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Was ist Armut?

Arm ist, wer nicht reich ist? Das greift zu kurz: Clemens Sedmak begreift Armut wesentlich als soziale Ausgrenzung – und erläutert Aspekte, Folgen und Risiken der Armut, die sich auch vor unserer Haustür findet.

Armut ist soziale Ausgrenzung; soziale Ausgrenzung ist die nicht gewollte Unfähigkeit, an standardisierten kulturellen Aktivitäten teil­zuhaben. „Nicht gewollt“ bezieht sich auf den Unterschied zwischen „Fasten“ und „Hungern“. Essen ist – neben einer biologischen Notwen­digkeit – stets auch ein kulturelles Spiel, das bestimmten Regeln unter­liegt. Man kann sich (Fasten!) freiwillig aus diesem Spiel zurückziehen, man kann aber auch zur Exklusion gezwungen werden. Die Eintritts­stellen sozialer Ausgrenzung sind steten Veränderungen unterworfen. Zu meiner Studienzeit waren Mobiltelefone kaum verbreitet; heute deutet die so selbstverständliche Frage „Gibst du mir bitte deine Handy­nummer?“ darauf hin, dass hier eine Verschiebung dessen, was als stan­dardisierte kulturelle Aktivität gilt, stattgefunden hat. Mittlerweile wird in vielen Kontexten Zugang zum Internet im Privathaushalt vor­ausgesetzt; es ist eine standardisierte kulturelle Aktivität geworden, die gerade deswegen neue Eintrittsstellen für Ausgrenzung erzeugt: Die Möglichkeit, Behördengänge online zu erledigen, ist „good news“ für viele, führt aber für andere dazu, dass sie sich ausgeschlossen fühlen. Wer schon einmal an einem Bahnhof, der Personenschalter mehr und mehr durch Automaten ersetzt, ältere Mitmenschen oder Touristen dabei beobachtet hat, wie sie mit den Automaten kämpfen, kann sich vorstellen, wie Neuerungen neue Ausgrenzungsmechanismen mit sich bringen. Der „Korb“ dessen, was als selbstverständliche kulturelle Aktivität gilt, verändert sich von Jahr zu Jahr, von Land zu Land.

Armut ist soziale Ausgrenzung; Mindeststandards für gesellschaftliche Teilhabe können bis zu einem gewissen Grad mit Geld gemessen wer­den; Armutsgrenzen und Armutsschwellen werden mit Beträgen ange­geben, also beziffert. Mit einem Nettoeinkommen von 781 Euro oder weniger gilt eine alleinstehende Person in Deutschland als arm. Dabei ergeben sich natürlich Unschärfen, weil verfügbares Einkommen eine Sache und das Gesamt finanzieller Belastungen eine andere Sache ist. Wer Wohnraum geerbt hat, wird mit 781 Euro weiter kommen als je­mand, der Miete zahlen muss. Dazu kommt, dass viele Menschen in Haushalten mit mehreren Personen leben, wobei zwar ein Mindest­betrag pro Haushalt, um jenseits der Armutsgrenze zu sein, festgesetzt werden kann; es kann aber nicht kontrolliert werden, wie innerhalb des Haushalts finanzielle Mittel verteilt werden.

Armut als soziale Ausgrenzung kann als Mangel von Zugängen beschrie­ben werden oder als Situation mit erschwerten Zugängen – Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zum Wohnungsmarkt, Zugang zum Gesundheits­system, Zugang zum Rechtssystem, Zugang zu kulturellen Angeboten, Zugang zu politischem Einfluss. Eine Armutslage kann auch als erschwerter Zugang zu „Räumen“ beschrieben werden – Zugang zu Versorgungs- und Einkommensspielraum, Zugang zu Lern- und Erfah­rungsspielraum, Zugang zu Dispositions- und Partizipationsspielraum, Zugang zu Kontakt- und Kooperationsspielraum, Zugang zu Regenera­tions- und Mußespielraum. Hier deutet sich schon die Kargheit eines Lebens in Armut an, das unter ständigem Stress steht. Und ständiger, toxischer Stress führt nachweislich zu Schädigungen des Gehirns. Kin­der, die in Armut aufwachsen und chronischem Stress ausgesetzt sind, können ihre kognitiven Fähigkeiten nicht entsprechend ausbilden, was sie auf Dauer auch im Erwachsenenleben benachteiligt (weswegen die Bekämpfung von Kinderarmut eine sozialethische Priorität darstellt).

