Was feiern wir mit wem?
„Kasualfeiern“ als Perspektivwechsel im Gottesdienstverständnis
Gottesdienst wird gerne als das Aushängeschild der Kirche bezeichnet. Und das liegt nahe: Es sind die Gottesdienste, über die die Kirche – auch nach außen – wahrgenommen wird. Sei es, dass man zu bestimmten Anlässen auf dem Lebensweg (Geburt/Taufe, Hochzeit/Trauung, Tod/Bestattung) zum Gottesdienst eingeladen wird, sei es, dass man die Kirchen durch öffentliche Gottesdienste anlässlich von Ereignissen mit gesellschaftlicher Relevanz (Tag der deutschen Einheit, Katastrophen) wahrnimmt. Und die regelmäßigen Gemeindegottesdienste erlebt nicht nur der (mehr oder weniger regelmäßige) sonntägliche Kirchgänger, sondern zu hohen Festen (Weihnachten) kommen auch solche, die seltener den Weg in die Kirche finden. Immer gilt: Was man von Kirche mitbekommt, sind v. a. die Gottesdienste.
Gottesdienst in der Krise? Wie sich die Situation darstellt
Es stellt sich die Frage: Wenn Gottesdienste das Aushängeschild der Kirche sind – wer fühlt sich (noch) von diesem Schild eingeladen einzutreten? Was nehmen diejenigen, die diesen Schritt gehen, aus dem Gottesdienst mit? Und werden sie wiederkommen? Kirche hat – zumindest wenn sie in bisherigen Denkmustern bleibt – damit zu kämpfen, dass die alten Logiken nicht mehr greifen: Die Menschen entscheiden selbst, ob sie eintreten wollen; ein Sonntagsgebot „zieht“ nicht nur nicht mehr, sondern wird von vielen als lächerlich empfunden. Und auch wenn sich Kirche als moralische Instanz versteht, die absolute Werte verkörpert, die den Menschen unbedingt angehen, so entscheiden die Menschen doch selbst, ob sie das für sich persönlich als relevant empfinden und ob sie sich „den Schuh anziehen“. Und schließlich, selbst wenn man mit guten Eindrücken und geistlichem Gewinn geht, ist noch lange nicht gesagt, dass man auch wiederkommt. Kurzum, wir haben es mit religiösen Passanten zu tun, die selbst entscheiden, ob sie kommen, was sie mitnehmen und ob sie wiederkommen. Es liegt auf der Hand, dass das nicht dem theologischen Selbstverständnis des Gottesdienstes entspricht, der nicht weniger für sich in Anspruch nimmt, als dass sich in ihm „das Werk unserer Erlösung“ vollzieht (Sacrosanctum concilium 2), und als Repräsentation der Kirche gedeutet wird. Wenn – aus herkömmlicher Perspektive – Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen, dann muss näher hingeschaut werden.
Was sofort ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass das theologische Konzept einer Kirche, die aus der Eucharistie heraus lebt, offensichtlich in der Praxis nicht mehr ohne weiteres trägt. Auf der einen Seite steht der Anspruch, dass v. a. die Teilnahme am eucharistischen Opfer „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ sei (Lumen gentium 11) und die Kirche von der Eucharistie lebt (vgl. Johannes Paul II., Ecclesia de eucharistia 1). Dem steht gegenüber, dass immer weniger Angehörige der eigenen (römisch-katholischen) Kirche aus dieser Quelle heraus leben – wie die regelmäßigen Erhebungen der Mitfeiernden des sonntäglichen Gottesdienstes in der Bundesrepublik Deutschland zeigen: Haben 1950 noch 50,4 Prozent den Sonntagsgottesdienst mitgefeiert, hat die kontinuierliche Talfahrt dieses Wertes im Jahr vor der Corona-Pandemie die 9,1 Prozent erreicht. Ernüchternd ist, dass man daran nach der Pandemie nicht mehr anknüpfen konnte: 2024 waren es nur 6,6 Prozent – wohlgemerkt der Kirchenangehörigen, von denen man theologisch eine 100-prozentige Teilnahme erwarten müsste. Was nicht verschwiegen werden soll, ist die aufschlussreiche Beobachtung, dass die sonntägliche Übertragung eines Gottesdienstes im ZDF von 600.000 bis 1.000.000 Menschen wahrgenommen wird. Wenn man die weiteren Übertragungen in Regional- und Sparten-Sendern sowie die Internetstreams hinzunimmt, ergibt sich eine unglaublich hohe Zahl. Doch eben diese Beobachtung führt wahrscheinlich zum Kern des Problems. Denn es sind offenbar nicht nur kranke und gebrechliche Menschen, die zuhause den Gottesdienst „rezipieren“ (ob anschauen oder mitfeiern, muss offenbleiben) – auch wenn das Angebot ganz ursprünglich für sie gedacht war.
