„Siehe, nun mache ich etwas Neues“ (Jes 43,19)
Perspektiven für Liturgie von morgen
Die gottesdienstliche Praxis in der Kirche verändert sich deutlich und rasant. Das zeigt der Blick in wenig gefüllte Kirchenräume, die Wahrnehmung religionssoziologischer Befunde oder das Gespräch mit eng ihrer Kirche verbundenen Katholik:innen über ihre reduzierte liturgische Praxis. Wo vor zehn Jahren über zehn Prozent der Menschen in der Kirche noch mehr oder weniger selbstverständlich sonntägliche Liturgie, also zumeist die Eucharistie feierten – schon damals ein Tiefststand –, ist deren Zahl mit der Pandemie deutlich gesunken. Wenn jetzt von leicht steigenden Prozentzahlen in der Kirchenstatistik zu lesen ist, muss einberechnet werden, dass die Gruppe, auf die sich diese Zahlen beziehen, durch Kirchenaustritte immer kleiner wird. Die rückläufigen Zahlen sind differenziert zu beurteilen, aber ein deutlicher Fingerzeig für eine Distanzierung von der Institution Kirche, für eine Abkehr vom Christentum und gewiss für Probleme der Liturgie.
Was lässt sich vor diesem Hintergrund über Gottesdienst der Zukunft sagen? Langfristige Prognosen sind schwierig, weil sich Liturgie zumeist in längeren Zeiträumen verändert – abgesehen von Reformen, die Veränderungen in kürzerer Zeit bringen, wie zuletzt die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Wie sich also die bestehende Liturgie wandeln wird, was zurücktreten und was an neuen Feierformen hinzukommen wird, muss abgewartet werden. Doch es lassen sich Eckdaten benennen.
Dass Liturgie in Bewegung bleibt, ist ein Phänomen, das über Jahrhunderte zu beobachten ist. Es ist heute allerdings kaum mehr als ein Strohhalm, wenn mit Blick auf die Liturgiegeschichte festgestellt werden muss, dass in der Geschichte des Gottesdienstes ein Auf und Ab immer wieder begegnet. Die Hochzeit der Liturgie – etwa zwischen 1850 und 1950 mit großen Zahlen von Teilnehmenden – ist nicht die pastorale „Normalität“. Dennoch: Einfach von einer Linearität des Verfalls – ist das überhaupt der treffende Begriff? – auszugehen, wäre zu einfach. Dass liturgische Praxis sich verändert, ist historisch gesehen vertraut. Wobei nicht übersehen werden darf, dass es Zeiten gab, in denen Religion und religiöse Praxis einen anderen Stellenwert besaßen, als das heute der Fall ist.
Das nimmt allerdings der derzeitigen Situation nichts von ihrer Dringlichkeit, denn zur rückläufigen Praxis kirchlicher Liturgie – neben der Messfeier sind andere Sakramente wie Taufe, Trauung, Beichte und mittlerweile sogar die Begräbnisliturgie zu nennen – kommen mindestens zwei weitere Faktoren hinzu: Die Zahl der Hauptamtlichen in der Kirche, die mit einer entsprechenden Ausbildung Gottesdienste vorbereiten und leiten können, sinkt ebenfalls. Das gilt für Priester wie für Pastoral- und Gemeindereferent:innen. Zudem, und das ist der zweite problematische Faktor, sieht es bei ehrenamtlich Engagierten nicht besser aus. Wenn es zukünftig Nachfrage nach Liturgie gibt, könnte die Folgefrage lauten, wer mit Kompetenz diese Liturgie verantworten und leiten kann.
Resignation ist in einer solchen Situation ein schlechter Ratgeber, dann schon eher ein Vertrauen auf eine Prophetie, die sich in Jes 43,19 findet: „Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ Was können Konturen der Liturgie auf Zukunft hin sein? Ein Versuch.
1. Bleibende Bedeutung von Liturgie
Liturgie bleibt für die Glaubensgemeinschaft relevant. Das lässt sich theologisch, aber ebenso ritualtheoretisch untersetzen. Wissenschaftler:innen, die sich wie Randall Collins, Catherine Bell, Roy Rappaport oder viele andere mit Interaktionsritualen beschäftigen, also Ritualen, in denen Menschen zusammen handeln, zeigen, dass Rituale – und das gilt dann insbesondere für religiöse Rituale – Gemeinschaft bilden. Rituale führen diese Gemeinschaft zugleich über sich hinaus. Für eine Kirche ist das wesentlich, lebt sie doch als Kirche aus der zentralen Feier und Erinnerung an die sie gründenden Ereignisse und weitet zugleich den Blick endzeitlich über sich hinaus. Die Gemeinschaft ist nicht auf sich fixiert, Gott kommt ins Spiel.
