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Gottesdienste der Zukunft – queere Perspektiven in der Liturgie

Was bedeutet es für Liturgie, wenn man sie aus der Perspektive queerer Menschen auf den Prüfstand stellt? Miki Maria Herrlein sensibilisiert und analysiert nicht nur, sondern entwickelt auch Perspektiven für die Praxis und stellt Werkzeuge und Bausteine vor.

1. Ein Anfang in Bildern

Es war ein stiller Moment, beinahe unscheinbar – und doch voller Kraft. Vierzig Menschen standen in einem Kirchenraum, darunter zwei Kinder. Sie wurden einzeln aufgerufen. Aber nicht wie in einem Wartezimmer: kein mechanisches „Herr Müller, bitte in Raum 5“, kein „Frau Kowalski, bitte zum Röntgen“. Sondern so, wie man Menschen eigentlich immer ansprechen könnte: Vor- und Nachname, schlicht, ohne fremde Zuweisung und vorschnelle Geschlechterzuschreibung, ohne das routinierte „Schwestern und Brüder“.

Hier war es ohnehin klar: Alle Anwesenden waren transgeschlechtlich, manche binär trans, andere nicht-binär. Namen ließen manchmal etwas von einer Geschichte vermuten, manchmal hüteten sie sie wie ein stilles Geheimnis. Doch das spielte keine Rolle. Entscheidend war: Es waren ihre Namen. Nicht die, die ihnen einst gegeben worden waren, sondern jene, die sie sich selbst geschenkt hatten – selbstgewählt, errungen, erkämpft. Namen, die zu Geschenken wurden. Namen, die Würde verliehen.

„Ich habe dich beim Namen gerufen“ – dieser biblische Zuspruch klang hier wie eine Erlösung. Zum ersten Mal war der Name nicht Last, sondern Befreiung. Der richtige Name wurde zu einem Sakrament. Tränen flossen. Lachen brach hervor. Die Luft war erfüllt von einem Gefühl, das sich kaum in Worte fassen lässt: Menschen wurden endlich gesehen.

Eine Namenssegnungsfeier beim Kirchentag – nur ein kleiner Programmpunkt, und doch größer in seiner Symbolik als manch gefeiertes Podium. Wer einmal erlebt hat, wie Menschen in ihrer Identität gesegnet werden, ahnt, wie Zukunft in der Liturgie aussehen könnte.

Ich erinnere mich an die Stille zwischen zwei Atemzügen, als auch mein Name fiel. Ich trat nach vorne, mit meiner improvisierten Namenskerze in der Hand. Es war, als würde ich nun aus einem kirchlichen Wartezimmer heraustreten – einem Raum, in dem ich so lange geduldig verharrt hatte, während Liturgie mir zwar ein Zuhause versprach, doch meine Identität darin keinen Platz fand.

Nun aber öffnete sich die Tür. Kein Aufruf zu einer Untersuchung, kein nüchternes „Der Nächste, bitte“. Sondern ein Zuspruch, der uns in unserer ganzen Würde ansprach. Es klang wie ein neues Ufer: Es war, als würde uns die Kirche Rückgrat schenken. Nicht weil sie uns sagt, wer wir sind, sondern weil sie anerkennt, dass Gott uns beim Namen ruft.

2. Die Gegenwart: Schweigen, Unsichtbarkeit, Sonderräume

Queere Menschen kommen in der Liturgie bisher nirgendwo explizit vor. Meist geschieht ihre Unsichtbarkeit unbewusst, nicht aus Bosheit, sondern aus Gewohnheit, aus der Trägheit kirchlicher Sprache und Strukturen. Lieder, Gebete, Predigten richten sich an „die Familie“, meinen dabei aber fast immer die Cis-hetero-Normalitätsvorstellung Vater, Mutter, Kind. Die Liturgie feiert das Leben, blendet jedoch jene aus, deren Leben nicht dem heteronormativen Ideal entspricht.

