Digitalisierung und kirchlich-pastorales Personal
Zwischen den Zeilen
Eine kleine Kirche, an ihrem Turm zehn Meter hoch, steht in der Landschaft hinter Tongern, der ältesten Stadt und dem ersten Bischofssitz Belgiens. Die Skulptur in der Silhouette einer kleinen Dorfkirche ist aus hundert schmalen Stahlplatten erbaut. Sie ruhen auf stählernen Vierkantrohren. Ein konstruiertes Netzwerk aus Stabilität und Zwischenräumen.
Von außen – und zwar nur von außen – kann man eine Perspektive einnehmen, als sei es eine geschlossene Wand, die das Kirchlein begrenzt. Das Kunstwerk trägt den Titel „Reading between the Lines“. Das Architektenduo Gijs Van Vaerenbergh (Gruppe Z33) hat dieses liebevoll so genannte „Durchguckkirchlein“ bewusst so gebaut, dass die Kirche „präsent in der Landschaft [ist], aber gleichzeitig auch abwesend“.
Wer innen in diesem leeren, nachgebauten Kirchenraum steht, erblickt draußen die tatsächliche Dorfkirche, die Schöpfung, sieht die Welt mit Industrie und Handwerk, mit Handel und Wandel, schaut ins Woanders. Je nach Perspektive und nah am konstruierten Außen hat man bei diesem Blick „zwischen den Zeilen“ sogar freie Sicht, als sei da gar keine Grenze, wenn man ins Dazwischen blickt.
Durchguckkirche
Liest man Studien, die sich mit den Erfahrungen kirchlichen Personals von Beginn der Corona-Pandemie an beschäftigt haben, blickt man schnell wie bei oben beschriebener Perspektive in einer Binnensicht von außen: auf Personalangebot, professionelle Lernzuwächse und weiteren Lernbedarf, der sich daraus speist. Hinter den Mauern der Kirchen, der Pfarrbüros und Gemeindezentren hat das Personal diese und jene digitalen Skills benötigt und erworben, Angebote für die meist vorhandene Zielgruppe in digitale Kanäle transportiert. Spiritualität, Gemeinschaftsformen kirchlichen Lebens, deren Sitzungszeiten haben sich durch Digitalisierung verändert. Für diejenigen, die sich für die Fragestellung interessieren, wie die Kirche im Digitalisierungsschub durch Corona mit sich selbst zurechtkommt, ist sie damit sehr präsent und weckt Hoffnung auf ihre eigene Zukunftsfähigkeit. In der gesamtgesellschaftlichen Landschaft ist sie mit dieser Fragestellung abwesend.
Denn der Blick auf die Einstellung zu digitalen Medien (will), die Ausstattung (tool) und die Kompetenz (skill), die den Einsatz digitaler Medien in kirchlichen Kommunikationen beeinflusst (vgl. Ergebnisse zur CONTOC-Studie 2021), reicht nicht aus, wenn sich das Interesse darauf richtet, wie Personal der Kirche angemessen mit der Digitalität und der digitalen Entwicklung in der Gesellschaft umgeht.
Um diese Frage zukunftsgerichtet zu beantworten, muss man zwischen den Zeilen lesen; die Welt von innen so betrachten, als sei da nur eine dünne Membran, die das Heilige bewahrt, ansonsten aber verdeutlicht: Die Kirche ist sie selbst und kommt ihrem Auftrag in der Welt nur nach, wenn sie mit ihr im Kontakt ist; sie „geht […] den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden […] menschlichen Gesellschaft“ (Gaudium et spes 40).
Zum „irdischen Geschick“ gehören politisch-kulturelle Entwicklungen sowie die Organisation von Lebensunterhalt und Beziehungen, die für den größten Teil der Gesellschaft in Westeuropa ohne Digitalität nicht mehr denkbar sind. Will die Kirche darin weiterhin „Sauerteig und Seele“ sein, braucht sie ein tieferes Verständnis von Digitalisierung, um bei aller sichtbaren Präsenz nicht im Kern darin abwesend zu sein. Es braucht „Skills“, Digitalität und ihre „Tools“ zu verstehen und sie sehen zu wollen („Will“). Erst ein Durchblick kann zu theologischer Reflexion und Kriterienbildung führen. Drei Perspektiven helfen bei diesem Prozess des „Durchguckens“.