Ritual meint (im Kontext von Interaktion) gemeinsames Handeln und muss in seinen Beteiligungsmöglichkeiten entsprechend erlebt werden können. Ritualtheorie spricht von vielfältigen Weisen der Handlungsmacht wie -kompetenz (Agency), die weit über eine vage bleibende Rede von Partizipation hinausgehen. Rituale basieren auf wiederkehrenden Formen, die stereotypisiert sind und sich dadurch immer neu für ein verdichtetes Handeln in Gemeinschaft eignen. Hier begegnet ein eigener Modus der Kommunikation – nicht nur allgemein in Ritualen, sondern ebenso spezifisch in der Liturgie und damit in diesem Fall im Miteinander von Menschen wie mit Gott.
Mit dem rituellen Moment von Liturgie rücken das leibliche Handeln und die Versammlung in körperlicher Kopräsenz in den Blick. Ritual- wie Liturgiewissenschaft teilen die Einsicht, dass damit Formen der Wahrnehmung und des Ausdrucks verbunden sind, die eine allein verbale Kommunikation übersteigen. Leider ist das immer noch viel zu wenig bewusst: Das, was gemeinsam ausgedrückt werden soll, kommt in den Handlungen mit Licht, Wasser, Öl, Brot und Wein, in Handauflegung und Handreichung, im Umgang mit dem Raum und im Klang besonders nachdrücklich und geradezu einzigartig zum Ausdruck. Diese rituelle Seite der Liturgie bedarf besonderer Pflege.
Zugleich unterstreichen Ritualtheorien, dass aus Interaktionsritualen Orientierung entstehen kann. Liturgie weist mehrfach über sich hinaus und fordert zu einem entsprechenden Leben und Handeln heraus: Sie zielt auf ein soziales Handeln und eine entsprechende Ethik. So ist etwa jede Eucharistie Aufruf zu einem Leben aus dieser Eucharistie.
Die bleibende Schlüsselfunktion solcher Rituale für die katholische Kirche auf Zukunft hin steht außer Frage, was allerdings die Bedeutung anderer Grundvollzüge, beispielsweise des Diakonischen, nicht in Abrede stellen will.
2. Selber Kirche sein
In der katholischen Kirche kommt zukünftig mehr noch als heute schon aus theologischen wie pragmatischen Gründen den einzelnen Gläubigen eine ganz neue Verantwortung zu. Kirche und Liturgie wird es morgen nur dann geben, wenn Taufberufung vollumfänglich ernst genommen wird. Menschen müssen gefördert werden, diese Berufung zu leben; sie müssen als Getaufte ihre Rechte in der Kirche einfordern. Das bedeutet eine klare Absage an jede Form von Klerikalismus. Die Taufliturgie feiert, dass Menschen zugesagt ist, am Priester‑, Königs- und Prophetenamt Christi teilzuhaben. Sie weist darauf nicht nur hin, sondern sie vollzieht das in einem performativen Akt. Diese Zusage ist Wirklichkeit. Es wird gefeiert, dass Getaufte selber Kirche sind und bilden, und dies vor allen Ämtern, Beauftragungen usw. Die Taufe steht an erster Stelle. Zur Zukunft der Liturgie gehört, dass die Taufberufung ernst genommen wird, und zwar umfassend im Gottesdienst wie im Zugehen auf den Gottesdienst. Es bedarf in der Kirche einer „Vorsorgepolitik“ (Tine Stein), damit Taufberufung auf Zukunft hin umfassend gelebt werden kann – zum Wohl der einzelnen Gläubigen wie der Kirche. Diese Vorsorge ist viel zu lange verspielt oder vernachlässigt worden. Liturgie wird langfristig nur dann eine Chance haben, wenn in theologischer Perspektive Getaufte als Getaufte ernst genommen werden, wenn Liturgie in organisatorischer Hinsicht auf mehr Schultern verteilt wird und wenn sich in der Feier der Gottesdienste Getaufte mit ihrem Leben und Glauben vor Gott in Lob, Dank, Bitte und Klage artikulieren können. Getaufte wollen nicht bevormundet werden, sondern selber Kirche sein können.
