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Spannungsvoll!

Zur Zukunft der gottesdienstlichen Musik

Wie es mit der Feierkultur unserer Gottesdienste weitergeht, hängt nicht zuletzt von der Musik ab, deren Zukunftschancen im Gegenzug wiederum eng mit den kirchlichen und liturgischen Entwicklungen verknüpft sind. Charakteristisch für die Kirchenmusik sind seit jeher Spannungsfelder, die von den Akteuren immer neu auszuloten und zu gestalten sind. Dies erfordert an manchen Stellen ein Umdenken und ein neues Handeln. Meinrad Walter wirft einen Blick auf wichtige Zukunftsfragen.

Abschied von der Kirchenmusik?

Wer sich umschaut und vor allem umhört, erkennt es rasch: Die gegenwärtige Situation der Gottesdienste mitsamt ihrer Musik hat den Singular ebenso verabschiedet wie den bestimmten Artikel. Der Gottesdienst und die Kirchenmusik, das scheint es kaum noch zu geben. Vielmehr zeigen sich zahlreiche Gottesdienstformen in einer ebenso pluralen wie immer noch reichhaltigen gottesdienstlichen „Landschaft“, zu der im weiteren Sinne auch Konzerte gehören. Für die jeweils geeignete Musik scheint es jedoch keine Patentlösung mehr zu geben, wenn es diese überhaupt jemals gab. Der gut gemeinte Hinweis auf überzeitlich Gültiges und auf die Musica sacra prallt geradezu an der liturgischen Polyphonie und an den jeweils verschiedenen (Un‑)Möglichkeiten ab.

Also singen und hören wir eben, was „den Leuten“ jeweils gefällt. So heißt eine Strategie, die mit der Pluralität zurechtkommen will. Aber ein solches „anything goes“ könnte nur befürworten, wer die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht kennt. Sie hat viele Türen geöffnet, aber die qualitativen Maßstäbe der Kirchenmusik keinesfalls negiert. Anstelle früherer inhaltlicher oder sogar kasuistischer Fixierungen – etwa mit Gregorianik und Vokalpolyphonie als dem kirchlichen Stilideal – bringt das Konzil ein eher formales Argument ins Spiel: Die Kirche billigt „alle Formen wahrer Kunst, welche die erforderlichen Eigenschaften besitzen, und lässt sie zur Liturgie zu“ (Sacrosanctum concilium 112). Das ist eine schöne Gabe, die sogleich zur Aufgabe wird, indem sie Fragen aufwirft: Was ist „wahre Kunst“? Was sind „erforderliche Eigenschaften“? Was nützt die „Zulassung“, wenn die musikalischen Möglichkeiten gar nicht gegeben sind? Mit solchen Fragen sind wir mitten im Thema. Wir versuchen eine Darstellung, die von Beispielen ausgeht und das Thema mit einigen in sich spannungsvollen Begriffspaaren zu skizzieren versucht.

Sonntagsmesse, Marienfest und „Erstes Opfer“

Wenn es eine die Gegenwart und Zukunft prägende liturgisch-kirchenmusikalische Konstante gibt, dann ist das wohl die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Entwicklungen. Auch Traditionen gibt es durchaus noch. Selbst die oft schon totgesagte Volkskirche ist noch lebendig, jedenfalls in „meiner“ dörflichen Pfarrei im Schwarzwald, nahe bei Freiburg. Hier ein konkretes Beispiel, an dem etliche Facetten deutlich werden könnten. Für Sonntag, den 7. September 2025, kündigte der Gemeindebrief das um einen Tag vorverlegte Fest Mariä Geburt an. Das hat historische Gründe, weil an diesem Tag im Jahr 1790 die Pfarrkirche erstmals in Dienst genommen wurde. Einen zusätzlichen marianischen Akzent setzt das geradezu üppige bildliche Marienleben dieser barocken Dorfkirche. Nicht planbar war, dass nach einer Bestattung ohne Eucharistiefeier am Vortag auch noch ein Seelenamt eine Rolle spielen sollte.

Ja, ich weiß, dass das alles am „Herrentag“ höchst problematisch ist: ein Marienfest, das den Sonntag verdrängt, und ein „Erstes Opfer“, das ihn gleichsam überschattet. Aber es ist nun mal so, wie es ist. Wir sind mitten in einem ersten Spannungsfeld, nämlich dem von Regeln und Freiheit. Überdies hat sich an die Messfeier, von der ich so ausführlich erzähle, eine Prozession angeschlossen. Rund um Jakobuskirche und Pfarrhaus wurde vor einigen Jahren ein „Jakobusweg“ angelegt. Eine kleine Statio bestand aus den gesungenen Grüssauer Marienrufen und dem Angelusgebet.