Was kann man daraus ablesen, dass die Kirchen sich leeren (2024: 1,3 Mio. Gottesdienstteilnehmer deutschlandweit), aber noch einmal halb so viele Menschen einen einzelnen Gottesdienst am Bildschirm verfolgen (2024: 640.000 beim ZDF)? Ohne die Betroffenen fragen zu können, ist so viel ganz offensichtlich: Sie haben offenbar nicht das Bestreben, Teil des Prozesses zu sein, in dem der Leib Christi durch die Kommunion gefestigt wird, und suchen nicht jene Gemeinschaft, die durch die Eucharistie entsteht, wenn diese die Kirche auferbaut (vgl. Ecclesia de eucharistia 23 f.). Denn dann würden sie sich nach Möglichkeit der feiernden Gemeinschaft im Kirchenraum anschließen und nicht alleine zuhause mitfeiern. Was diese Menschen suchen, und es ist eine erhebliche Zahl, folgt offenbar individuelleren Vorstellungen. Und dass es sich tatsächlich um individuelle Bedürfnisse handelt, bestätigt die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU), die turnusgemäß von der evangelischen Kirche durchgeführt wurde, aber an der dieses Mal die römisch-katholische Kirche beteiligt war. Sie untersucht nämlich auch, was die Menschen aus der Bevölkerung insgesamt von einem Gottesdienst erwarten und aus welchen Anlässen sie teilnehmen.
Kasualgottesdienste als Antwort? Feiern von Fall zu Fall
So benennt die Untersuchung, dass für 89 Prozent der Menschen, die im vergangenen Jahr mindestens einmal im Gottesdienst waren, sogenannte „Kasualgottesdienste“ der Anlass für einen Gottesdienstbesuch waren. Dabei geht es um familiäre Anlässe wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung. Der einzige Anlass, der auch nur annähernd in die Nähe dieses Wertes kommt, ist der Gottesdienst anlässlich hoher Feiertage wie Heiligabend oder Weihnachten, den 80 Prozent mitfeiern. Der reguläre Sonntagsgottesdienst verliert demgegenüber auch nach Erkenntnis der 6. KMU kontinuierlich an Bedeutung.
Aufschlussreich ist auch die Erwartung an den Gottesdienst: 81 Prozent erwarten eine ansprechende Atmosphäre, 70 Prozent eine gute Predigt, 62 Prozent moderne Sprache. Das sind die „Top Drei“. Hingegen erwarten nur 54 Prozent die Stärkung ihres Glaubens und sogar nur 25 Prozent das Erleben von Heiligem – beides Aspekte, die man aus theologischer Sicht als zentralen Kern des Gottesdienstes bezeichnen könnte.
Die 6. KMU selbst zieht daraus das naheliegende Fazit: „Lebensrealitäten berücksichtigen“! Genau diesen Aspekt stellen die sogenannten Kasualgottesdienste deutlicher in den Vordergrund als der regelmäßige Gottesdienst im wöchentlichen Rhythmus. Denn als Kasualien werden – v. a. in der evangelischen Kirche – die liturgisch geordneten kirchlichen Handlungen mit Ausnahme des sonntäglichen Gottesdienstes bezeichnet. Im Unterschied zu Letzterem werden die kasuellen Feiern nicht an regelmäßig wiederkehrenden Daten des Kalender- oder Kirchenjahres, sondern aus einem bestimmten Anlass gefeiert. Sie beziehen sich auf eine einmalige und einzigartige Situation (casus) im Leben des einzelnen Christen.