Hier gibt es nach wie vor in der Liturgie zu viele und zu hohe Barrieren. Das betrifft die Feier selbst, gilt für Riten und Gebete, für den Umgang mit Rollen, mit Zeichen und Zeichenhandlungen, mit dem Raum usw. Es gibt, insbesondere in der Messfeier, immer noch zu vieles, was die Differenz zwischen Ordinierten und Nichtordinierten betont, wo diese Betonung schlicht überflüssig ist.
Aber es geht nicht allein darum, wie sich Menschen zum Gottesdienst versammeln. Sie werden für diesen Gottesdienst und seine Konturen zugleich Verantwortung übernehmen dürfen und müssen. Das bedeutet, dass fragwürdige Verbote und Restriktionen, die Leitung, Homilie, Segensformel, Rollenverteilungen und vieles andere mehr betreffen, fallen müssen, weil sie der Taufberufung nicht angemessen sind, sondern sie verstellen. Weil sie der Liturgie im Wege stehen. Das schließt, und es ist traurig, dies immer noch feststellen zu müssen, umfassend Geschlechtergerechtigkeit ein.
Weiterhin wird über die katholische Gemeinde oder Gemeinschaft hinaus in einer zunehmend postkonfessionellen Zeit immer stärker und vor allem ernsthaft zu fragen sein, wo Christ:innen als auf Christus Getaufte zusammen feiern, sich wechselseitig zur Liturgie einladen, sich in ihrem Glauben durch mehr gegenseitige Teilnahme in ihrer Feier des Gottesgeheimnisses bereichern und sich als Gemeinde Jesu Christi erfahren können.
3. Liturgie mit überzeugendem Bibelbezug
Liturgie der Zukunft wird zukünftig einen starken Bibelbezug haben müssen. Liturgietheologisch ist die biblische Erzählung, also das narrative Moment der Liturgie mit seinem Akzent auf Präsenz des Erzählten, das Charakteristikum der Liturgie. Darin kommt das Hoffnungspotenzial christlichen Glaubens zur Sprache und zur Verkündigung. Was immer in einer Liturgie gefeiert wird – von dieser liturgisch charakteristischen Form, von Gott und Menschen und dem Leben zu erzählen, nimmt das Gefeierte seinen Ausgang.
Die Zusage der Nähe Gottes und damit die Heilswirklichkeit begegnet sicherlich nicht allein in der Liturgie, sondern auch zum Beispiel im diakonischen Handeln der Kirche. Doch es gibt einen Eigenwert der Liturgie, der nicht übersehen werden darf. Dazu zählt die wiederkehrende Erinnerung der Großtaten Gottes, auf die sich christlicher Glaube beruft und aus der er lebt – keine Liturgie ohne biblischen Text. Das kann Schriftlesung meinen, aber genauso gut Bibelteilen, Lectio divina o. A. Es können Bibeltexte unterschiedlicher Auswahl und verschiedenen Zuschnitts zugrunde gelegt werden. Diese Narration aus der Bibel ist konstitutiv für jede christliche Liturgie. Sie bleibt nicht im Modus der Vergangenheitserinnerung, sondern nimmt die Feiernden in diese Geschichte und die Hoffnung auf ihre Vollendung bei Gott hinein. Sie drückt sich in Zeichenhandlungen – Segensgestus, Teilen von Brot und Wein, Friedensgruß etc. – aus, die einerseits durch Gebete und andere Texte gedeutet werden, andererseits deutungsoffen und darin rezeptionsfähig sind. Liturgie erzählt von Gott für eine Gemeinschaft, der ein neuer Horizont und eine neue Perspektive eröffnet werden. Sie deutet Zeit aus und mit der Bibel, indem sie Menschen in die Geschichte Gottes mit den Menschen stellt und zugleich verdeutlicht, dass die Vollendung dieser Geschichte bei Gott aussteht.