Der musikalischen Gestaltung kam an diesem Tag zugute, dass neben mir als Chorleiter noch ein hauptberuflich ausgebildeter Organist tätig war. Ich selbst war für die Planung zuständig und habe versucht, ad hoc eine Männerschola zusammenzustellen, die mit nur einer anderthalbstündigen Probe am Samstagvormittag und kurzer Ansingprobe etwas Sinnvolles zustandebringt. Das ist den sechs Sängern mit einer kleinen zweistimmigen Messvertonung von Charles Gounod auch geglückt. Das erste gemeinsame Lied „Gegrüßet seist du, Königin“ schloss mit der Bitte „… und zeig uns Jesus an dem End“, was der priesterliche Vorsteher, ein im Nachbardorf wohnender Pensionär, bei seiner Begrüßung, auch an die Trauerfamilie gerichtet, gerne aufgegriffen hat. Als Antwortpsalm wurde der zweistimmige Kanon „Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen“ mit Vorsängerstrophen gesungen. Damit das mit Orgel, Vorsänger (= Organist), Männerensemble auf der Empore und Gemeinde im Kirchenschiff gelingt, habe ich während der ersten (und vor dem Evangelium einzigen) Lesung die Empore verlassen und „unten“ die Gemeinde dirigiert. Weil die hier Feiernden das gewohnt sind, wurde aus dem sattsam bekannten Nebeneinander – der Chor singt das Ordinarium (die feststehenden Teile der Messfeier), die Gemeinde das Proprium (die nach liturgischem Kalender wechselnden Teile der Messfeier) – an dieser Stelle ein klangvolles Miteinander aller, wie es in keinem Gottesdienst fehlen sollte.

Innovativ war diese Kirchenmusik keineswegs. Aber das „alte“ Modell des chorisch vertonten Messordinariums hat sich ein weiteres Mal bewährt. Manches ist gelungen, was auch in meiner Praxis nicht mehr selbstverständlich ist: die freudig singende Gemeinde, inspirierendes Orgelspiel, der „Aha-Effekt“, dass es den kleinen Männerchor gab, der seiner Aufgabe gewachsen war. Möglichkeiten, diesen chorischen Part zu reduzieren, um eine Überforderung zu vermeiden, hatte ich von vornherein wie immer eingeplant. Es kam letztlich darauf an, die vorhandenen, aber gleichsam schlummernden musikalischen Möglichkeiten – mit etlichen Telefonanrufen, um den gemeinsamen Probentermin am Samstagvormittag zu koordinieren – zum Erwachen zu bringen. Als Alternative wäre das Proben eine Stunde vor dem Gottesdienst denkbar gewesen, aber das ist beim Beginn der Messfeier um 9 Uhr kaum möglich. Nur nebenbei: Die Uhrzeiten zukünftiger Gottesdienste sind, nicht zuletzt für die Musizierenden, besonders wichtig.

Das Singen fördern …

Warum ist und bleibt das gemeinsame Singen entscheidend? Es bringt den Glauben „in Schwang“ (Martin Luther) und stiftet Gemeinschaft. Doch all das ist nicht (mehr) selbstverständlich, weshalb sich etwa eine Tagung im September 2026 in der Evangelischen Akademie Loccum unter der Überschrift „Gemeinsames Singen initiieren, fördern, verantworten“ damit befasst. Die Leitfragen lauten: „Wie bringen wir Menschen heute ins Singen? Wie lässt sich das gemeinsame Singen in verschiedenen Altersgruppen und Lebenswelten fördern? Was qualifiziert Singen als religiöse Praxis, und welche Rolle spielen dabei alte und neue Lieder?“ In der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers liegen mit dem „Masterplan Singen“ bereits konzeptionelle Überlegungen für eine gezielte, landeskirchenweite Förderung des gemeinsamen Singens vor.