Auch wenn der Begriff der Kasualgottesdienste aus dem evangelischen Kontext stammt, so stimmt natürlich der Hinweis, dass auch die Katholiken ebenso Taufe, Firmung, Hochzeit und Beerdigung gottesdienstlich begehen. Doch als Sakramente und Sakramentalien begangen, wird in der katholischen Theologie der Aspekt des Paschamysteriums und damit das Heil, das Gott den Menschen schenken möchte, stärker in den Vordergrund gerückt. Kasualgottesdiensten geht es auch darum, aber ihr Ansatzpunkt und damit die Perspektive auf die gleiche Sache sind andere: Ausgangspunkt ist das Erlebte, an das die Frage des Umgangs damit anknüpft. Denn erst durch diesen Umgang erschließen sich Menschen den Sinn des Erlebten. Das, was mehr oder weniger bewusst fortwährend im Alltag passiert, verdichtet sich an den Knotenpunkten des Lebens. Sehr pointiert stellt der evangelische Theologe Wilhelm Gräb gegenüber, was der Anspruch bzw. die Chance der beiden genannten Gottesdienstformen ist: „Hier ruht sie [die kirchliche Lehre] nicht nur auf institutionellem Geltungsschutz auf, wird nicht nur klerikal behauptet, daß das Evangelium alle angehe. Hier erschließt es sich vielmehr dergestalt in seiner Bedeutsamkeit, daß diese auch allen oder fast allen einleuchtet, sie im eigenen Interesse sich an seiner Ausrichtung beteiligt wissen möchten“ (Gräb 1997, 220).
Das Gesagte gilt für die klassischen Kasualien, zu denen v. a. die erwähnten familiären Anlässe wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung zählen. Doch man muss angesichts zunehmend individualisierter und damit zunehmend weniger normierter Lebensläufe die Anlässe weiterdenken. Und dann tritt beispielsweise neben die klassische Trauung auch ein Segensgottesdienst für unterschiedliche Paare oder sogar für Menschen, deren Beziehung gescheitert ist („Scherbengottesdienst“). In einer solchen Weitung durch den Blick auf das Leben der Menschen liegt das zeitlose und somit zukunftsträchtige Potential dieser Feiern. Denn in ihnen geht es um das „Ich“ der Menschen. Sie eröffnen rituell gestaltete Räume, in denen das individualisierte Selbst zum Thema wird.
Das ist natürlich ein anderer Ansatz, als von der christlichen Botschaft auszugehen, die sich nach kirchlichem Verständnis mit den jeweiligen gottesdienstlichen Feiern verbindet. Auch wenn es letztlich darum geht, beides – das individualisierte Selbst und die Zuwendung Gottes – „zusammenzubringen“, macht es einen entscheidenden Unterschied, wo man ansetzt, wenn aus der Sicht der Feiernden die Feiern eine Plausibilität im Hinblick auf ihr Leben haben sollen. Dabei geht es nicht um ein strategisch geschicktes Vorgehen, wenn sich die Erwartung der Menschen an eine Feier nicht mehr mit den kirchlichen Vorstellungen deckt. Wer so denkt, strebt letztlich eine Verkirchlichung der Mitfeiernden an. Stattdessen sollte die Motivation eine Lebenshilfe aus dem Glauben sein. Doch die gelingt nur, wenn auch im Hinblick auf die Feier das oben geforderte Primat der Lebenssituation vor dem postulierten Geltungsanspruch des Evangeliums gilt. Der Geltungsanspruch des Evangeliums wird nicht aufgegeben, aber er muss im Hinblick auf die Lebenssituation der Menschen eingelöst werden.
Angesichts heutiger und zukünftiger soziologischer Entwicklungen werden „Gottesdienste der Zukunft“ dann für die Menschen Bedeutung haben können, wenn sie einen Mehrwert in der Weise vermitteln, dass die Teilnehmenden eine Lebensdeutung erfahren, die an anderen Orten so nicht ermöglicht wird. Dazu muss das Verhältnis von Individuum und Botschaft der Feiern im Zentrum stehen. Doch damit Letztere eine Relevanz für die Menschen entfaltet, muss von der Lebenssituation ausgegangen werden. Ansonsten würde man die sog. „Kasualienfrommen“ als „defizitäre Kirchenfromme“ verstehen, so Rainer Bucher (2010, 145). In der Folge wäre das Ziel nicht, die Situation der Menschen wahrzunehmen und zu deuten, sondern deren Defizite gemessen an der christlichen Botschaft der Kirche auszugleichen. Doch das ist kein Konzept für die Zukunft – unbestritten dessen, dass es neben diesen stärker kasuell ausgerichteten Feiern auch Gottesdienste geben muss, die der „Selbstvergewisserung“ der Kirche dienen, oder mit den Worten der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils: als Höhepunkt, dem das kirchliche Leben zustrebt, und Quelle, aus der es sich speist.
