer solchen Entwicklung oft im Weg stehen.
In verschiedenen Workshops konnten die Teilnehmer anhand von Initiativen und neuen kirchlichen Formaten in sozialräumlicher, vernetzter, neue Lebensräume und Kooperationen in den Blick nehmender Hinsicht einen Vorgeschmack von „postparochialer Kirche“ bekommen und sich dazu austauschen. Am Ende des Tages nahm Annette Zimmer (Münster) die Teilnehmenden in ihre Gedanken zum gesellschaftlichen Strukturwandel und der veränderten Rolle von Non-Profit-Organisationen und Kirche hinein. NPOs zeigten sich heute als komplexe Hybride in der Kombination unterschiedlicher Steuerungsmechanismen, die anpassungsfähig und marktorientiert, aber nicht gewinnorientiert seien. Für NPOs und damit auch für die Kirchen müsse durch Zielsetzung, Unternehmenskultur, professionalisierte Mitgliederorganisation und gutes Führungspersonal der Kern ihrer Botschaft neu kodiert und kommuniziert werden, um als Resilienzmodell die Gesellschaft zu bereichern.
Am letzten Tag stand die Frage einer entsprechenden Steuerung (Kybernetik) dieser Prozesse im Raum. Friederike Erichsen-Wendt von der EKD (Hannover) bekannte sich dazu, dass die Nutzenden die Struktur von Kirche bestimmten. Dadurch werde das Raumparadigma unausweichlich umgebaut; es sei nicht die Frage, ob das passiert, sondern ob es aktiv gestaltbar ist. Insofern stellte sie die These auf: „Wir sind verantwortlich dafür, dass kirchliche Strukturen vergänglich sind.“ Wir müssen lernen, wie Dinge veralten (Obsoleszenz) und wie wir etwas hinter uns lassen können. Von dem gegenwartstypischen Umgang mit Verlusterfahrungen in der Gesellschaft könne die Kirche etwas lernen. Die Erzählung vom „Umbau“ kirchlicher Strukturen im Rahmen einer herkömmlichen „Fortschrittslogik“ funktioniere eben nicht mehr. Postparochial heißt nach Erichsen anzuerkennen, dass „Menschen sich nicht mehr zuordnen lassen, sondern sich selbst zuordnen“. Es brauche Lücken und Brüche, damit Beweglichkeit und produktive Ineffizienz entstünden. Gleichzeitig dürfe man nicht naiv sein; es brauche Organisation, sie sei wichtig, aber nicht hinreichend.
Valentin Dessoy (Wiesbaden) schließlich zeigte als Organisationberater eindrücklich auf, dass angesichts der Kennzahlen der Zusammenbruch der bisherigen Sozialgestalt von Kirche, ob disruptiv oder schleichend, unausweichlich ist. Viele „Reformen“ blieben in der bestehenden Organisationslogik verhaftet. Es benötige aber disruptive Veränderungen, um nachhaltige Lösungen zu finden. Ein dysfunktionales System müsse dekonstruiert werden, um in einen substantiellen Lernmodus zu kommen. Das „Wozu“ von Kirche bestehe in der kommunikativen Basis, heilende und befreiende Erfahrung in Jesus Christus präsent und sprachfähig zu halten. Dazu helfe eine unternehmerische Grundhaltung des social ecclesiopreneurship, immer wieder in die anderen Welten aufzubrechen. Das Betriebssystem (operating model) der „nächsten Kirche“ müsse – so Dessoy – in eine Form von Holding transformiert werden, die unterschiedliche und selbstverantwortliche lokale „Geschäftsmodelle“ inklusiv integrieren und unterstützen kann.
Die auf diesem Symposium im Erfurter Augustinerkloster fruchtbare ökumenische Suchbewegung zeigt, dass eine postparochiale Kirche auch postkonfessionelle Züge tragen wird. Gleichzeitig wurde durch Phasen des Bibelteilens immer wieder der Bezug zum „Warum“ der christlichen Hoffnungsbotschaft hergestellt. Die Veranstalter, die Akademie des Versicherers im Raum der Kirchen (vrk), das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD, die Forschungsstelle Missionale Kirchen- und Gemeindeentwicklung (MKG) der Universität Halle und die Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) zeigten sich für das gemeinsame Lernen und den Austausch zwischen Bistümern und Landeskirchen dankbar. Die Ergebnisse des Symposiums und weiterführende Fragestellungen werden derzeit in einer Publikation zusammengetragen, die 2026 erscheinen wird.