Ein Antwortversuch auf die genannten Fragen. Vieles kann positiv zu einer erneuerten Kultur des gottesdienstlichen Singens beitragen: das einladende Orgelspiel; eine stimmige Auswahl der Lieder und Gesänge; Kantor:innen, die den Gesang stützen und die Gemeinde motivieren; der sorgfältige und kritische Blick auf das Repertoire; bisweilen auch ein kleines warming up vor dem Gottesdienst, das nicht den Charakter des strengen Übens haben sollte, sondern spielerisch und vielleicht sogar unterhaltsam zu den Gesängen hinführt; der strophische Wechsel zwischen Schola oder Chor und Gemeinde bei Liedern. Bisweilen muss man ganz elementar ansetzen, etwa mit einem leicht zu wiederholenden Kehrvers, der auswendig mit call and response möglich ist.

Alles steht und fällt mit der Rolle der Leitenden, auf deren Qualifizierung vieles ankommt. Vor allem, wenn auf Orgelspiel verzichtet werden muss, werden „Singeleiter:innen“ umso wichtiger. Aber auch die Rolle der Orgelspielenden sollte überdacht werden. Derzeit ist, übrigens in ökumenischer Gemeinsamkeit, eine Praxis üblich, die weder biblisch noch selbstverständlich ist: Ist ein Kirchenmusiker oder eine Kirchenmusikerin mit dabei, was überaus erfreulich ist, dann sitzt er oder sie in aller Regel von Beginn bis Schluss an der Orgel. Bei den Liedern klappt das gut, spätestens der Antwortpsalm aber erklingt nicht vom Ambo aus, wo er doch hingehört. Auch bei Gottesdienstübertragungen im Fernsehen ist das bisweilen so zu beobachten.

Hier könnte ein Umdenken im Blick auf die Zukunft hilfreich sein: Nicht jeder Gesang muss begleitet werden. Bisweilen, etwa bei einem gesungenen Fürbittruf, findet sich die singende Gruppe oder Gemeinde ohne Begleitung rascher und besser zusammen. Gerade in den musikalisch zurückhaltenden Zeiten wie Advent oder Fastenzeit könnte der Kirchenmusiker auch zum Ambo gehen und von dort den Antwortpsalm und den Ruf vor dem Evangelium singen, wenn keine Kantoren zur Verfügung stehen.

… im Zusammenspiel mit dem Raum

Eine Überlegung, die sich hier anschließen kann, betrifft generell das räumliche „Setting“. Welcher Raum ist der jeweils feiernden Gruppe angemessen, und wie lässt sich das musikalisch dann gestalten? Nicht selten werden in Zukunft kleinere Räume zu bevorzugen sein, die idealerweise über ein Tasteninstrument verfügen sollten. Wenn das der Altarraum oder eine Seitenkapelle ist, lässt sich sogar ein differenziertes musikalisches Spektrum ermöglichen: bei einer Messfeier etwa die festliche „Rahmung“ mit großer Orgel, und mit einem Mittelteil – nach dem Gloria bis zur Gabenbereitung oder der Kommunionspendung – mit Keyboard, Gitarre oder Orgelpositiv. Dabei können die Musiker mit der in Frankreich sehr verbreiteten Rolle des „Animateurs“ experimentieren. Bisweilen ist das Animieren zum Singen aus der Nähe singend leichter zu bewerkstelligen als spielend aus großer Entfernung.

Zu wenig genutzt werden noch die Möglichkeiten der Vermittlung, etwa bei einem offenen Singen oder einer Liedpredigt, die sich besonders im Rahmen einer Wort-Gottes-Feier anbietet. Gerade in den geprägten Zeiten gibt es hier Möglichkeiten auf der Grenze zwischen Gottesdienst und Konzert, etwa an einem Abend „zwischen den Jahren“ eine Stunde mit Weihnachtsliedern zum Hören, Singen und Bedenken. Dabei sollten mehrere Rollen sich die Bälle gegenseitig zuspielen: Liedbegleitung mit Orgel, Keyboard, gerne auch Soloinstrument oder Band; Kantor:in oder Vorsingegruppe ein- und mehrstimmig, damit nicht immer „alle alles“ singen; die Gemeinde darf neben den „Hits“ gerne auch etwas Neues singend kennenlernen. Die musikalische Leitung sollte möglichst in Gemeindenähe agieren, damit eindeutige Zeichen für das Hören und das Singen möglich sind. Als Motto eines solchen Abends eignen sich Überschriften wie „O du selige Weihnachtszeit. Lieder zum Mitsingen, Hören und Bedenken“.

