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Identität in kirchlichen Einrichtungen

Gerade in Ostdeutschland arbeiten in kirchlichen Einrichtungen wie Kran­ken­häusern, Pflegeheimen und Kindertagesstätten Menschen, die nicht getauft sind und keiner Kirche angehören. Das muss aber kein Nachteil sein für die Identität der Einrichtung. Mechthild Gatter beschreibt eine christ­liche Identität, die ein gutes, erfüllendes Leben unterstützt und sich damit auf einer anderen Ebene als der einer formalen Zugehörigkeit realisiert.

Sie kennen das: In einer Verkehrskontrolle werden Sie angehalten. Sie müssen sich ausweisen und beweisen, dass Sie Auto fahren dürfen. Es wird geprüft, ob Sie und das Fahrzeug fahrtauglich sind und nicht nach Ihnen und dem Auto gefahndet wird. Ähnlich beim Grenzübertritt: Man schaut Ihnen grimmig ins Gesicht, vorhandene Stempel werden über­prüft und ein weiterer hinzugefügt. Im Fernsehkrimi oder im wahren Leben muss ein Gewaltopfer identifiziert werden.

Alles keine schönen Situationen. Was passiert da?

Sicherheitsorgane überprüfen, ob Sie die Person sind, über die einige Merk­male auf dem Personalausweis oder Pass vermerkt sind, und ob Sie das tun dürfen, was Sie gerade tun. Und doch sind Sie viel mehr als diese Merkmale.

Angehörige oder Freunde müssen z. B. feststellen: „Ja, der Tote ist N. N.“ Was sagen sie damit? Es gibt ja zu dieser verstorbenen Person nicht nur einen Namen, sondern auch Geschichten, Träume, Entwicklungen und Erinnerungen …

Von Sportlern oder Fans wird manchmal berichtet, dass sie sich mit dem Verein XY total identifizieren. Doch was heißt das? Der Sportler wird u. U. dafür bezahlt, für diesen Verein Leistung zu bringen und erfolgreich zu sein. Doch was ist, wenn der Erfolg ausbleibt? Was sagt es über einen Fan aus, der mit der Aufschrift „FC XY – meine Liebe“ auf seinem T‑Shirt angetrunken aus dem Stadion stolpert?

Ähnlich im kirchlichen Raum. Was bedeutet es, wenn jemand sagt, er würde sich total mit der Kirche identifizieren? Womit oder mit wem dann genau?

Identität (lateinisch idem: derselbe) will beschreiben, was das Wesent­liche ist und eine Sache oder eine Person von einer anderen unter­scheidet. Der Begriff wird in der Philosophie und Mathematik ebenso angewendet wie in der Psychologie und der Politik. Das erschwert es m. E. zu beschreiben, was mit dem Begriff Identität gemeint ist.

Wenn von Menschen und Identität die Rede ist, geht es um ein Innen und Außen i. S. v. Selbst- und Fremdbeschreibungen/​‑wahrnehmun­gen. Diese aber werden wiederum beeinflusst durch z. B. soziale, kultu­relle und religiöse Beziehungen und unterliegen somit ständigen Pro­zessen.

Was hat Identität mit kirchlichen Einrichtungen zu tun? Oder anders gefragt: Gibt es eine gute und eine schlechte, eine richtige und falsche Identität? Welche sind die Kriterien dafür? Wer legt die Kriterien fest? Was sind die Konsequenzen? Wie also sieht Identifikation in oder mit einer (kirchlichen) Einrichtung aus? Ist nach Leitbild- und Profildiskus­sion jetzt die Identitätsdiskussion „dran“? Ist die Identitätsthematik nur eine Umschreibung für die Frage, welche Kriterien Mitarbeitende in kirchlichen Einrichtungen erfüllen müssen und ob nichtkatholische Mitarbeitende in einer katholischen Organisation mitarbeiten können? Dass sie es können, zeigen die vielen nichtkatholischen und ungetauf­ten Mitarbeitenden in kirchlichen Diensten und Einrichtungen!

Schauen wir uns das genauer an: Dienste und Einrichtungen der Caritas nehmen sich der Not von Menschen an. Menschen bekommen ein Zu­hause, werden gepflegt und erfahren Zuwendung. In der Beratung wer­den gemeinsam Möglichkeiten erarbeitet, das Leben besser zu gestalten und Wege aus ausweglosen Situationen zu finden. Den Menschen soll Recht zuteilwerden und die Übersehenen eine Stimme bekommen. Die konkrete Ausgestaltung ist in den jeweiligen Leitbildern, Satzungen und Konzeptionen nachzulesen.

Sich anderer Menschen anzunehmen ist zutiefst menschlich, es ist christ­lich, aber andere tun das auch. Was ist dann bei Christen anders?