Perspektive 1: Vom Format zum Prozess
Im Lockdown während der Pandemie konnte pastorales Personal aller Berufsgruppen Lernerfolge dabei verzeichnen, vorhandene Formate des kirchlichen Lebens digital zu übersetzen. So streamten zum Beispiel fünfundneunzig Prozent aller Befragten während des ersten Lockdowns erstmals einen Gottesdienst. In den Anfängen der Coronazeit mit der Fastenzeit 2020 vollzogen viele Mitarbeitende der Kirchen mit ihrer eigenen Nutzung von Computertechnik unbewusst die Anfänge der „Entstehung digitaler Wirklichkeit“ nach, in der „jedes Verarbeiten immer an ein geeignetes Format des Inputs gebunden war“ (Gugerli 2018, 53). Nach und nach zeichnete sich an den verschiedenen „Outputs“ ab, dass viele hauptamtlich in der Pastoral Mitarbeitende und die freiwillig in den Gemeinden Engagierten ihre eigenen Blickwinkel schulten: weg vom fertigen Format, das vorkonfektioniert in den Computer geschoben wird, hin zu weiteren Perspektiven aus dem kirchlichen Raum hinein in die Welt, in der vielleicht mehr Menschen zuschauen denn sonst als Gottesdienstgemeinde präsent (vgl. Halík 2021, 9–29; Teilnehmende kommentieren, reagieren, beten und singen mit, bringen sich individuell ein: vgl. Ergebnisse zur CONTOC-Studie 2021).
Heidi A. Campbell modellierte diese Entwicklung vom Format zum Prozess im hilfreichen Dreischritt von „transferring“, „translation“ und „transforming“: vom „Transfer“ des Formats ins Digitale, so nah am Original wie möglich, über die Übersetzung (translation) traditionell gottesdienstlicher Elemente in den Raum, der per Streaming sichtbar gemacht werden kann, hin zur Transformation dessen, was die Gemeinschaft der Glaubenden braucht, auf der Grundlage der Möglichkeiten digitaler Gemeinschaftsbildung in diesen Raum hinein (vgl. Campbell 2020).
Mit diesen Schritten wurde auch der in der Kirche tradierte Weg des Umgangs mit Digitalisierung verlassen: Einst behandelt in den Medienreferaten und medienpädagogischen Arbeitsstellen, wurde nun deutlich, dass das Thema längst dort allein nicht mehr hingehört. Der pastorale Raum ist um den digitalen erweitert. Wie „territorial“ ist er zu gestalten (vgl. Reinders 2006, 26–28)? In welchen Definitionen von Distanz und Nähe bemisst sich eine Zugehörigkeit der Menschen, die dort sein wollen? Die Antworten darauf sind personal feinfühlig zu geben.
In der Abstimmung mit gesellschaftlichen Realitäten werden vermeintliche theologische Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand gestellt, um neu durch sie „durchzugucken“: „Wie und was verändert sich an Gottesdiensten, wenn sie für ein Streaming ‚produziert‘ werden“ (Ergebnisse zur CONTOC-Studie 2021; transferring)? Wie steht es um die tätige Teilnahme der Gläubigen (Sacrosanctum concilium 14) in Gottesdiensten und welche Aussagekraft hat es, wenn es nicht gelingen will, sie in andere Ausdrucksweisen des Glaubens zu übersetzen (translation)? Was macht jenseits der Eucharistiefeier als „Quelle und Höhepunkt“ des Glaubens (Lumen gentium 11), jenseits der Liturgie überhaupt und jenseits der binnenkirchlichen Formen „einen Christen zu einem Christen“ (Halík 2021, 16), im Außen der Gesellschaft so relevant sichtbar, dass er diese Gesellschaft wie ein Sauerteig durchwirken kann (transforming)? Wie „kontextsensitiv“ gelingt „theologische Reflexions- und Aneignungsfähigkeit“ (Eimterbäumer u. a. 2021)? Einen Zugang bietet die fundierte Auseinandersetzung mit Gottesbildern, die darauf antworten, etwa in der Prozesstheologie.
Sich diesen Fragen neu zu stellen, erfordert von Mitarbeitenden in der Kirche die dezidierte Bereitschaft, „nicht wie ein Navi“ zu agieren (Bischof Helmut Dieser, Aachen, Beauftragung zum pastoralen Dienst im Hohen Dom zu Aachen, 27. August 2021), als würde die Kirche den Weg der Menschen schon immer kennen, und erfordert den Entschluss, eine „wissbegierige“ Kirche zu sein („Kirche kann.“, Stadtpastoraltag Bremen, September 2021) – nicht zuletzt deswegen, weil Wissbegier und geplantes Sich-überraschen-Lassen von Anfang an Methoden in der Algorithmenforschung sind (vgl. Sun u. a. 2011).
