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„Unser Platz ist bei den Menschen“ (Franz Meurer)

Unter diesem Leitsatz begann ich im März 2021 meine Arbeit in der Citypastoral Dortmund im Katholischen Forum. Schnell stellte sich heraus, dass ich im Team des Katholischen Forums Dortmund dazu genau richtig bin. So habe ich dort einen großartigen Ort gefunden, den ich mit bespielen darf und wo ich genau diesen Leitsatz verwirklichen und leben kann. Unser Forum ist dabei kein begrenzter Raum, sondern bezeichnet die ganze Stadt Dortmund und Umgebung.

Neben einigen bereits bestehenden Projekten, wie der mobilen Kirchenbank und den zwei Rikschas, wurden viele weitere Ideen gesponnen, die zum Teil schon verwirklicht worden sind. Einige sind auch gerade, während ich diesen Artikel verfasse, in Planung. Sie werden vermutlich schon angelaufen sein, wenn Sie diese Zeilen lesen, und die Umsetzung können Sie über unsere Homepage verfolgen.

Im Folgenden möchte ich Ihnen von verschiedenen Erfahrungen im Rahmen dieser Projekte berichten und Ihnen einen Einblick in unseren Arbeitsalltag geben.

Mit der Rikscha unterwegs

Schon bei meinem Erstkontakt mit dem Katholischen Forum Dortmund lag mein Augenmerk deutlich auf den beiden Rikschas. Ich liebe das Radfahren und stellte es mir gleich als eine sehr erfüllende Aufgabe vor, anderen mit diesem Hobby eine große Freude zu bereiten und mich als Gesprächspartnerin anzubieten. Diese Hoffnung wurde vollends erfüllt, denn inzwischen kann ich die prägenden Begegnungen und guten Gespräche kaum mehr zählen. Kindern ein Lachen zu schenken, älteren Menschen durch die „Taxi“-Fahrt Mobilitätshilfe anzubieten oder einfach da zu sein und ein offenes Ohr für Sorgen und Lebens- bzw. Glaubensfragen zu haben – das ist mein Dienst als Seelsorgerin auf der Straße.

Zu Beginn war ich häufig etwas aufgeregt, wenn ich eine Schicht auf der Rikscha angetreten habe. Nicht weil ich Berührungsängste oder Ähnliches hatte, sondern weil ich mich selbst unter Druck setzte, dass ich die vermeintlich „richtigen“ Wege und Personen wahrnahm. Davon lernte ich mich jedoch schnell zu lösen, denn das Freiwerden für das Wirken des Heiligen Geistes erwies sich immerzu als richtige Entscheidung.

Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine ältere Dame, die mit einem Schiebewagen Erledigungen in der Stadt machte. In einer etwas abgelegenen Seitenstraße sprach ich sie aus der Rikscha heraus an und sie antwortete auf mein Angebot: „Sie schickt ja der Himmel!“ Auf der Fahrt zu ihrem Wohnhaus erzählte sie mir von ihrer schweren Erkrankung, die ihr jeden Schritt erschwert. Ein „Engel auf Rädern“ sein zu dürfen, ist ein riesengroßes Geschenk. Die Möglichkeit, als Seelsorgerin auf diese Weise nahe bei den Menschen zu sein und Präsenz zu zeigen, finde ich unglaublich wertvoll und bereichernd.

Eine Kirchenbank rollt durch die Stadt

Mit unserer mobilen Kirchenbank rollen wir an einen jeweils frei zu wählenden Ort und laden zu Gesprächen und einer Pause ein. Interessanterweise erregt bereits der rollende Transport häufig große Aufmerksamkeit. Irritiert oder schmunzelnd schauen die Menschen in Dortmund auf dieses Geschehen und verfolgen mich mit ihren Blicken. An einem guten Standort angekommen werden die Bremsen gezogen und ich setze mich gemütlich auf eine Seite der Bank. Neugierige Blicke treffen mich und durch ein freundliches Grüßen kommen wir ins Gespräch oder es bleibt bei einem Zunicken oder auch einer verständnislosen, vielleicht sogar abwehrenden Reaktion. Die Bank ist ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren. Wahrgenommen werden ich oder vielmehr die Bank in jedem Fall und Gespräche über tiefere Themen, aber auch rein informativer Art finden sitzend oder stehend an/​auf der Bank statt.