Das zur Erfahrung zu bringen, gehört zu den Konturen jeglicher Liturgie auf Zukunft hin. Der Wegfall von Liturgie wäre für das Glaubensleben keine Quisquilie, denn die biblische Erzählung in der Liturgie macht deutlich, dass eine andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit Gottes, ins Spiel kommt – im Gottesdienst wie im Leben von Menschen. Vor allem bringt die biblische Narration die bleibende Gegenwart Gottes zum Ausdruck. Sie ist nicht zu ersetzen. Eine solche auf Bibel aufsetzende Liturgie – und der Begriff „Liturgie“ ist hier in ganzer Breite des christlichen Rituals gemeint – wird (auch) auf Zukunft hin ein entscheidender Faktor und immer neu ein gründendes Ereignis für das Leben der Kirche sein müssen.
4. Ringen um Qualität der Liturgie
Wenn Liturgie für den Glauben von Menschen auf Zukunft hin relevant bleiben und anziehend wirken soll, braucht sie Qualität. Sie muss in ihrer rituellen Artikulation der Glaubensbotschaft überzeugen, muss Menschen in ihrer Gottesbeziehung Raum geben. Liturgie als ein Geschehen zwischen Gott und Mensch wird nur dann Menschen ansprechen und ihnen Raum für ihren Glauben geben, wenn diese grundlegende Qualität gewährleistet ist. Sie muss die dem jeweiligen Kontext und der Glaubensfeier adäquate Gestalt erreichen. Das Potenzial der Liturgie für den Glauben muss neu entdeckt und genutzt werden. Nach den Ergebnissen der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) von 2023 zu urteilen, ist das ästhetische Erlebnis der Liturgie ein entscheidendes Motiv für Menschen, Liturgie zu feiern, dies noch vor einer guten Predigt und „moderner“ Sprache.
Aber es geht nicht allein um die äußerliche Gestalt der Liturgie. Jene Liturgie besitzt Qualität, die Menschen in einer Welt voller Unheil ein Ort des Glaubens sein kann. Qualität meint vor allem Ernsthaftigkeit, so dass die erhoffte Zugewandtheit Gottes zum Menschen zur Sprache kommt. Immer wieder wird die Menschenfähigkeit der Liturgie gefordert. Qualität muss folglich einschließen, dass das Handeln und die Gegenwart Gottes in der Feier so gefeiert werden, dass beides mit Leben, Glauben, Alltag, mit Ängsten und Hoffnungen heute Glaubender in Beziehung gebracht werden kann. Die Erwartungen an die Liturgie sind anspruchsvoll, das zeigt die Empirie, und sie müssen das sein einerseits wegen der Komplexität menschlichen Lebens und Glaubens und andererseits wegen der Fragilität eben dieses Glaubens in der Gegenwart. Deshalb ist eine kontinuierliche Arbeit an der Liturgie notwendig, denn wenn die Liturgie eine Zukunft haben soll, muss sie qualitätvoll und darin den Menschen angemessen sein: in ihrer Gottesrede, ihrer Struktur, ihrer Sprache, ihren Riten, ihrem Umgang mit Raum, ihrem Gottesbezug wie ihrem Bezug zum menschlichen Leben, übrigens ebenso in Momenten der Stille. Wer heute Liturgie feiert, erwartet, dort als glaubender Mensch ernstgenommen zu werden. Über Qualität und Gelingen der Liturgie muss deshalb ein Austausch stattfinden.
5. Mehr Ökumene in der Liturgie
Liturgie der Zukunft wird stärker ökumenisch gefeiert werden. In der 6. KMU hat sich eine überwältigende Mehrheit der Befragten für mehr Zusammenarbeit von evangelischer und katholischer Kirche ausgesprochen. Ein Gemeinsamer Text von EKD und DBK hat 2024 die Chancen einer prozessorientierten Ökumene beschrieben: „Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit. Zu den Chancen einer prozessorientierten Ökumene“. Die Grundthese lautet, dass bereits sehr vielfältig Einheit gelebt wird, die sich dynamisch entwickele und prozesshaft auf immer mehr Einheit hinstrebe. Einheit in versöhnter Verschiedenheit sei in dieser Hinsicht bereits Realität.
Zahlreiche Felder des Gottesdienstes bestätigen das gleichsam empirisch: im Bereich von Segnungen, von Tagzeitenliturgie, von öffentlichen Trauerfeiern. Und das Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theolog:innen „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ arbeitet heraus, dass mit Blick auf die wechselseitige Teilnahme an Eucharistie und Abendmahl mehr denkbar wäre, als heute – kirchenoffiziell – schon praktiziert werden kann. Kirchen, die kleiner werden, personell wie finanziell, nicht nur hinsichtlich der Hauptamtlichen, sondern auch der selbstverständlich Praktizierenden, können aus solchem ökumenischen Engagement profitieren. Sie können vor allem durch gemeinsames Feiern Gemeinschaft stiften und ein Zeichen für Christsein in der Gegenwart setzen.