Perspektive 2: Vom Angebot zur Beteiligung
Kirchliches Denken ruht, überspitzt formuliert, aus der Formatlogik heraus auf den sehr schmalen Stahlplatten von „Angeboten“ wöchentlich um 15 Uhr im Pfarrheim bei Kaffee und Kuchen. Digitalität guckt von der anderen Seite her durch. Sie ist dort anschlussfähig an pastorales Handeln, wo gefragt wird: Wer bist du, wie lebst du, was bringst du mit, was bringst du ein, was brauchst du, wo können wir vernetzt aneinander anknüpfen und voneinander lernen, darf ich bei dir zu Gast sein? „Wo wohnst du?“ – „Kommt und seht!“ (Joh 1,38 f.).
Als Lernangebot für das Personal der Kirche dazu, wie man auf digitalem Weg mit Menschen Kontakt aufnimmt (vgl. Ergebnisse zur CONTOC-Studie 2021) und einander zeigt, „wo man wohnt“, knüpft beispielsweise die MDG (Medien-Dienstleistung GmbH) beim Format „Mission Reichweite“ an. Der einjährige Kurs begleitet in verschiedenen Diözesen das Personal beim Reichweitenaufbau in Social Media, beim Community-Management der so gefundenen Personenkreise, bei Fragen zur Technik, darunter Kamera, Schnitt und Ton, bei der Auswahl und Steuerung des Contents über geeignete Kanäle.
Digitalität lebt von Vernetzung, von der Beteiligung und vom Teilen. Inhalte teilen, einander mitteilen, Bildschirme teilen. Sie lebt vom Freigeben. Die kürzlich gestartete Plattform digitalpastoral.de lädt explizit ein: „[…] teile mit uns Erfahrungen, Ahnungen und Konzepte“. Durchlässig werden, sich selbst öffnen, das initiiert die Digitalität. Der Erfurter Jugendpfarrer Philipp Förter beschreibt, wie sich der Blick der kirchlichen Tradition so weiten kann: In einem begleiteten Exerzitienkurs für junge Menschen gab es neben einem Heft für die Gebetszeiten zu Hause online Begleitung und Gesprächsangebot. Eine Einladung an die Exerzitanten bestand darin, jeden Tag ein Foto auf eine Plattform hochzuladen. Diese Aufgabenstellung verfolgte das Ziel, den jungen Leuten geistliche Impulse zu geben. Philipp Förter machte dort die Erfahrung: „Ich habe ein Bild gesehen und war dann überrascht: Was hat das mit diesem Tag zu tun? Also, diese jungen Menschen haben mir einen geistlichen Impuls gegeben“ (Bistum Erfurt 2021). Diese Erfahrungen zuzulassen und damit zu rechnen, dass sie geschehen können, setzt gegenseitiges Vertrauen voraus.
Perspektive 3: Von der Technik zur Haltung
Verbunden mit den Erfahrungen digitaler Arbeitsweisen ist der Wunsch nach „Verbesserung der technischen Infrastruktur“ und „Professionalisierung und Weiterbildungen in allen digitalen und technischen Bereichen“ (Ergebnisse zur CONTOC-Studie 2021). Was vordergründig plausibel scheint, ist im Kern noch einmal gründlich „durchzugucken“: Wie betrifft Digitalität die kirchliche Arbeit? Um Anfragen zu verstehen und zu begleiten, die Digitalität berühren, muss ich nicht wissen, wie ein Rechner funktioniert. Ich muss nicht wissen, wie ein Algorithmus programmiert ist. Ich muss mich aber damit beschäftigen, was die Menschen bewegt hat, ihn genau so zu programmieren. Begegnungen, die auf digitalem Wege oder durch Themen der Digitalisierung angebahnt sind, nutzen Technik, leben aber nicht davon, sondern leben auch in der Digitalität von personaler Beziehung.
„‚Digitalität‘ will ausdrücken, dass wir nicht aus der Technikperspektive auf die Veränderungen schauen, die die Digitalisierung mit sich bringt, sondern aus der gesellschaftlichen Perspektive“ (Gadeib 2019, 36). Ein Beispiel beschreibt Jugendpfarrer Philipp Förter: Wenn ich die ganzheitliche Heilszusage des Evangeliums verkündige, hören mir Menschen zu, die ihre Selbstfürsorge an den Self-Tracking-Daten ihrer Gesundheits-App zu ihren Bewegungs-, Ess- und Schlafgewohnheiten ausrichten (vgl. Bistum Erfurt 2021).