Rollen und Repertoire

In den letzten Jahrzehnten lag der Fokus nicht selten auf dem Repertoire, wohingegen das Vorhandensein der entsprechenden Rollen eher vorausgesetzt wurde. Das gemeindliche Repertoire findet sich – durchaus mit großem Konsens akzeptiert – im Gebet- und Gesangbuch Gotteslob. Zugleich gibt es seit Jahrzehnten den „Kontrapunkt“ mit der Liedzeile „Andere Lieder wollen wir singen!“. Auch das war immer möglich und wird so bleiben. Derzeit steht wohl so viel Repertoire aus allen Epochen und für alle Besetzungen bereit wie noch niemals zuvor. Deshalb sind für die Zukunft zwei Dinge besonders wichtig. Erstens ist auch der Umgang mit dem Repertoire ein wichtiges Lernziel für angehende Kirchenmusiker:innen. Da kann sehr viel Kreativität ins Spiel kommen: Gesänge und Lieder können neu miteinander kombiniert werden.

Zweitens stehen viele Gemeinden vor dem Problem der ausfallenden Rollen. Kantor:innen lassen sich trotz werbender Aufrufe nicht finden, oder ein Kirchenchor löst sich auf, weil nach der Pensionierung des Leiters keine Nachfolge gefunden werden kann. Oder weil die Überalterung so zugenommen hat, dass ein freiwilliger und würdiger Abschied besser scheint als ein langwieriges Hinauszögern des Unvermeidlichen. Hier ist die drängende Frage nicht mehr die nach dem, „was“ wir singen, sondern die nach dem „Wie“ und dem „Ob“.

Wo bleibt da die Zukunftsperspektive? Bisweilen ist eine Anpassung des Repertoires an die neuen Möglichkeiten sinnvoll. So kann es zur Mozart-Messe durchaus gute Alternativen geben. Ergänzend ist über neue Rollen nachzudenken. Interessanterweise hat die Corona-Krise vielerorts schlummernde musikalische Charismen geweckt. Als große Chöre nicht singen durften, fanden sich kleine vokale und instrumentale Gruppen, die einzelne Dienste übernommen haben. Das könnte durchaus ein Aspekt der „Zukunftsmusik“ sein! Wichtig bleibt, dass jemand den Überblick behält und dass die Beiträge vieler Engagierter sinnvoll ins Ganze integriert werden – eine musikalisch wie menschlich anspruchsvolle Aufgabe.

Strukturen und Personen „in Zeiten akuten Mangels“

Kirchenmusik vollzieht sich in Strukturen, aber sie steht und fällt zugleich mit den Personen, die sie ausüben. Was aber, wenn dauerhaft keine Personen zu gewinnen sind, etwa für das Orgelspiel? Hierzu hat neuerdings das Bistum Trier eine Arbeitshilfe erstellt, in der die Argumente gut abgewogen werden:

„Vorrang hat immer jene Begleitung des Gesangs, die von Musikerinnen oder Musikern an der Orgel oder anderen Instrumenten im Gottesdienst gespielt wird. Sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft – dazu könnte generell auch eine Anpassung des Angebots von Gottesdiensten an die vorhandenen personellen Ressourcen gehören – und steht keine Organistin und kein Organist zur Verfügung, soll generell geprüft bzw. bedacht werden:

  1. Ist der Einsatz anderer Instrumente möglich, z. B. Klavier, E‑Piano, Gitarre, Flöte etc.?
  2. Ist der Gesang der Gemeinde nicht auch ohne Begleitung möglich, vielleicht sogar besser, als durch ein Orgelselbstspielsystem begleitet?
  3. Stehen ausgebildete Vorsängerinnen oder Vorsänger, Kantorinnen oder Kantoren zur Verfügung, die den Gemeindegesang anleiten, stützen, oder auch in Vertretung der Gemeinde solistisch übernehmen können?
  4. Fehlt all dies, könnten Orgelselbstspielsysteme zum Einsatz kommen. Hierbei ist darauf zu achten, dass nur Teile einer Orgel (z. B. nur ein Manual oder eine Registerauswahl) spielbar gemacht werden. So ist immer eine Abstufung zu echtem Orgelspiel gewährleistet.
  5. Als letzte Möglichkeit (vor allem in besonderen Situationen: z. B. Altenpflegeeinrichtungen) kann die Begleitung des Gesangs durch aufgezeichnete Musik erfolgen.
  6. Nicht vorgesehen ist es, Musik abzuspielen, die den Gesang der Gläubigen ersetzt.“