Als Kirchenbank des Katholischen Forums erkennbar erregt die Bank bei vielen Passanten im spontanen Erstkontakt aber auch ablehnende Irritation und überaus kritische Äußerungen; das verständnisvolle Aushalten und die wohlwollende Resonanz führen immer wieder zu persönlichem, gutem Austausch – nicht selten mit aufrichtigem Dank für die positiv überraschende Begegnung. Wie ein roter Faden fasziniert mich nachhaltig die Rührung unterschiedlicher Menschen, wenn sie „ohne Maulkorb Dampf ablassen“.

Refugium – der feste Standort des Forums

Seit August 2021 laden wir fünf Tage die Woche (dienstags bis samstags von 10 bis 18 Uhr) in unser Refugium ein – ein Raum für alle als Zwischenstopp. Dort gibt es die Möglichkeit, das Gespräch mit uns zu suchen, aber auch einfach allein oder in Begleitung zu verweilen – zum Ausruhen und Innehalten. Neben unserem kostenlosen Wasserangebot gibt es einen Heißgetränke-Automaten (ein Euro pro Getränk). Auf unserem Infoscreen gibt es aktuelle Nachrichten aus Politik, Sport, Kultur und Kirche sowie Informationen über unsere eigenen Angebote und über weitere Veranstaltungen unserer KooperationspartnerInnen in Dortmund. Sehr beliebt ist in unserem Refugium auch die kostenlose öffentliche Toilette – nicht selten gleichzeitig ein gelungener Gesprächseinstieg.

Bei tollem Wetter scheint die Sonne auf unsere überaus beliebten Außenbänke. Dort genießen junge wie alte Gäste oft und gerne die strahlende Wärme – ohne zu wissen, dass sie sich schon im Refugium befinden und in unserem Verständnis gern gesehene KirchenbesucherInnen sind.

Durch unsere Präsenz und das spontane Gesprächsangebot ergeben sich jeden Tag völlig andere und unerwartete Begegnungen. Für uns sehr wichtig: Wir möchten uns zum Gespräch anbieten, nicht anbiedern. Viele Gäste sind positiv verblüfft über dieses Angebot. So geschieht es nicht selten, dass ein erster Kontakt sich zu einem tiefen seelsorglichen Gespräch entwickelt. So wandelt sich bisweilen völlig überraschend ein kurzer Zwischenstopp im Refugium zu einem wohltuenden Gespräch, das trotz oder vielleicht sogar gerade aufgrund von Trauer und Tränen tröstet. Für derartige Anlässe gibt es im Refugium einen separaten und gleichzeitig bewusst sehr transparent gestalteten Raum für Gespräche im geschützten Rahmen. Zugleich führe ich dort im Rahmen der geistlichen Begleitung regelmäßig Gespräche. Dieser seelsorgliche Dienst erfüllt mich sehr, insbesondere weil ich auf diese Weise Menschen in ihrem Leben und auf ihrem Glaubensweg aufblühen und wachsen sehen darf.

Angebote und Projekte

Über die regulären Öffnungszeiten des Refugiums hinaus laden wir im Laufe des Jahres zu weiteren Angeboten ins Refugium ein: Glaubenskurse, Buchbesprechungen und sonntägliche Filmnachmittage. Diese Veranstaltungen finden in der Regel als Reihe statt, und so konstituiert sich in einer Seminargruppe, die sich gegenseitig begleitet und bereichert, auch eine temporäre Weggemeinschaft. Die Teilnehmenden entdecken unsere Angebote auf unterschiedliche Weise und bringen ganz verschiedene Erfahrungen und Erwartungen mit. Dies macht den Austausch auch für uns Mitarbeitende spannend, abwechslungsreich und durchaus herausfordernd. Darüber hinaus laden wir zu regelmäßigen liturgischen Angeboten ein: Eucharistiefeier samstags um 18:30 Uhr, Abendgebet „Wort-Stille-Licht“ am ersten Sonntag im Monat, Friedensgebet um „5 vor 12“ werktags unter freiem Himmel, monatlicher TAU-Gottesdienst. Aufgrund unserer direkten Nähe zur Propsteikirche nutzen viele die in Dortmund einzige Gelegenheit zur täglichen eucharistischen Anbetung.