Als Christen glauben wir – und die biblische Erzählung beschreibt es –, dass Gott den Menschen nach seinem Bild schuf und immer wieder schafft. „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Ab­bild, uns ähnlich“ (Gen 1,26); „Gott schuf also den Menschen als sein Ab­bild; als Abbild Gottes schuf er ihn“ (Gen 1,27). Gott ruft den Men­schen ins Leben, er schenkt jedem von uns Fähigkeiten und Gaben (Charismen) und entlässt uns in Freiheit. Das heißt: Gott ist in der Welt. Wir Christen sagen: Menschenbegegnung ist Gottesbegegnung, Nächs­tenliebe ist Gottesliebe. Im Blick auf kirchliche Einrichtungen bedeutet das: Wo und in welcher Rolle auch immer (als Patient, Klient, Sozial­arbeiter, Krankenschwester, Erzieherin, Chef) sich Menschen begegnen, einander annehmen und füreinander Sorge tragen, ist Gott da!

Biblische Geschichten sind oft Berufungsgeschichten. So soll Abraham zum Segen werden, indem er das bisher Gewohnte hinter sich lässt (Gen 12,1–2). Jesus will bei Zachäus, der von der Gesellschaft verachtet wird, Gast sein (Lk 19,1–10). Aus einfachen Menschen beruft Jesus seine Mit­arbeiter und nennt sie bei ihrem Namen (Lk 6,12–16).

Der Klassiker unter den Caritasgeschichten ist das Gleichnis vom barm­herzigen Samariter (Lk 10,25–37). Es erzählt, dass die „kirchlichen Mit­arbeiter“ den „unter die Räuber Gefallenen“ vor lauter Diensteifer und Beachtung der Vorschriften liegenlassen und der „Nichtgläubige“ sich der Not und Verwundungen des Mannes annimmt und weitere (den Wirt) in die Hilfe einbindet.

Die meisten auch der heutigen Menschen treibt die Frage um, wie gutes Leben aussieht. Für Christen heißt die Frage, was sie tun müssen, um in den Himmel zu kommen (Mt 25,31–46). Das sogenannte Sozialwort der evangelischen und katholischen Kirche „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 stellt den Zusammenhang so dar: „Jesus Christus macht die Entscheidung über die endgültige Gottesgemein­schaft der Menschen abhängig von der gelebten Solidarität mit den Ge­ringsten. […] Die versöhnliche Begegnung mit den Armen, die Solidari­tät mit ihnen, wird zu einem Ort der Gottesbegegnung“ (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1997, 106). Die Antwort Jesu in der biblischen Ge­schichte lautet nicht, dass dein Leben gut ist, wenn du (katholisch) getauft bist, wenn du am Sonntag in die Kirche gehst, wenn du jeden Tag betest … Das entscheidende Kriterium ist die Hinwendung zum Anderen: Hungernden geben, was sie zum Leben brauchen, Dürstenden ihre Sehnsucht stillen, Heimatlosen ein Zuhause geben, Bloßgestellte schützen, Unwissenden die Möglichkeit zum Lernen geben … Christen nennen diese guten Taten Werke der Barmherzigkeit. Die deutschen Bischöfe beschreiben sie als Magna Charta der Caritas (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1999, 12). Sie sehen in der vorbehaltlosen Annahme und Hilfe den Ort der Gottesbegegnung und damit die Basis für die Mitarbeit von Nichtchristen: „Gott selbst steht für den Menschen ein. Wenn darum jemand vorbehaltlos den Menschen annimmt und ihm hilft, trifft er bewußt oder unbewußt auch immer den, der sich mit den Menschen identifiziert: Gott in Jesus Christus. Dafür steht der auf­er­standene Herr ein: Selbst erfüllt vom Heiligen Geist, hat er den Geist ausgegossen über alle Menschen. Dieser Geist Gottes weht, wo er will. Wo immer Menschen sich wirklich der vorbehaltlosen und selbstlosen Liebe öffnen, geschieht es in der Kraft dieses Heiligen Geistes. Das ist die gemeinsame Basis, auf der die Caritas auch zusammenarbeiten kann mit Nichtchristen, die guten Willens sind“ (ebd. 13).

Martin von Tours, den wir als Heiligen verehren, war kein Christ, als er seinen Mantel mit dem Bettler teilte. Erst nach der Begegnung mit dem Armen wurde ihm klar, dass er Gott begegnet ist. Wenn wir diesem Gott der Bibel vertrauen, dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott in jedem Menschen wirken kann!

Es bleibt dennoch die Frage, was eine Einrichtung zu einer kirchlichen Einrichtung macht. In der dargestellten Logik bedeutet es, dass eine Einrichtung, in der Menschen ihr Tun biblisch deuten und leben und diesen Deutungshorizont auch anderen anbieten, eine kirchliche Ein­richtung ist.

An dieser Stelle möchte ich den Begriff Kultur einführen. Kultur (von lateinisch colere) bedeutet „anbauen“, „wachsen lassen“, „pflegen“. Ich schla­ge vor, statt von Identität, also dem starren Abgleich bestimmter Krite­rien, von Kultur, von der Ermöglichung von Prozessen zu sprechen. Dafür braucht es allerdings angesichts der hohen Arbeitsverdichtung Raum und Zeit.