Wie diese Entwicklung weitergeht, ist derzeit offen. Denkbar ist eine „Aufwärtsspirale“ mit kirchenmusikalisch Interessierten jeden Alters, die sich für eine neben- oder hauptberufliche Ausbildung begeistern lassen. Der Autor dieser Zeilen hat vor 50 Jahren genau aus diesem Grund – die eigene Begeisterung und der Mangel in der Gemeinde – als Jugendlicher die kirchenmusikalische C‑Ausbildung begonnen. Hätte man seinen Eltern und ihm gesagt, dass es da ja auch leicht einsetzbare technische Möglichkeiten gibt, wäre alles vielleicht anders verlaufen.

Zweitens ist auch die „Abwärtsspirale“ denkbar: Für weniger Gottesdienste braucht man weniger Organist:innen, und weil es immer weniger kirchenmusikalisch Engagierte gibt, gibt es noch weniger Gottesdienste … Aber vielleicht ist ja Künstliche Intelligenz ein Zauberwort? Auch hier betreten wir bislang kaum bearbeitetes Neuland. Erste Versuche zum musikalischen Einsatz von KI kommen aus der Pastoral. In Workshops wird gezeigt, wie sich KI‑generierte religiöse Songs „herstellen“ lassen. Die Ergebnisse sind noch nicht überwältigend, aber besser, als von manchen erhofft und von anderen befürchtet. Die Kirchenmusiker:innen verhalten sich bislang distanziert bis uninteressiert, laufen damit aber Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Wenn wir bei der These bleiben, dass das eigene und gemeinsame Singen konstitutiv ist und bleibt, ist an die neue KI die alte Frage zu richten, die bislang an jedes neue Medium gehen musste: Fördert oder hemmt diese Entwicklung das Singen? Man darf gespannt sein!

Ausbildung und pastoral-liturgische Praxis

Das ist ein weiteres Spannungsfeld, das in allen Bereichen des kirchlichen Lebens virulent ist. Lernen die Auszubildenden das Nötige für ihren ehren-, neben- oder hauptamtlichen Dienst? Hier ist einiges nachzujustieren. Im Blick auf die Chorleitung darf es nicht nur darum gehen, den selbstverständlich vorhandenen und vierstimmig singfähigen Chor bestens zu leiten, so wichtig das ist. Vorzubereiten ist auch auf die Situation, dass eine regelmäßige Chorarbeit in eine projektweise überführt wird. Welche Werbemöglichkeiten gibt es dafür und welche Verbindlichkeit muss eingefordert werden? Solche Themen kommen bislang in der Ausbildung leider kaum vor.

Vermutlich wird es in Zukunft weniger regelmäßige Projekte mit „Vereinszugehörigkeit“ geben, dafür aber konzentrierte projektbezogene Möglichkeiten, die ja nicht weniger aufwändig sind. Beim Projekt einer Mozartmesse zum Patrozinium lassen sich vielleicht mehr Sängerinnen und Sänger ansprechen, weil das Ganze zeitlich überschaubar bleibt und nicht an eine Vereinszugehörigkeit gebunden, vor der viele zurückschrecken. Insgesamt braucht es hier viel Fingerspitzengefühl und umsichtige Konzepte: Bis wohin kann eine traditionelle Chorarbeit mit wöchentlichen Proben auch unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten werden, und ab wann ist es besser, diese Arbeit nicht ganz aufzugeben, aber ihre Rahmenbedingungen sinnvoll und transparent zu verändern?

Letztlich ist jedes kirchenmusikalische Ausbildungsfach immer wieder auf seine Praxisrelevanz hin durchzubuchstabieren. Nehmen wir als Beispiel den Gregorianischen Choral. Seine Wichtigkeit ist unbestritten. Aber wären nicht in der Theorie hier Abstriche zu machen zugunsten einer eminent praktischen Zukunftsfrage: Mit welchen Strategien kann eine dauerhafte Präsenz dieser Musik überhaupt erhalten oder neu erreicht werden?

Im Dialog oder im Abseits?