Zum Thema „Leben mit/​im/​trotz Tod“ fand vor wenigen Wochen unsere sog. „Novemberreihe“ statt. Täglich gab es eine Veranstaltung an ganz unterschiedlichen Orten in Dortmund – Vorträge, Exkursionen, Gottesdienste, Filmvorführungen. Aus ganz verschiedenen Perspektiven und Bereichen beleuchteten zahlreiche ex- und interne ReferentInnen die Thematik. Aufgrund der gelungenen Verknüpfung von Filmkunst und Lebens- bzw. Todesnähe ergriffen und faszinierten mich persönlich in besonderer Weise die Filmabende.

Schon im Vorfeld der Reihe war aus der öffentlichen Resonanz spürbar, dass sich in einer teils streitenden Kirche einhelliger Zuspruch finden ließ und sich so ein facettenreicher Pool an KooperationspartnerInnen und mehr als 30 ReferentInnen aus Kirche und Gesellschaft auftat. Exemplarisch seien „Ne Bergische Jung“, die Katholische Ehe-/​Familien-/​Lebensberatung (EFL), „Ein Lächeln für Dich e.V.“, die Notfallseelsorge und das Zentrum für Hospiz-, Palliativ- und Trauerbegleitung Dortmund genannt.

Aktuell im Advent konnten wir eine bereits vor neun Monaten gesponnene Idee der „Maria ToGo“ mit Leben füllen. Die aus Togo stammende Figur der schwangeren Maria aus Holz wird innerhalb Dortmunds sozusagen auf Reisen geschickt und von einem Buch begleitet. Ein beigefügter Impuls erklärt Projekt und Idee und regt an, Erfahrungen durch oder mit der „Maria ToGo“ aus Togo in dem Buch aufzuschreiben. Sie soll an FreundInnen, Bekannte, NachbarInnen, ArbeitskollegInnen oder zufällig getroffene Menschen weitergereicht werden. Ziel der Reise: Weihnachten – zu ihrer Niederkunft – soll sie wieder bei uns im Katholischen Forum angekommen sein. Wir sind gespannt und freuen uns auf die Texte, Erfahrungen und Erlebnisse, die wir anschließend in Gottesdienste einfließen lassen wollen.

Seit einigen Monaten gibt es im Refugium außerdem eine Ehrenamtssprechstunde mit dem Namen „POTTential(e)“ – eine Kooperation fünf kirchlicher Träger in Dortmund: Katholische Stadtkirche, (Young) Caritas, Katholische Erwachsenen- und Familienbildung und Katholisches Forum. Menschen, auf der Suche nach einem zu ihrer Person passenden Ehrenamt in unserer Stadt, können mittwochs zu dieser offenen Sprechstunde zu uns kommen, um sich mit Unterstützung durch einen externen Blick verschiedenste Möglichkeiten ehrenamtlichen Engagements in Dortmund aufzeigen zu lassen.

Übrigens: Auch im Refugium haben wir stets wachsende Unterstützung durch ehrenamtlich Mitarbeitende, die sich nah am Menschen in der Citypastoral engagieren. Voller Vorfreude blicken wir auf eine gemeinsame Fahrt nach Paris und Ivry im Mai 2023 – dort werden wir auf den Spuren einer großen Frau wandeln, die uns zur Patronin geworden ist: Madeleine Delbrêl.

Ohne Plan von Gott

Nach all diesen konkreten Beispielen möchte ich das geistliche Fundament unserer Arbeit im Katholischen Forum vorstellen.

Für unser Wirken ist Madeleine Delbrêl (1904–1964) ein großes Vorbild. Als Sozialarbeiterin in Frankreich wirkte sie in Ivry – einer Arbeitervorstadt von Paris – und widmete sich den Menschen auf der Straße. Nach eigenen Hoch- und Tiefzeiten im persönlichen (Glaubens‑)​Leben gründete sie – bis auf die Knochen katholisch und gleichzeitig völlig frei von kirchlichen Schablonen (Hans Urs von Balthasar) – eine kleine christliche Gemeinschaft. „Ivry war meine Schule des angewandten Glaubens“, schreibt sie später zurückblickend.