Linda Tirado hat in ihrem Buch Hand to Mouth (2014) für den US-ameri­kanischen Kontext beschrieben, was es heißt, in Armut zu leben; sie beschreibt die vielen „schlechten Entscheidungen“, die sie gezwungen ist zu treffen, etwa die Entscheidung zu rauchen. Sie weiß, dass Rau­chen schädlich und teuer ist; aber wenn man gezwungen ist, drei Teil­zeitjobs zu haben, um irgendwie über die Runden zu kommen, wenn man (aufgrund der drei Jobs) nur wenige Stunden Schlaf pro Nacht hat, die noch dazu in lauter Wohnung auf schlechter Matratze stattfinden, brauche man eine – wie auch immer unvernünftige – Kraftquelle, die Energie für die nächsten zehn Minuten schenkt, wie das eine Zigarette tut. Sie habe nicht die echte Freiheit, ihr Leben anders zu gestalten.

Soziale Ausgrenzung und Zugangsmängel schränken also Freiheiten ein; deswegen ist es nicht verwunderlich, dass ein bedeutsamer Weg in der Armutsforschung, der so genannte „Fähigkeitenansatz“ („capability approach“) Armut als „Beraubung von Fähigkeiten“ („deprivation of capabilities“) beschreibt. Eine Fähigkeit ist dabei eine echte Handlungs­möglichkeit, wo ich entscheiden kann, ob ich sie nutze oder nicht. Ein Leben in Armut, so ein Hauptgedanke dieses Zugangs, schränkt Wahl­möglichkeiten und Handlungsfreiheiten ein. Wie viele hochbegabte Kinder wissen gar nicht, dass sie hochbegabt sind! Man denke an den Fall von Phiona Mutesi, mittlerweile eine berühmte Schachspielerin aus Uganda, deren immense Begabung zufällig von einem amerikanischen Schachlehrer, Robert Katende, entdeckt wurde, als sie neun Jahre alt war. Tim Crothers hat ihre Geschichte in seinem Buch Das Schachmäd­chen. Der erstaunliche Weg der Phiona Mutesi (2017) beschrieben. Man­gelnde Förderung, ein nicht funktionierendes Bildungssystem und fehlende Institutionen hätten Phiona Mutesi ihrer Fähigkeiten beraubt. Menschen, die nicht entsprechend begleitet werden, können ihre Fähig­keiten nicht entsprechend ausbilden, sind deswegen um Freiheiten betrogen. Aus diesem Grund beschreibt Amartya Sen als Hauptvertreter des Fähigkeitenansatzes Bildung als Schlüssel zur Bekämpfung von Armut – damit Menschen ein Leben nach ihren jeweiligen Wertvorstel­lungen führen können. Anders gesagt: Wir können es uns gar nicht leisten, Menschen in Armut leben zu lassen, weil sie damit in ihrer Fähigkeit, zum Gemeinwohl beizutragen, eingeschränkt sind. Hier verkümmern auch soziale Möglichkeiten!

Armut als Ausgrenzung geht auch mit Beschämung einher; Adam Smith hat deswegen im 18. Jahrhundert den Nichtarmen als denjenigen be­schrieben, der sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zeigen kann („the ability to go about without shame“). Es ist beschämend, nicht dabei sein, nicht mitmachen, nicht teilnehmen zu können, obwohl man dies gerne wollte. Der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee be­schreibt diese traurige Dynamik in seinem autobiographischen Text Der Junge. Er zeichnet in diesem Text die Entwicklung seines Vaters nach, nachdem dessen Anwaltskanzlei verloren ging. „Der Vater schaut sich nach Arbeit um. Jeden Morgen pünktlich um sieben macht er sich in die Stadt auf. Doch ein oder zwei Stunden später – das ist sein Geheimnis –, wenn alle anderen aus dem Haus sind, kommt er zurück. Er zieht wieder den Schlafanzug an und geht mit dem Kreuzworträtsel der Cape Times, einer Taschenflasche Brandy und einem Krug Wasser ins Bett. Um zwei nachmittags, ehe die anderen zurückkommen, zieht er sich an und geht in seinen Klub“ (Coetzee 2003, 186 f.). Der Sohn entdeckt das Geheimnis des Vaters, als er eines Tages krankheitshalber der Schule fernbleibt. Der Vater sperrt sich nicht nur im Haus ein und verfällt dem Alkohol, er ver­steckt auch die Rechnungen, die mit der Post zugestellt werden – und die Situation eskaliert, die Familie verliert nahezu alles. Der Sohn ver­liert Achtung vor dem Vater.