Natürlich gibt es Ausnahmen: queere Segnungsgottesdienste, Regenbogenandachten, ökumenische CSD-Feiern. Aber sie bleiben Sonderformate und finden oft immer noch ohne Billigung der kirchlichen Hierarchie statt. Sie wirken wie Randnotizen zum großen Ganzen. Es entsteht eine doppelte Botschaft: „Wir sehen euch – aber nur hier, nur heute, nicht überall.“

Unsichtbarkeit zeigt sich auch im Detail: in Formulierungen, die nur zwei Geschlechter kennen; in Fürbitten, die Beziehungswirklichkeiten nicht nennen; in Rollen, die nach Geschlechterklischees verteilt werden; in Bildern und Symbolen, die eine einzige Lebensform idealisieren. Für viele queere Christ*innen bleibt deshalb das Gefühl: Wir sind in der Liturgie nur geduldet. Nicht selbstverständlich auch wirklich gemeint.

Glaubwürdige Zukunft entsteht dort, wo das Normale breiter wird.

3. Theologische Perspektive: Liturgie als Raum der Sichtbarkeit

Liturgie ist nicht bloß Ritual. Sie ist der Raum, in dem die Kirche sichtbar macht, was sie glaubt und wer sie ist: der Leib Christi – ein Leib aus vielen Gliedern. Verletzlich, radikal vielfältig, niemals uniform/​homogen. Im Gebet öffnet sie Türen zu einem Du, das nicht im Exklusiven wohnt, sondern in der Fülle des Lebens. Wenn bestimmte Menschen aus dieser Sichtbarkeit verschwinden, wird auch ein Teil G*ttes unsichtbar. Eine Liturgie, die queere Menschen und deren Erfahrungen nicht mitfeiert, verfehlt sich selbst. Denn sie erzählt dann nicht mehr die ganze Geschichte des Evangeliums, sondern nur die der dominanten Gruppe, der Privilegierten, derer, die Teil der Normalitätsvorstellungen sind. Doch gerade in der Bibel finden sich auch andere Spuren: Jesus, der sich mit den Ausgeschlossenen an einen Tisch setzt, die vielen Wohnungen im Haus Gottes (Joh 14,2), der Regenbogen als Zeichen des Bundes mit allen Menschen.

Das Evangelium gewinnt an Tiefe, wenn es aus der Perspektive derer gelesen wird, die lange nicht gemeint waren. Die Option für die Verwundbaren ist kein Nice-to-have, sondern Mitte der Botschaft. Eine Kirche, die Vielfalt liturgisch sichtbar macht, bekennt damit: G*ttes Gegenwart ist größer als unsere Kategorien.

4. Ein Rundgang durch den Kirchenraum und die Utopie verqueerter Liturgie

Wenn ich mit meiner queeren Perspektive durch den Kirchenraum gehe, entdecke ich: Die bekannten Zeichen und Geräte erzählen mehr, als wir auf den ersten Blick vermuten. Sie tragen Bedeutungen in sich, die sich mit Fragen nach Inklusion, nach Transformation, nach fluiden Identitäten berühren lassen. Ein kleiner Rundgang zeigt, wie reich der Raum an Symbolen ist, die geradezu darum bitten, neu gedeutet zu werden:

  • Taufbecken: Ursprünglich war die Taufe ein radikaler Übergang. Wer in der Antike getauft wurde, legte die alte Kleidung ab, stieg nackt ins Wasser und kam „neu“ hervor – um dann ein weißes Gewand anzuziehen. Eine symbolische Transition: alte Identitäten loslassen, neue anziehen. Heute lässt sich darin eine Einladung erkennen, die eigene Identität nicht als festgeschrieben zu verstehen, sondern als wandelbar, fluid, durchlässig für G*ttes Gegenwart (Gal 3,28).
  • Ambo: Hier erklingt das Wort, hier werden Stimmen hörbar. Doch nicht jede Stimme hat traditionell Platz gefunden. Eine queersensible Lesart stellt Fragen: Wer darf sprechen? Wer wird gehört? Wer wurde zum Verstummen gebracht? Wessen Erfahrungen werden verschwiegen? Ambo und Mikrofon können so zu Symbolen einer Kirche werden, die Stimmen verstärkt, die sonst überhört werden.
  • Altar: Der Mahl- und Opfertisch zugleich erinnert daran, dass die christliche Gemeinschaft in ihrer Tiefe nicht Ausschluss, sondern radikale Gastfreundschaft kennt. Dass alle eingeladen sind – nicht aufgrund einer vorgängigen Norm, sondern weil Christus selbst der Gastgeber ist.
  • Kirchenarchitektur: Sie verweist auf Übergänge: Türschwellen, Vorhallen, Kreuzgänge. Orte des Dazwischen, liminal, wie das Leben vieler Menschen, die nicht in einfache Kategorien passen. Ein Raum, der Übergänge kennt, kann ein Raum sein, in dem Identität in Bewegung bleiben darf.
  • Liturgische Gewänder: Wer das Gewand anlegt, tritt in eine Rolle. Farben wechseln mit den Zeiten. Heute Grün, morgen Violett, dann wieder Weiß oder Rot. Ein Spiel mit Farben, die an die Möglichkeit erinnern, sich selbst nicht in ein einziges Muster pressen zu lassen.

So erweist sich der Kirchenraum selbst als vielstimmige Predigt. Seine Elemente sind nicht statisch, sondern beweglich, vieldeutig, wandelbar. Vielfalt muss also nicht von außen in die Kirche hineingetragen werden – sie ist in ihrem Symbolvorrat längst angelegt.
 

Zwischen queersensibel und verqueert: liturgische Utopien

Wenn heute von queersensibler Liturgie die Rede ist, geht es oft um Korrekturen im Detail: Sprache anpassen, diskriminierende Bilder vermeiden, Musik vielfältiger auswählen. All das ist wichtig – es schafft einen Raum, in dem sich Menschen nicht ausgeschlossen fühlen, sondern als Teil der Gemeinschaft erleben. Doch bleibt diese Ebene oft reaktiv: Sie entschärft, was verletzt, ohne die Form selbst zu hinterfragen.

Eine andere Dimension eröffnet sich, wenn wir fragen: Wie könnte Liturgie aussehen, wenn wir sie nicht nur sensibel gestalten, sondern verqueeren? Verqueerte Liturgie ist nicht bloß Anpassung, sondern Transformation. Sie bricht den gewohnten Ablauf auf, macht Platz für das Leben, die Erfahrungen, die Körper, die Anwesenheit von queeren und anderen marginalisierten Menschen, sie tauscht Rollen, experimentiert mit Sprache, Körper und Raum. Verqueeren heißt: Liturgie wird nicht repariert, sondern neu zusammengesetzt – als utopischer Erfahrungsraum, in dem Identität, Gemeinschaft und Gottesbegegnung nicht normiert, sondern in ihrer Vielfalt gefeiert werden.

Eine solche Utopie mag irritieren, vielleicht sogar provozieren. Doch genau darin liegt ihre Kraft: Sie entlarvt die Normalität, an die wir uns gewöhnt haben, als historisch kontingent – und eröffnet den Blick darauf, dass Gottes Gegenwart nicht an bestimmte Formen gebunden ist. Verqueerte Liturgie ist so etwas wie ein Probelabor für eine Kirche, die nicht am Rande Vielfalt duldet, sondern sie als Ausdruck von G*ttes Kreativität selbstverständlich lebt.
 

Praxisbezug: liturgische Erprobungsräume

Während die römisch-katholische Eucharistiefeier in ihrer Grundform von den kirchlichen Vorgaben her kaum veränderbar ist, eröffnen freie liturgische Formen größere Spielräume. Sie eignen sich als liturgische Laborsituationen, in denen experimentiert, verqueert und neu zusammengesetzt werden kann. In solchen Formen können Rollen getauscht, neue Sprachbilder erprobt, Symbole verschoben und ungewohnte Ausdrucksformen – Musik, Performance, Körperlichkeit – integriert werden. Sie werden so zu Orten, an denen Kirche im Modus der Utopie probt, wie eine liturgische Praxis der Zukunft aussehen könnte.