Kirchenmusik der Zukunft wird umso besser gelingen, je intensiver sie in die gesamte Pastoral integriert ist. Dazu gehört vermutlich auch, dass aus der „pastoralen Perspektive“, die von den deutschen Bischöfen für die Kirchenmusik seit 1991 eingefordert wird, mittelfristig ein pastoraler Beruf sui generis wird. Viele Chancen werden verspielt, wenn nicht alle an einem Strang ziehen. Im Hintergrund steht hier auch das Phänomen, dass die Interessenten an kirchlichen Berufen heute viel weniger einheitlich sozialisiert sind, als das noch vor Jahrzehnten der Fall war. Das ist keineswegs zu beklagen, sondern zu berücksichtigen. Bei den Theologiestudierenden gibt es durchaus auch restaurative Tendenzen, wohingegen die Kirchenmusikstudierenden oftmals – etwa aus ihren jugendlichen liturgischen Erfahrungen in Kinderchören oder im nebenberuflich-kirchenmusikalischen Dienst – bereits vertrauter mit den Studienfächern sind. Interessant scheint, dass nicht selten Studierende der Theologie keines der Werke kennen, die im Kirchenmusikstudium den „Kanon“ bilden, während die angehenden Kirchenmusiker mit sehr bekannten Neuen Geistlichen Liedern kaum vertraut sind.

Der Königsweg ist die enge Verzahnung der theologischen und kirchenmusikalischen Ausbildungsbereiche, was noch zu selten gelingt. Kirchenmusik bleibt so ein Segment im gesamtkirchlichen „Konzert“ mit dem Vorteil „Da lass’ ich mir nicht reinreden!“ und dem Nachteil der nur schwach ausgeprägten inspirierenden musikalisch-pastoralen Dialoge. Aber wäre es nicht besser, wenn die Kirchenmusik kein Segment, sondern ein Ferment wäre: eine besondere „Tonart“ der Pastoral, die an vielen Stellen vorkommt und deren Akzeptanz in den Pfarrgemeinden deshalb auch besonders hoch ist?

Hinzu kommt, dass viele pastoral Tätige mit den Chancen hauptberuflicher Kirchenmusik gänzlich unvertraut sind, weil sie das schlichtweg biografisch gar nie erlebt haben. Die Möglichkeit, zu künstlerischen Konzelebrant:innen zu werden – das war bekanntlich das Kompliment des Pariser Erzbischofs an den Organisten Olivier Messiaen –, bleibt verbaut und verwehrt, weil die hierfür nötigen dialogischen Haltungen nie eingeübt wurden.

Vorrang der Quantität oder der Qualität?

Eine letzte und sehr grundlegende Spannung im kirchenmusikalisch-liturgischen Panorama ist die von Quantität und Qualität. Längst pfeifen es die soziologischen und organisationsberatenden „Spatzen“ von den Dächern: In vielen, nein, in allen kirchlichen Bereichen, also bei der Caritas, dem Personal und vor allem bei den Gebäuden, ist die vertraute und fast üppige Quantität nicht mehr zu halten.

Was aber bedeutet das, wenn zugleich die Qualität keinen Schaden nehmen soll? Es erfordert neue „Tonarten“ auch im Reden über Liturgie, und zwar im Sinne einer Qualitätssicherung. Hier stellen sich viele Fragen: Warum sind wir so zögerlich, Probleme der Feierkultur offen und fair anzusprechen? Bislang gilt die Erhaltung der Quantität oftmals als oberstes Gebot. Eine Alternative wäre das Setzen auf die Qualität. Das ist nicht selten schmerzlich, für die Zukunft von Kirchenmusik und Liturgie aber unumgänglich.

Was also braucht die Kirchenmusik der Zukunft? Sie braucht Menschen, die zwischen künstlerischem Anspruch und pastoralem Tun keinen Gegensatz sehen. Kirchenmusik braucht des Weiteren attraktive Stellen mit durchaus verschiedenem „Zuschnitt“: mit stärker regionaler oder gemeindlicher Verantwortung, mit vokalen und instrumentalen Anteilen, pädagogisch wie künstlerisch, gottesdienstlich und konzertant, klassisch und popmusikalisch. Sehr wichtig ist zudem die Einbindung der Stelleninhaber:innen in ein Kollegium. Stärker als in den letzten Jahrzehnten muss die Kirchenmusik bei der Kirche, in der Gesellschaft und bei vielen Einzelnen heute um Sympathie, Unterstützung und auch um Geld werben, etwa mit „Instrumenten“ des Fundraisings. Nicht zuletzt von ihrer Dialogfähigkeit und der Kreativität, die letztlich unlösbaren Spannungen sinnvoll zu gestalten, die sich in der Geschichte bereits vielfach bewährt hat, wird die Zukunft der Kirchenmusik abhängen.