Armut höhlt auch das Selbstbewusstsein aus; der deutsche Philosoph Thomas Mahler hat ein Buch über seine Erfahrung als Hartz-IV-Bezieher geschrieben. Er findet sich in der Schlange vor der Arbeitsagentur, ein Augenblick, vor dem er sich gefürchtet hat, seit er weiß, was „sozialer Status“ bedeutet; er hat begriffen, „dass Selbstbewusstsein unglaublich viel damit zu tun hat, für wen man sich gerade hält“ (Mahler 2011, 14). Er kämpft mit seinen Emotionen: „Unruhe steigt in mir auf. Eine tiefe, ernste Angst. Wo soll ich hin? Was soll ich jetzt tun? Wer werde ich jetzt sein?“ (ebd. 90). Eine besondere Belastung ist die Erfahrung von Scham, er schämt sich vor seinen Verwandten, auf die Frage nach seinem Le­bensunterhalt antworten zu müssen, er schämt sich, Geld von seiner Tante zugesteckt zu bekommen, seine Mutter schämt sich für ihn und „hat mir im letzten Telefongespräch gestanden, das Wort Hartz IV vor ihren Freundinnen nicht über die Lippen zu bringen. Sie sage dann einfach: Der schlägt sich so durch. Und hofft, dass die Frage damit erle­digt ist“ (ebd. 177). Armut macht aufgrund der Dauerbelastung auch krank.

Beschämung ist belastend; der Druck, Beschämendes verstecken zu müssen, erzeugt Stress. Der deutsche Soziologe Stefan Selke hat in seinen empirischen Untersuchungen zu „Tafel“-Nutzer/​inne/n in Deutschland immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Scham ein massiver Faktor in der Erfahrung von Armut ist, und sein Buch einschlä­gig mit dem Titel Schamland versehen. „Scham ist das Grundgefühl der Armut“ (Selke 2013, 39). Mehr und mehr Menschen leiden an den Kosten von Armut, an „Vertrauensverlust, Verlassensängste[n] und Selbstabwertung“ (ebd. 22). Es ist, das kann man sich vorstellen, für ein Gemeinwesen nachteilig, wenn Vertrauen verloren geht. Das geht auf Kosten des sozialen Zusammenhalts. Eine fünfzigjährige Frau, die trotz zahlreicher Bewerbungen keine fixe Anstellung findet, sagt Selke im Gespräch: „Das sind Schamgefühle und Schuldgefühle. Das macht es nicht gerade einfacher, durchs Leben zu gehen“ (ebd. 34). Scham iso­liert, trägt zur Vereinsamung bei. Scham führt nach Selkes Analyse auch dazu, dass Menschen sich ruhigstellen und disziplinieren lassen, in die Vereinzelung drängen. „Durch systematische Beschämung entsteht individuelle Scham, die Menschen gefügig macht“ (ebd. 44). Beschä­mung hat viele Gesichter, wie sie auch Markus Breitscheidel in seiner Studie über den Niedriglohnsektor ausgewiesen hat – er betätigt sich als Sammler von Pfandflaschen, die er aus öffentlichen Mülleimern fischt, was ihm nach anfänglicher Überwindung auch gelingt („Mit jeder einzelnen Flasche rückt das Gefühl der Scham mehr und mehr in den Hinter­grund“; Breitscheidel 2010, 37); auch die Beschämung eines Besuches durch den Gerichtsvollzieher, dem er sich vollständig mit seinem Hab und Gut zu offenbaren hat, bleibt ihm nicht erspart.

Armut grenzt aus, Armut schränkt ein, Armut macht unfrei, Armut be­schämt. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, in erster Linie Menschen sind, die ein gutes Leben erseh­nen und nicht einfach nur „überleben“ wollen. Menschen in einem Flüchtlingslager sind bereit, Lebensmittelrationen zu verkaufen, um ein wenig Tee mit Zucker zu erstehen, ein wenig Luxus, ein wenig „Gutle­ben“. Abhijit Banerjee und Esther Duflo haben in ihrer Studie über die Ökonomie von armutsbetroffenen Menschen (Poor Economics; 2011) darauf hingewiesen, dass armutsbetroffene Menschen nicht stets „vernünftig“ in billige Kalorien investieren wollen, sondern auch Erfahrungen von „Wohlleben“ machen wollen (ein Stück Schokolade, ein Film).