Beispiele für mögliche Praktiken in solchen Erprobungsräumen sind:

  • Performative Rollenwechsel: Gemeinde, Vorstehende, Ministrant*innen tauschen ihre Aufgaben.
  • Sprach- und Bildexperimente: Gott in multiplen Metaphern ansprechen (Mutter, Geschwister, Liebende, Verbündete)
  • Körperlichkeit: Gesten, Tanz und vielfältige Ausdrucksformen in die Liturgie integrieren
  • Rituale der Transition: Feiern für Coming-out, Namensänderung, Transitionen als liturgische Akte
  • Nicht-lineare Abläufe: Stationen, Polyphonie, gleichzeitige Stimmen statt strikter Ordnung
  • Musikmix: Gregorianik neben Pop, Rap oder elektronischer Musik
  • Alternative Symbole: Eucharistie-ähnliche Gemeinschaftszeichen mit Traubensaft, Wasser oder anderen Alltagsmitteln, die zum Teilen einladen
  • Humor und Camp in der Liturgie: Ironie, Parodie und Übertreibung können als befreiende Elemente wirken.
     

Exkurs: Warum die Kirche Camp schon erfunden hat

„Camp“ ist ein queeres ästhetisches Konzept (vgl. Sontag 1964), das mit Übertreibung, Theatralik und Ironie spielt. Camp überhöht Formen, legt Patina frei, die sich über die Jahrhunderte angesammelt hat, und verschiebt Bedeutungen durch spielerisches „too much“.

Im Kern bedeutet Camp:

  • Übertreibung: Glanz, Glitzer, Gewänder, Gesten, die mehr sind als „nötig“
  • Theatralik: das große Pathos, das einlädt, zugleich staunen und schmunzeln zu dürfen
  • Ambivalenz: Camp macht sich über etwas lustig – und liebt es gleichzeitig.

Wer Kirche aufmerksam betrachtet, merkt: Vieles, was wir liturgisch selbstverständlich finden, bewegt sich längst in dieser Ästhetik. Ein Kardinal, der in einer fünf Meter langen Cappa magna durch die Kathedrale schreitet, erinnert an ein Hochzeitskleid oder eine Drag-Show. Fronleichnamsprozessionen, die mit Baldachin, Monstranz, Fahnen, Blumen, Weihrauch und Musik durch die Straßen ziehen, sind öffentliche Inszenierungen von Pathos – fast so überbordend wie eine Pride-Parade. Auch Madonnenfiguren mit Glasaugen oder barocke Heiligendarstellungen mit Gold und Schnörkeln sind Inszenierungen, die nicht nur Ehrfurcht, sondern auch Staunen und Ironie hervorrufen können.

Wenn ich als queere Person solche Szenen sehe, erkenne ich in ihnen eine Verwandtschaft: Die Kirche hat Camp nicht „erfunden“, aber sie lebt es seit Jahrhunderten. Was die Tradition „Sakralästhetik“ nennt, wirkt in meinen Augen wie Camp – lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab: eine Ästhetik der Überhöhung, die Gottesnähe durch Pathos und Glanz inszeniert.

Und genau darin liegt das Potential für heute: Queere Liturgie muss sich nicht künstlich etwas „Neues“ ausdenken. Sie nimmt ernst, was längst da ist, und legt es frei. Sie entlarvt die Doppelmoral: Wenn Männer in Spitzengewändern und mit Schleppe Würde verkörpern dürfen, warum dann nicht auch Drag-Queens mit Glitzer im Gottesdienst? Liturgie wird so wieder lebendig, irritierend, überbordend – und erinnert daran, dass das Evangelium selbst ein Skandal ist: Gott wird Mensch im Kind, Heil kommt durch Schande und Kreuz, die Verachteten werden zu Lehrmeister*innen (vgl. Edman 2025).

Camp in der Kirche heißt: Scham und Freude, Verletzlichkeit und Hoffnung zugleich aushalten – und sichtbar machen, dass die Tradition längst queerer ist, als viele wahrhaben wollen.