Gottesdienst als Ritendiakonie? Auch eine Frage an die Gottesdienste der Zukunft
Gottesdienste mit Ritendiakonie in Verbindung zu bringen, sie also als ein rituelles Angebot in diakonischer Absicht zu verstehen, wirft Fragen auf, die einen Klärungsbedarf anzeigen. Denn einerseits will Gott ja im Gottes-dienst den Menschen dienen und ihnen sein Heil zukommen lassen. Und der Kirche, die diese Gottesdienste feiert, ist ebenfalls die Sorge um den Nächsten aufgetragen. Insofern ist die diakonische Dimension der Liturgie unbestritten. Aber wird man wirklich sagen können, dass sich an der Diakonie die Glaubwürdigkeit der Liturgie bemisst? Denn andererseits wollen Gottesdienste Gott die Ehre erweisen. Sie sind auch ein Dienst der Menschen vor Gott, der sich in Gebet und Anbetung ausdrückt. Beides ist richtig; beides ist wesentlicher Bestandteil der Liturgie. Und es ist sowohl eine Vereinseitigung in der Liturgie, nur eine Gott geschuldete Anbetung zu sehen, als auch, sie in den Dienst bestimmter Zwecke zu stellen – und sei die Absicht noch so nobel, wie z. B. die diakonische Zuwendung zum Nächsten. Liturgie wird – nicht zuletzt im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils – recht verstanden als „Miteinander und Ineinander von Heilszuwendung Gottes und seiner Verehrung“ durch die Gläubigen und als ein „Dialog zwischen Gott und Mensch“, der von Gott eröffnet wird (Lengeling 1981, 91).
Insofern sind Gott und Mensch im Gottesdienst gleichermaßen im Blick zu halten. Allerdings ist es legitim, mehr noch: notwendig, Akzente zu setzen. So dient die sonntägliche Eucharistiefeier in dem Sinne dem Aufbau der Kirche, als in ihr die Gläubigen den Leib Christi in Gestalt von Brot und ggf. Wein empfangen, um auf diese Weise immer enger mit Christus verbunden zu werden und so selbst Leib Christi zu sein. Gottesdienst ist so gesehen Repräsentation der Kirche. Mit den Worten von Lumen gentium (Nr. 11): „Durch den Leib Christi in der heiligen Eucharistiefeier gestärkt, stellen sie sodann die Einheit des Volkes Gottes, die durch dieses hocherhabene Sakrament sinnvoll bezeichnet und wunderbar bewirkt wird, auf anschauliche Weise dar.“
Dieses hohe theologische Programm, das die Kirche grundsätzlich nicht aufgeben kann, drückt sich in einem über 2000 Jahre gewachsenen Ritual aus, das in seiner Komplexität und Verdichtung dem theologischen Anspruch gerecht wird – aber das sich nicht ohne weiteres einem Hinzutretenden erschließt. Um es gewinnbringend mitfeiern zu können, braucht es Vorwissen und auch Einübung. Das sind aber Momente, die in nach-volkskirchlichen Zeiten aufgrund einer nicht mehr selbstverständlichen kirchlich-christlichen Sozialisation immer seltener gegeben sind. Will man mit Menschen Gottesdienst feiern, die vom Standpunkt des kirchlichen Lebens aus eher am Rande stehen, dann wird man die Situation dieser Menschen mehr in den Blick nehmen müssen. Das betrifft erstens den Bezug dieser Menschen zum Gottesdienst, nämlich – wie schon erwähnt – deren fehlendes Vorwissen und nicht gegebene gottesdienstliche Praxis. Das betrifft aber auch den Bezug dieser Menschen zur Kirche: Sie lassen sich in keine „Sonntagspflicht“ nehmen, sondern entscheiden vielmehr selbst – wie gesagt –, ob sie kommen, was sie mitnehmen und ob sie wiederkommen. Als religiöse Passanten werden sie voraussichtlich nicht wiederkommen, wenn sie den Eindruck haben, „eingemeindet“ werden zu sollen. Was heißt das für die Feier des Gottesdienstes mit diesen Menschen? In der Gestaltung werden solche Gottesdienste „niederschwellig“ sein müssen – nicht hinsichtlich der christlichen Botschaft, sondern der Feierformen, die den Zugang zu dem, was gefeiert wird, leicht machen müssen. Und das, was gefeiert wird, sollte nicht von der kirchlichen Lehre (erst recht nicht moralisch oder dogmatisch) erschlossen werden, sondern ausgehend von den Lebensbereichen der Menschen. Diakonisch wird das Ganze dann insofern, als hier eine Lebenshilfe durch rituelle Gestaltung und ein Deutungsangebot der eigenen Situation aus dem christlichen Glauben heraus angeboten werden.