Ein klassisches Buch der Armutsforschung macht diese Sehnsucht nach Schönheit deutlich: Carolina Maria de Jesus hatte in den 1950er Jahren als alleinerziehende Mutter von drei Kindern als Müllsammlerin in ei­nem Slum in São Paulo überlebt; ihr Tagebuch wurde entdeckt und im Jahr 1960 unter dem Titel Quarto de Despejo veröffentlicht. Darin be­schreibt sie ihre Sehnsucht nach Schönheit und ihre Erfahrung, keinen Zugang zu Schönheit (schöne Natur, schöne Räume, schöne Kunst) zu haben. In diesem Tagebuch tritt eine besonders grausame Facette von Armut zutage: Carolina möchte ihren Kindern eine gute Mutter sein, hat aber nicht die Möglichkeiten, ihren Kindern – wie das eine Mutter will – Lebenssicherheit, Nahrungssicherheit, Ausbildung, ein soziales Leben, Geburtstagsfeiern und Erlebnisse zu bieten und zu schenken. Sie leidet schrecklich darunter, dem wohl gerechtfertigten Bild der guten Mutter nicht gerecht werden zu können. Armut schränkt damit tragi­scherweise auch moralische Spielräume ein. Armut macht es schwer zu planen; Armut macht es schwer, Versprechen abzugeben; Armut macht es schwer, verlässlich zu sein. Regenia Rawlinson hat in einem Buch (A Mind Shaped by Poverty; 2011) geschildert, was Armut mit der Psyche eines Menschen macht; hier sind Lebensenttäuschung und Misstrauen, Frustration und immer wieder genährte Gefühle von Minderwertigkeit und Unterlegenheit prägende Faktoren. Dies wird durch die alltäglichen Demütigungen, denen arme Menschen ausgesetzt sind, verstärkt. Die französische Sozialanthropologin Anna Sam (2009) hat in der Schilde­rung ihrer mehrjährigen Erfahrungen als Kassiererin in einem Super­markt die Dynamik beschrieben, selbst wie eine Sache, wie ein Gegen­stand behandelt worden zu sein. Das ist demütigend. Kundinnen und Kunden begegnen der Kassiererin als austauschbarem Objekt, häufig ohne Blickkontakt, geschweige denn mit einem Austausch von Worten. Viele armutsbetroffene Menschen haben mit Behörden zu tun und müssen sich herablassende Behandlung gefallen lassen.

Armut ist soziale Ausgrenzung, aber auch Beraubung von Entschei­dungsfreiheiten. Es gibt viele Wege in die Armut. In allen Fällen freilich gilt: Menschen, die von Armut betroffen sind, sind Menschen. Und niemand, der über Armut spricht, sollte das mit der Selbstgefälligkeit einer Person tun, die glaubt, nie in Armut fallen zu können. Auch diese Frage ist in der Armutsforschung wichtig: Wer redet, wer entscheidet über Armut? Der Spiegel veröffentlichte seinerzeit (1993) einen ein­schlägigen Artikel mit dem Titel Arm an Wissen über Armut, der die Basis sozialpolitischer Entscheidungen zum Inhalt hatte. Es wurde geschil­dert, wie Beamte mit großer Lebenssicherheit oder Politiker/​innen mit hohem Lebensstandard über den Umgang mit Armutssituationen urtei­len, aus einem Mangel an Armutswissen heraus.

Pedro Arrupe, der langjährige Generalobere der Jesuiten, verfasste am 8. Januar 1973 einen Brief über die Armut (Carta sobre la pobreza, ge­schickt an Vicente D’Souza SJ, Provinzial in Indien). In diesem Doku­ment erinnert Arrupe daran, dass man Armut tatsächlich erfahren muss, um sie verstehen zu können, wenigstens für eine bestimmte Zeit. Die Erfahrung von Armut vermittelt ein Wissen von Armut, wie es an­de­re Perspektiven und Zugänge nicht erschließen können; freiwillige Armut, verstanden als Besinnung auf das äußerlich Notwendige, bringt innere Freiheit mit sich, ein Überwinden von Abhängigkeiten. Das sind bedenkenswerte Punkte, gerade auch für diejenigen, die über Armut sprechen. Arrupe hat auch darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, echte Freundschaft mit Armen zu pflegen, und damit erstens die Menschlich­keit von Armutsbetroffenen selbstverständlich zu sehen und zweitens „mit Armen zu leben und mit Armen zu sprechen“ und nicht bloß über sie.

Als Christinnen und Christen wollen wir ja auch nicht vergessen, dass Armut eine besondere Tür zu Christus ist, wie es das 25. Kapitel des Matthäusevangeliums festhält.