Vereint, und das bedeutet ökumenisch, werden Christ:innen durch gemeinsames Feiern zeigen, was relevant für einen lebendigen Glauben im Heute ist. Wenn Liturgie in der säkularen Gesellschaft eine Zukunft haben soll, wird das nicht ohne ein deutliches ökumenisches Zeugnis gehen.
Das setzt ein ökumenisches Lernen voraus, um mehr von der Liturgie der anderen zu erfahren und dieses Wissen in das gemeinsame Engagement einbringen zu können. Liturgie auf Zukunft hin lebendig zu halten und zu stärken, setzt Christ:innen voraus, die über Ritual- wie Glaubenskompetenz verfügen, um entsprechend selbstständig handeln und Akzente setzen zu können. Denn in einer Kirche, die nicht mehr auf die Anwesenheit von Hauptamtlichen rechnen kann, sind Selbstständigkeit und Verantwortung der Getauften unverzichtbar – nicht zuletzt in ökumenischer Hinsicht. Taufberufung wird auf Zukunft hin zu einem neuen Schlüsselbegriff werden und als solcher verwendet werden müssen. Gerade diese Taufe verbindet Christ:innen.
6. Neue Orte liturgischer Vergemeinschaftung
Kirche wird morgen anders sein, so wie sie heute bereits anders ist als noch vor wenigen Jahren. Es wird stärker auf die Gemeinschaft vor Ort ankommen, und das wird nicht mehr (allein) eine Pfarrei oder ein Kirchort sein – das zeichnet sich jetzt bereits ab. Initiativen und Kräfte vor Ort müssen entdeckt und gefördert werden, auch in ihrer Entscheidungskompetenz. Das heißt nicht, kirchliche Gemeinschaft oder Weltkirche auszublenden oder gar in einen kirchlichen Provinzialismus abzudriften.
Liturgie braucht Ordnung, wenn sie als Liturgie einer Kirche gefeiert werden soll. Aber sie braucht ebenso ein großes Maß Freiheit, von der umfassend Gebrauch gemacht werden kann. Theologisch wie kirchenpolitisch wird die Herausforderung darin bestehen, Kirche in dieser Vielfalt zusammenzuhalten und in der Vielfalt Kirche zu leben.
Diese grundlegenden Aspekte werden Konsequenzen haben. Liturgie wird weiterhin stattfinden und Menschen als Glaubensgemeinschaft zusammenführen. Dafür wird es sehr vielfältige Formen der Feier (Eucharistie, Wortgottesfeier, andere Formen des Wortgottesdienstes), der Verantwortung und Leitung geben und geben müssen. Es wird neue Orte und Verortungen geben. Das können Zentren sein, an denen die Liturgie besonders gepflegt wird, beispielsweise Klöster und Bischofskirchen, das werden einzelne Gemeinden und Bildungshäuser sein, das werden sicherlich Liturgien etwa zu Hochfesten wie Ostern sein, die Menschen zusammenführen. Die intellektuellen und rituellen Kompetenzen, um solche Orte und Anlässe zu gestalten, sind vorhanden. Solche Zentren, die Versammlungsorte, Anlaufstellen für spirituell-liturgisch Interessierte, Kompetenzzentren sein könnten, gibt es bereits. Sie müssen wegen ihrer Leuchtturmfunktion publik gemacht werden. Alle Ressourcen für den Gottesdienst, die es gibt oder die neu entstehen, sind in einer kleinen und finanziell schmal werdenden Kirche zu nutzen.
7. Reduktion von Liturgie
Auf Zukunft hin wird schließlich gefragt werden müssen, welche Liturgie wann und wo gefeiert werden kann. Dabei wird es um Kapazitäten, um Möglichkeiten, um Bedarf vor Ort gehen, letztlich darum, was Glauben und Leben vor Ort dienlich ist. Es geht um eine besonnene Reduktion und letztlich Konzentration, durch die liturgisches Leben vor Ort möglich bleibt. Dass, in welchen Abständen auch immer, Eucharistie gefeiert wird, steht außer Frage. Gleiches gilt für unterschiedliche Formen von Wortgottesdienst, Tagzeitenliturgie usw.