Doch tatsächlich stellt sich die Frage, was ist, wenn die Feiernden zwar ein „rituelles Angebot“ suchen, aber explizit nicht Teil des gott-menschlichen Dialogs sein wollen oder dies zumindest offenbleibt. Die Frage ist, ob die Zuwendung Gottes angenommen wird und ob es eine Antwort auf Gottes Zuwendung gibt, kurzum: ob es zum Beten kommt. Wenn nicht, kann man schwerlich noch von Gottesdienst im herkömmlichen Sinne sprechen, und man sollte auch tatsächlich darauf verzichten – wohlgemerkt: nicht aus theologischer Kleinlichkeit heraus oder aus Angst, „Perlen vor die Säue“ zu werfen (Zitat aus der Praxis), sondern um den Menschen gerecht werden, die dennoch gekommen sind. Doch ist dann Kirche überhaupt noch zuständig? Die deutschen Bischöfe haben dies zwischenzeitlich klar bejaht: Es ist eine Chance, als Kirche Menschen bei der Deutung einer Lebenssituation zu helfen und als Gesprächspartnerin, die die Fragen und Bedürfnisse der Menschen ernst nimmt, präsent zu sein – so im Schreiben „Christus in der Welt verkünden“ (2021).
Das Schreiben hat sich für die Bezeichnung „Liturgienahe Feiern“ entschieden und bestimmt damit die Feiern theologisch: Sie erheben nicht den Anspruch, Liturgie zu sein, aber orientieren sich dennoch als kirchliches Angebot inhaltlich und rituell an ihr. Sie wollen den Feiernden eine geistliche Erfahrung ermöglichen, gehen aber nicht davon aus, dass diese mit gottesdienstlichen Formen vertraut sind, und setzen bei ihnen auch nicht den christlichen Glauben voraus. Doch diejenigen, die seitens der Kirche diese Feier anbieten, tun dies erklärtermaßen vor dem Hintergrund ihres Glaubens. Offen bleibt aber, ob die Feiernden sich dem christlichen Glauben annähern (wollen); sie wissen allerdings, dass es Christen sind, die auf der Grundlage ihres Glaubens eine Feier anbieten. Diese Feiern rücken damit ganz im Sinne der oben beschriebenen Kasualien die Bedürfnisse der Mitfeiernden noch deutlicher als sog. niederschwellige Gottesdienste in den Vordergrund und machen sie sogar zum Bezugspunkt. Sie sind somit theologisch anders bestimmt als die (regulären) Gottesdienste, die sich als kirchlicher Selbstvollzug verstehen, und können und wollen daher nicht an deren Stelle treten.
Zukünftig: Das eine tun, ohne das andere zu lassen
Die erste Unterscheidung, die keineswegs alle Variationen abdeckt, zwischen regulären Gottesdiensten im herkömmlichen Sinne, Gottesdiensten mit Menschen (aus kirchlicher Perspektive) am Rande und liturgienahen Feiern, zeigt, dass die Akzente ganz unterschiedlich gesetzt werden können – und je nach Kontext gesetzt werden müssen. Es sind Akzente und somit die Übergänge fließend. Denn wer wollte in Abrede stellen, dass auch die reguläre Sonntagsmesse nicht nur die Kirche repräsentiert und das Paschamysterium feiert, sondern sich auch die feiernden Menschen einbringen können sollen. Doch dieser Aspekt kann in anderen Feierformen – in abgestufter Weise – deutlicher in den Vordergrund treten und sogar zum Leitmotiv werden. Dafür kann man sich durch kasuelle Feiern, auf die die 6. KMU den Blick lenkt, hinsichtlich der „Gottesdienste der Zukunft“ sensibilisieren lassen. Erstrebenswert wäre, das Profil aller Feierformen jeweils zu schärfen, doch wird die kasuelle Ausrichtung zukünftig mehr Beachtung finden müssen, wenn man die Menschen erreichen möchte. Denn es geht nicht darum, Menschen nach bisheriger volkskirchlicher Gepflogenheit (hauptsächlich) mit Sakramenten zu „versorgen“, sondern um eine sensible Wahrnehmung von deren Situation. Will man dies auf den missionarischen Anspruch der Kirche beziehen, dann ist das Ziel der kirchlichen Rituale nicht, neue Christen zu gewinnen, sondern die Begegnung der christlichen Botschaft mit dem konkreten Leben der Menschen. Dann könnte Gottesdienst zu einer „gefeierten Evangelisierung“ werden.