Verführerisch ist es, Digitalität vorschnell als technisches „Betriebssystem“ zur Leistungssteigerung misszuverstehen. Ginge es nur um „Zuweisungssicherheit und Effizienz des Verarbeitungsvorgangs“, wären die entsprechenden Prozesse schnell aufgeräumt, der Mensch dahinter nur Erfüllungsgehilfe dazu, Routinen und Rechenregeln abzuarbeiten (Gugerli 2018, 78 f.). Für beziehungs- und glaubensorientierte Kommunikation wäre er nur ansprechbar in den Freiräumen, die solche digitalen Verarbeitungsprozesse schaffen, wenn sie erledigt sind. Gut umgesetzte Digitalisierung sammelt hingegen möglichst viele Erfahrungen zur gleichen „Mission“ an möglichst vielen regiolokalen Knotenpunkten, um diese Erfahrungsdaten über Rückmeldungen in das Gesamtsystem einfließen zu lassen und es so zu stabilisieren (vgl. Fritz 2019). Dies könnte eine digital vorgestellte Variante von „katholisch“ sein: ein weites Netzwerk mit einzelnen, selbstständig arbeitenden Untersystemen, die ins Gesamtsystem so eingebettet sind, dass sie es im Rückfluss absichern, einzelne Gemeinden genauso wie einzelne Gläubige. Auch hierfür gilt der Rat für einen klugen Umgang mit der digitalen Transformation der Gesellschaft: „Denken Sie erst an die Effektivität (das Richtige tun), dann an die Effizienz (die Dinge richtig tun)!“ (Gadeib 2019, 213).
Arbeiten in der Durchguckkirche
Wo sich transformative Prozesse der Welt und der Kirche in der Digitalität berühren, entsteht an den Knotenpunkten Neues und stabilisiert das Gesamt des kirchlichen Lebens: Seelsorge in der Arbeitswelt gibt es für die Handwerkerinnen an den Fließbändern, es gibt sie bei den Truckfahrern, die Ware von A nach B liefern, sowie an der Schnittstelle von der Hochschulseelsorge zu den Startups, die sich aus dem Campus ausgründen und deren digitale Geschäftsideen auch ethische Fragestellungen aufwerfen. Schulseelsorge findet sich weiterhin im kleinen Raum mit dem Sofa und der Packung Papiertücher auf dem Tisch wie auch im Raum, der für alle digital begehbar als Spielraum gebildet wird. Die Studienwoche zur Trauerpastoral bietet liturgisch-homiletische Zugänge, eine Psychologin stellt die Trauer-App grievy vor, die in der entwidmeten Kirche entwickelt wurde, die nun digitalHUB ist und als Coworking-Space Raum für Start-ups bietet. Geschichten vom Scheitern lassen sich so erzählen, dass sie zum Gelingen der anderen beitragen (vgl. die „Fuck Up Stories“ des QuellPunkt Aachen): Im Bistum Aachen ist es in einigen, hier benannten Arbeitsfeldern sichtbar, in welchen Bereichen sich pastorales Personal weiterentwickeln kann.
Die Person, die sich darauf eingestellt hat, im pastoralen Dienst die eigene Kirche in dieser Weise als „Durchguckkirche“ zu gestalten, wird von Mitgliedern im evangelischen „Arbeitskreis Pastoraltheologie“ so beschrieben: Sie „[…] nutzt die Vertrauensressource ihres regiolokalen Kontextes und macht probeweise Vorstöße in fremde Gefilde. Sie schaut primär ins Woanders und verbindet Menschen zu religiöser Kommunikation und religiösem Erleben. Losgelöster vom Erfolgsdruck wird es möglich, selbst Lernerfahrungen zu machen, weil die Kultur fehlerfreundlicher wird: Im Fremden, Unbekannten zu agieren lässt nämlich fraglich werden, was überhaupt als Fehler gilt. Die Rollenstabilität im Selbstverhältnis […] erschöpft sich folglich nicht in einem Set abrufbarer Tätigkeiten, sondern ergibt sich aus Berufung, Beauftragung und dem Mut, in die Welt hinein zu wirken, sodass das Evangelium darin laut wird“ (Eimterbäumer u. a. 2021).