Begeistert von dieser großen französischen Mystikerin gestalten wir unseren Dienst im Katholischen Forum in Zeiten großer inner- und außerkirchlicher Um‑, Ab- und Aufbrüche in hoffnungsvoller Zuversicht und tiefer Freude. Passend zu unserem anspornenden Motto „Vorwärts zu den Wurzeln“ (Hedwig Schüttken) soll nachfolgend Madeleine Delbrêl selbst zu Wort kommen:

„Wir sind so weit wie möglich von Gepäck befreit, ebenso von Zukunftsplänen. Sobald die Zeit uns das Zeichen zu neuen Einsätzen gibt, zu neuen Formen der Evangelisierung, können wir sofort aufbrechen, falls wir dazu taugen und die Kirche es wünscht.

Nichts kettet uns an eine zeitliche Vergangenheit, nicht einmal die Treue zu einer Gründergestalt. Wir sind zu jedem Aufbruch bereit, weil unsere Zeit uns so geformt hat und weil Christus im heutigen Tempo mitgehen muss, um mitten unter den Menschen zu bleiben.“
(zitiert nach Schleinzer 2017, 210)

Die Worte von Madeleine Delbrêl sind uns Chance und Herausforderung zugleich, jeden Tag aufs Neue „diesen Scheck einzulösen“. In enger Anlehnung an meine bewusst gewählte Überschrift „Unser Platz ist bei den Menschen“ (Franz Meurer) möchten wir dynamisch mitten unter und bei den Menschen sein – insbesondere in einer Zeit, in der in der Kirche wirklich vieles zum Himmel stinkt; und erst recht in Dortmund, der größten Stadt des Erzbistums Paderborn, wo nicht wenige Menschen von Leben, Luft und Lärm der Großstadt belastet sind. All das erinnert uns immer wieder neu an beeindruckende Worte von Paulus aus dem 2. Korintherbrief:

„Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensgeruch, der Leben bringt. Wer aber ist dazu fähig? […] Doch sind wir dazu nicht von uns aus fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott. Er hat uns fähig gemacht, Diener des neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“
(2 Kor 2,15 f.; 3,5 f.)

Diese Worte sind uns Ermutigung und Ansporn zugleich, selber selbstbewusst, nicht überheblich und dennoch erkennbar unter den Menschen zu leben.

Insofern ist es mir eine große Freude, auch in vermeintlich hoffnungslosen Situationen mit durchaus auch anstrengenden Menschen nicht zu verduften, nicht zu kneifen, sondern mit Gottes Hilfe immer wieder neu ein weiteres Schriftwort zu beherzigen und in Wort und Tat zu bezeugen:

„Fürchtet euch nicht vor ihnen und lasst euch nicht erschrecken, heiligt vielmehr in eurem Herzen Christus, den Herrn! Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt!“
(1 Petr 3,14b–15)

In diesem Sinne versuche ich im Forum zu wirken, niemals stehen zu bleiben und „den Menschen aufs Maul zu schauen“. So können wir weiter für die Anliegen und Bedürfnisse der Menschen präsent bleiben und dürfen dem Evangelium täglich neu unser Gesicht geben.

Schließen möchte ich mit einem weiteren Zitat von Madeleine Delbrêl – passend zu ihrem und unserem „täglich neuen Heute“:

„Der Schallraum, den das Wort des Herrn von uns fordert, ist unser ‚Heute‘: die Umstände unseres Alltags und die Bedürfnisse unseres Nächsten; die Ereignisse und Forderungen des Evangeliums, die von uns stets dieselben Antworten verlangen, aber in einer täglich erneuerten Gestalt.

Wir können aber nicht außerhalb von Raum und Zeit aus dem Wort des Herrn heraushören, was er heute von uns will.

Unser Beitrag besteht darin, heute, in der heutigen Welt und in der heutigen Zeit darauf zu lauschen, was der Herr seit jeher für heute von uns will, für die heute lebenden Menschen, für unseren heutigen Nächsten, und dafür zu beten, dass wir es sehen und begreifen.

Dass wir es sehen und begreifen können, ist das Werk des Heiligen Geistes.

Er ist es, der in uns und durch uns das Angesicht der Erde erneuern kann, wenn wir für ihn offen, verfügbar und lenkbar sind.

Er allein kann es fügen, dass der Wille Gottes für unsere Sinne ein Licht ist, dass er Liebe in unseren Herzen ist.

Unaufhörlich geschieht es, dass durch den Heiligen Geist ‚das Wort Fleisch wird‘, dass das Wort in uns Fleisch wird.“
(Delbrêl 2014, 243)