Mancherorts wird radikal neu gedacht werden müssen. Das kann bedeuten, dass ein Ort der Liturgie in unmittelbarer Nachbarschaft nicht mehr erreichbar ist, sondern dass weitere Wege zum nächsten Gottesdienstort zu bewältigen sind. Es kann meinen, dass komplexe Liturgien in komprimierter, aber theologisch dichter Form gefeiert werden. So etwa beim Osterfest: Es sind Modelle praktikabel, um in kleiner Gruppe und in der Nacht die Vigil zu begehen und am Tag in größerer Zahl die Ostereucharistie zu feiern. Oder nach altkirchlichem Modell das, was in der Zeit von Karfreitag bis zum Ostermorgen gefeiert wird, in einer einzigen Liturgie zu konzentrieren und rituell-theologisch zur Erfahrung zu bringen. Das ist zumindest ein mögliches Denkmodell. Solche Modelle müssen mit Blick auf eine veränderte Kirche und Gesellschaft gedacht werden (können). Wenn es langfristig nicht bei einer Form von Liturgie und Fest bleiben soll, die vor Ort überfordern kann, wird nach theologisch dichten Feierformen zu suchen sein, die umsetzbar sind. Für Tagzeitenliturgien ist dies geschehen, so mit dem strukturell, aber nicht spirituell einfacheren Morgen- und Abendlob. Die Möglichkeit einer auf unterschiedliche Zeiträume verteilten Säuglingstaufe in Stufen – Namensgebung und Segnung; Wassertaufe – existiert. Regional gibt es eine konfessionell gemeinsame Tauffeier in konfessionsverbindenden Familien. Viele neue Segnungsfeiern sind entstanden. Liturgie bleibt in Bewegung.
Dazu gehört auch, dass manches, was heute trägt, sich morgen möglicherweise erübrigen wird oder in anderer Form gefeiert werden wird. So wie Andachten, die lange Zeit beliebt und vertraut waren, deutlich an Rückhalt verloren haben, aber ebenso beispielsweise die Einzelbeichte oder die Trauung. Auch damit ist zu rechnen.
8. Liturgie in und für die Gesellschaft
Alles, was bis hierhin geschrieben wurde, bleibt kirchenintern. Vor Jahren hat Paul Michael Zulehner das Stichwort „Ritendiakonie“ in die liturgiewissenschaftliche Debatte eingeführt: Liturgie hat eine diakonische Dimension, hilft Menschen, vermittelt Hoffnung, spendet Trost – weit über die Kirche hinaus. Liturgie wirkt öffentlich über den engeren Kreis der Kirchenglieder hinaus. Das ist für Kirche und Gesellschaft ein wichtiger Aspekt, wie nicht zuletzt Trauerfeiern nach großen Katastrophen zeigen, ist ein wichtiger Gesichtspunkt für eine Liturgie, die im Leben von Menschen verwurzelt ist. Wenn das auf Zukunft hin verloren ginge, wäre das für Liturgie und Kirche wie für die Menschen, denen bisher rituell seelsorglich geholfen worden ist, ein wirkliches Problem. Es würde die Liturgie beschädigen, sie stärker noch, als das ohnehin der Fall ist, kulturell und sozial in eine Nische drängen. Wenn nach Liturgie der Zukunft gefragt wird, ist damit auch die Sorge verbunden, dass sich eine Kirche mit geringeren Ressourcen aus der Öffentlichkeit zurückziehen könnte, in der sie gerade in der jüngeren Vergangenheit mit der Liturgie neue Felder erschlossen hatte. Das wäre verhängnisvoll, ganz abgesehen davon, dass niemand weiß, wie die gesellschaftliche Rezeption von Liturgie der Kirche sich auf Zukunft gestalten wird.
„Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ Der Bibelvers aus Jes 43 geht weiter: „Ja, ich lege einen Weg an durch die Wüste und Flüsse durchs Ödland.“ Etwas Neues entsteht, wird geschenkt, wird angelegt. Es gerät etwas in Bewegung. Wem an Liturgie und Glauben gelegen ist, wer aus seinem Glauben leben möchte, ist aufgerufen, sich hier mit all seinem Einfallsreichtum, seiner Begeisterungsfähigkeit und seiner Kreativität im Glauben mitreißen zu lassen. Und trifft hoffentlich auf Verantwortliche, die dieses Begehen neuer Wege zu schätzen wissen.