5. Liturgie und Macht: Wer spricht? Wer darf sichtbar sein?

Liturgie ist nie neutral. Sie spiegelt gesellschaftliche Machtverhältnisse – und stabilisiert sie zugleich. Wer predigt? Wer leitet? Wer segnet? Wer gestaltet Musik, wer wählt Bilder, wer formuliert Fürbitten? Jede dieser Entscheidungen schafft Sichtbarkeit – oder entzieht sie. Eine queersensible Liturgie ist deshalb auch ein machtkritisches Projekt.

Konkret bedeutet das: Rollen transparent verteilen, Beteiligung öffnen, Kriterien benennen. Leitungsdienste nicht implizit an Geschlechtsrollen knüpfen. Erfahrungswissen derer, die Diskriminierung erfahren, systematisch einbinden. Schulungen zu Sprache und Symbolik verankern. Und: Beschwerden ernst nehmen und in Lernschleifen überführen, statt sie zu vereinzeln.

Es geht nicht darum, „alles politisch“ zu machen. Es geht darum, ehrlich zu sein: Liturgie bildet Wirklichkeit ab – ob wir wollen oder nicht. Wenn wir Vielfalt nicht abbilden, bilden wir eine Verengung ab.

6. Werkzeuge für die Praxis – konkrete Schritte

  • Sprache weiten: Formulierungen nutzen, die Beziehungs- und Familienvielfalt abbilden (Predigt, Fürbitten, Segensformeln)
  • Beteiligung öffnen: queere Menschen sichtbar an liturgischen Diensten beteiligen – nicht nur symbolisch, sondern regelmäßig
  • Riten überprüfen: Segnungen, Namensrituale, Übergangsriten prüfen und inklusiv formulieren; klare, würdevolle Gesten
  • Bildsprache kuratieren: Aushänge, Kirchenheft, Projektionen – Vielfalt sichtbar machen, ohne Kitsch
  • Texte und Liedgut sollten bewusst geprüft werden. Wenn nötig, können kurze Einleitungen helfen, Lieder interpretativ zu weiten oder problematische Formulierungen einzuordnen. (Die Namenssegnungsfeier hat hier gute Beispiele geliefert: Man verzichtete konsequent auf Stücke, in denen ständig vom „Herrn“ oder vom „König“ gesungen wurde. Stattdessen wurden Alternativen gewählt oder kreative Bearbeitungen vorgenommen – etwa indem Begriffe verqueert und vielfältiger gemacht wurden: aus „König“ wird „König*in“ oder ein spielerisches „Quing“.)
  • Raumgestaltung: Orte der Nähe schaffen (Kreismomente, Segensinseln, Lichterecken), Barrieren abbauen
  • Willkommen heißen: zu Beginn explizit benennen, dass alle angesprochen sind; „Sprache der Einladung“ einüben
  • Beschwerdekultur: niederschwellige Rückmeldemöglichkeiten (analog/​digital); zeitnahe, respektvolle Antworten
  • Teams schulen: regelmäßige Fortbildungen zu Diskriminierungskritik und queersensibler Sprache; Peer-Learning etablieren
  • Leitfäden erarbeiten: kurze Handreichungen mit Beispielen (z. B. Fürbitten-Sammlung, Segensvorschläge, Glossar)
  • Kooperationen nutzen: Austausch mit Gruppen wie OutInChurch, queeren Christ*innen vor Ort, ökumenischen Partner*innen
  • Kontinuität sichern: nicht nur Events, sondern Alltag – Jahresplan mit regelmäßigen inklusiven Elementen
     

Best Practices – Erfahrungen, die tragen

Namenssegnungsfeier:
Menschen sprechen ihre selbstgewählten Namen, die Gemeinde antwortet mit Zuspruch, Segensgesten, Licht. Es ist eine Liturgie der Anerkennung, die keine Maske verlangt, sondern Identität feiert. Der Ritus ist einfach, aber präzise: Benennung – Zuspruch – Segen – Sendung. Gerade diese Klarheit macht ihn übertragbar in Gemeinden vor Ort.