Joachim Reber beschreibt Caritaskultur als Unterbrechen, Reflektieren und Beten (vgl. Reber 2011). Eine kirchliche Einrichtung muss den All­tag, die oft schwierige Realität in Beziehung zum liebenden Gott brin­gen. Für Reber besteht die Plausibilität der kirchlichen Botschaft in Glaubwürdigkeit statt in autoritären Kriterien. In einer kirchlichen Einrichtung muss erfahrbar werden, dass der Dienst am Menschen unterbrochen, reflektiert und „bebetet“ werden muss und kann. Er muss mit Gott in Verbindung gebracht werden und glaubwürdig (vor‑)​gelebt werden. Auf einer Werbung für christliche Weihnachtskarten habe ich neulich ein Motiv von Christel Holl gefunden, das den Titel trug „Mitten in der Not schlägt Gott sein Zelt auf“. Gott ist da und jede(r) kann in sein schützendes Zelt kommen.

Der Prophet Jesaja (Jes 58) erzählt, dass Menschen, die anderen zur Freiheit verhelfen, die von dem, was sie haben, abgeben, die Menschen Heimat geben, die gut über andere reden, wie Licht seien und Gott erfah­ren werden. Sie werden beschrieben als „Maurer, der die Risse ausbessert [und] die Ruinen wieder bewohnbar macht“. Was für eine schöne Stellenbeschreibung!

Fazit

Wir dürfen vertrauen, dass Gott immer schon da ist und in jedem Men­schen wirken kann. Charakteristisch für Mitarbeitende in kirchlichen Einrichtungen (i. S. v. Kriterien für Identität) sind Fachlichkeit sowie die Bereitschaft und Fä­higkeit, sich auf das zwischenmenschliche Bezie­hungs­geschehen und auf das Welt-, Menschen- und Gottesbild des jeweils anderen einzulassen (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofs­konferenz 2009, 41).

Papst Benedikt beschreibt dies in der Enzyklika Deus caritas est mit beruflicher Kompetenz und Herzensbildung oder nach dem Sozialwort braucht es Menschen, die Solidarität mit den Geringsten leben. Nach Jesaja brauchen kirchliche Einrichtungen Maurer, die Risse im Leben ausbessern und Ruinen wieder bewohnbar machen.

Um den Alltag in Beziehung zu Gott bringen zu können, muss in kirch­lichen Einrichtungen eine Kultur der Unterbrechung, des Reflektierens und des Betens (Sprechen mit Gott) gepflegt werden. Dazu gehören tra­ditionelle Formen gelebter Spiritualität wie geistliche Impulse, Besin­nungstage, Gottesdienste und Wallfahrten, die den Arbeitsalltag in verständlicher Sprache deuten helfen. Darüber hinaus braucht es aber auch den Mut, neue Formen auszuprobieren und Mitarbeitenden etwas zuzutrauen. Mitarbeitende müssen Zeiten und Räume zur Verfügung haben, um Prozesse des Wachsens zu ermöglichen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der Fragen und Gespräche über „Gott und die Welt“ nor­mal sind. Kirchliche Einrichtungen brauchen Seelsorger(-innen), die den Alltag kennen und die Freuden, aber auch das Schweigen, die Wut und die Trauer darin aushalten und deuten können.

Zwei Beispiele mögen erläutern, was ich meine: Die Versorgung Verstor­­bener und die Gestaltung der Verabschiedung sind in einem Caritas-Alten­pflegeheim klar geregelt. Wenn der Hausgeistliche, der Ortspfarrer oder die Einrichtungsleitung nicht da sind, übernehmen dies auch nichtchristliche Mitarbeitende. Und es ist zu spüren, dass sie es mit großer Ehrfurcht und Hingabe tun und nicht nur Qualitätskriterien erfüllen.

Auf dem Hof unserer Geschäftsstelle steht eine Marienfigur. Mitarbei­tende aus dem benachbarten Caritas-Altenpflegeheim kommen bei schönem Wetter oft mit Bewohner(inne)n dorthin. Eine Mitarbeiterin erkundigt sich, wer denn diese Frau ist, und erfährt, dass es für uns die Gottesmutter Maria ist. Sie antwortet, dass sie sich das schon gedacht hat, und sie komme gerne mit den Bewohnern, weil dieser Ort ihr und den alten Menschen guttut.

Hagar (hebräisch: die „Fremde“) gibt Gott den Namen: Du bist ein Gott, der nach mir schaut (vgl. Gen 21,8–21). Das muss erfahrbar sein für Klienten, Bewohner, Patienten und Mitarbeitende. Es geht um mehr als Kriterien wie Konfessionszugehörigkeit und Loyalitätsobliegenheiten, es geht um Gottes Wirken in der Welt.