Segnung von Paaren ([vgl.] DBK-Handreichung „Segen gibt der Liebe Kraft“):
Die Handreichung ist ein Schritt der Öffnung. Sie ermöglicht, dass Liebe und Verantwortung öffentlich vor Gott* bekräftigt und gesegnet werden. Gleichzeitig bleibt Ambivalenz: Wenn Segnungen in einem Sonderritus verbleiben, entsteht der Eindruck einer Hierarchie – hier Ehe, dort Segnung; hier voll, dort weniger. OutInChurch hat dies als „Segen zweiter Klasse“ kritisiert. Für die Praxis heißt das: Wo Segnungen gefeiert werden, sollte zugleich reflektiert werden, wie Alltäglichkeit geschaffen wird – in Sprache, Rollen und Sichtbarkeit.

Queersensible Sprache und Beteiligung:
Gemeinden, die inklusive Sprache in Kyrie, Gloria, Präfationen, Fürbitten und Segensformeln einüben, berichten von Breitenwirkung: Nicht nur queere Menschen fühlen sich näher dran, auch Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Menschen ohne Paarbeziehung. Sichtbare Beteiligung queerer Personen in liturgischen Diensten (Lektor*innen, Kantor*innen, Kommunionhelfende, Leitung von Wort-Gottes-Feiern) schafft Normalität.

Internationale Impulse:
In vielen Ortskirchen sind Segnungen und inklusive Liturgiepraxis Alltag. Wichtig ist, nicht Muster zu kopieren, sondern zu inkulturieren: Was passt zu einer bestimmten Gemeinde, zu ihrem Stil, zu ihrer Sprache? Inklusivität lebt von Authentizität, nicht von Dekor.
 

Mini-Liturgie für eine Namenssegnung (übertragbar)

Rahmen: Wort-Gottes-Feier oder Vesper; Dauer: 20–25 Minuten

  • Eröffnung und Begrüßung (Sprache der Einladung: „Wir feiern die Vielfalt der Namen, in denen Gott uns ruft.“)
  • Schriftwort: Jes 43,1 („Ich habe dich beim Namen gerufen, du bist mein.“) oder Ps 139 (Gott kennt mich)
  • Namensbenennung: Die Person spricht den selbstgewählten Namen. Kurze Stille.
  • Zuspruch: Leitungswort („Dieser Name ist dir Quelle der Würde und Freiheit. Wir achten und ehren ihn.“)
  • Segensgeste: Handauflegung oder Kreuzzeichen; optional Lichtgabe (Kerze mit Name)
  • Fürbitten: Gemeinde bittet um Schutz, Mut und Verbundenheit
  • Sendung: kurzer Segen und Lied

Hinweise: sensibler Umgang mit Datenschutz, Freiwilligkeit bei Fotos, barrierearme Sprache, vorherige Absprache der Formulierungen
 

Vignette: Ein Kyrie, das trägt

„Herr, erbarme dich“ – und doch klingt es so oft, als sei Erbarmen ein schmales Band, auf dem gerade noch die „Normalen“ Platz finden. Einmal schrieb ein Jugendlicher in eine digitale Fürbittwand: „Ich glaube an Gott, aber ich glaube nicht, dass meine Gemeinde an mich glaubt.“ Ein Kyrie der Zukunft könnte klingen: „Gott, du Freund*in der Vielfalt, erbarme dich. Christus, du Weite aller Wege, erbarme dich. Heiliger Geist, Atem in engen Räumen, erbarme dich.“ Nicht als Geste der Mode, sondern als Ausdruck einer Erfahrung: dass Erbarmen größer ist als unsere Kategorien.
 

Formulierungsbeispiele – Fürbitten und Segensworte

Fürbitten (Auswahl):

  • Für alle, die ihren Namen neu gefunden haben – dass sie ihn mit Freude tragen und in unseren Gemeinden Anerkennung erfahren.
  • Für Paare, die Verantwortung füreinander übernehmen – dass ihr Versprechen in guten und in schweren Zeiten trägt.
  • Für alle, die in der Kirche noch keinen Platz finden – dass wir Türen öffnen und Wege der Nähe finden.

Segenswort (kurz):
Gott segne dich in deinem Namen. Dieser Name sei dir Quelle der Würde, Zeichen der Freiheit und Klang deiner Geschichte. So segne dich unser Gott* der vielen Wohnungen: der*die Schöpfer*in, der Mensch gewordene Christus und der Heilige Geist.
 

Checkliste Bild- und Sprachleitfaden

  • Personenbezeichnungen inklusiv halten (z. B. „Lektor*innen“, „Musiker*innen“, „Paare“ statt impliziter Zweigeschlechtlichkeit); Paar- und Familienbeispiele variieren, nicht immer dieselben Konstellationen nutzen
  • kein „Othering“ in Bildunterschriften („hier: ein trans Mensch“), sondern neutrale, wertschätzende Sprache
  • Rückmeldeschleifen etablieren: Vier-Augen-Prinzip für Texte: Sensitive Reading durch sensibilisierte Personen
     

Digitale und hybride Liturgie – neue Räume, neue Nähe

Viele queere Menschen finden im Digitalen niedrigschwellige Zugänge: Streams, Audio-Andachten, Chat-Seelsorge, digitale Fürbittwände. Hybride Formate ermöglichen Teilhabe ohne Zwang zur Sichtbarkeit vor Ort. Für Gemeinden heißt das: digitale Räume liturgisch ernst nehmen – mit gleichen Maßstäben an Würde, Beteiligung, Sprache und Qualität.

Digitale Segensfeiern, vorbereitende Gespräche per Videocall, geteilte liturgische Materialien (z. B. Hausliturgien) erweitern den Resonanzraum einer Gemeinde. Wichtig bleiben: Datenschutz, Sensibilität und echte Anschlussmöglichkeiten ins Analoge.
 

FAQ für Gemeinden – kurz & knapp

  • Q: „Wir haben Angst, etwas falsch zu sagen.“ – A: Fehler sind Lernmomente. Wichtig sind Respekt, Bereitschaft zur Korrektur und klare Entschuldigungen, wenn etwas verletzt.
  • Q: „Fehlt uns dann nicht die Tradition?“ – A: Tradition ist Weitergabe lebendiger Erfahrung. Sie bleibt lebendig, wenn sie echte, heutige Erfahrungen – auch die von queeren Menschen – widerspiegelt.
  • Q: „Wie reagieren wir auf Widerstand?“ – A: Transparent, ruhig, einladend. Erklären, warum Inklusion theologisch geboten ist. Gesprächsangebote machen; gleichzeitig Schutz der Betroffenen priorisieren.

7. Vision: Eine Liturgie, die atmet

Wenn ich mir eine Kirche vorstelle, in der queere Menschen nicht mehr „Thema“ sind, sondern einfach dazugehören, dann verändert sich alles. Ich sehe eine Messe, in der ein lesbisches Paar selbstverständlich die Kommunion austeilt. Ich sehe ein Abendgebet, in dem trans Ministrant*innen den Altar bereiten. Ich sehe einen Familiengottesdienst, in dem Kinder mit zwei Müttern im Kyrie genannt werden – nicht als Ausnahme, sondern als Teil des Normalen.

Für mich wäre das eine Kirche, in der ich nicht erklären müsste, warum ich dazugehöre. In der meine Zugehörigkeit keine Begründung braucht, sondern gelebte Realität ist. Solche Liturgie würde für mich zu dem werden, was sie im Tiefsten ist: ein Raum, in dem G*tt durch die Vielfalt der eigenen Schöpfung aufscheint – und in dem auch meine nicht-binäre Existenz selbstverständlich Platz hat.

Die Zukunft der Liturgie hängt nicht an technischen Fragen – ob mit KI generierten Liedern oder neuen digitalen Tools. Sie hängt daran, ob Menschen sich und ihre Lebensvollzüge in ihr wiederfinden. Queere Liturgie ist keine Nische. Sie ist ein Prüfstein, ob Kirche ihrem eigenen Anspruch gerecht wird: ein Haus Gottes zu sein, in dem viele Wohnungen sind.

Zukunft entsteht, wenn Kirchorte und kirchliche Gruppen jetzt anfangen – tastend, lernend, mutig. Nicht perfekt, aber verbindlich. Nicht als einmaliges Event, sondern als Haltung.