Inhalt

Charisma als externe Lösungsenergie

Das Open-Innovation-Paradigma in einer charismenorientierten Pastoral

Theresa Theis nimmt die Leser:innen in ihrer Dissertation mit auf eine Reise in für Kirche noch eher ungewohnte Gewässer. Konkret: Sie stellt ein betriebswirtschaftliches Konzept – das Open-Innovation-Paradigma – vor und bindet es ein in Diskurse über Charismen, Partizipation und Innovation in der Kirche.

Kurz gesagt beinhaltet der Open-Innovation-Ansatz, dass Unternehmen das Wissen von Kund:innen, insbesondere von „Lead Usern“, für die eigene Produktentwicklung nutzen. Beispielsweise geht in manchen jungen Sportarten die Entwicklung der Sportgeräte zu einem wesentlichen Teil nicht auf die Ideen von unternehmensinternen Entwicklungsabteilungen, sondern auf die Tüfteleien von Praktiker:innen zurück; ähnlich sind auch der Kaffeefilter und das Carsharing erfunden worden. Lead User – die aus der Unzufriedenheit mit den von Unternehmen angebotenen Produkten heraus selbst kreativ und innovativ agieren – sind für Unternehmen sehr wertvoll, da sie u. a. Motivation, Produkt- und Anwendungskenntnisse mitbringen, die man unter Umständen für die eigene Produktentwicklung nutzen kann. Eine solche Einbindung externen Lösungswissens hat allerdings oftmals zu kämpfen mit dem „Not-invented-here“-Syndrom (der instinkthaften Ablehnung von Ideen von außerhalb), wie es auch für die Kirche bereits diagnostiziert wurde.

Zum Open-Innovation-Paradigma gibt es nicht nur Theorien und wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit des Ansatzes, sondern auch verschiedene methodische Ansätze, die Theis ausführlich vorstellt (und durch Beispiele anschaulich macht). Insgesamt machen die Erläuterungen dieses wirtschaftswissenschaftlichen Konzepts rund ein Drittel der inhaltlichen Ausführungen der Arbeit aus.

 

Der zweite (oder eigentlich, der Reihenfolge im Buch nach, der erste) Brennpunkt der Arbeit ist „Charisma“ als biblisches – vor allem paulinisches – Konzept. Theis geht die einschlägigen neutestamentlichen Stellen durch und setzt sich mit der Fachliteratur auseinander, um Aspekte einer „neutestamentlichen Charismenorientierung“ zu identifizieren. Das ist zwar kein Unterfangen, das nicht auch schon andere in Angriff genommen hätten, aber ein sinnvolles und gerade auch wegen der Ausführlichkeit in dieser Dissertation verdienstvolles Unternehmen; auch der Rezensent ringt fortwährend mit dem nur schwer zu fassenden Charismenbegriff. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch Theis – hermeneutisch gut informiert – die Uneindeutigkeit bzw. Pluralität der Begriffsverwendung im Neuen Testament betont.

 

Die Arbeit ist klar strukturiert. Steht die Auseinandersetzung mit den Konzepten „Charisma“ und „Open-Innovation-Paradigma“ im Zentrum (verbunden durch eine Zwischenbetrachtung zum Verhältnis von Pastoraltheologie und Ökonomik), so bilden zwei andere Teile den Rahmen (sieht man einmal von Einleitung und Ausblick ab, die gewissermaßen einen äußeren Rahmen darstellen):

In einem ersten großen Kapitel werden aktuelle (Forschungs‑)​Literatur und kirchliche Konzepte und Verlautbarungen zum Thema Charismenorientierung – und auch Partizipation – vorgestellt; außerdem berichtet die Autorin von den Erfahrungen mit dem Projekt „Ehrenamt im Aufbruch“ im Erzbistum Berlin, an dem sie beteiligt war. Insgesamt spiegelt sich hier ein aktueller „Ist-Stand“ kirchlichen Denkens und Agierens in den Diözesen Deutschlands.

 

Den Zielpunkt der ganzen Überlegungen – und den zweiten Teil des Rahmens – bildet dagegen ein Kapitel, das mit „Charismenorientierung als Aktivierung und Verwendung externen Lösungswissens“ überschrieben ist. Darin identifiziert die Autorin „konzeptionelle Anknüpfungspunkte“ zwischen dem Open-Innovation-Paradigma und aktuellen kirchenentwicklerischen Herausforderungen. Und natürlich korreliert die Einbeziehung von Lead Usern durch ein Unternehmen mit der Öffnung der Kirche im Sinne des Zweiten Vatikanums und setzen sowohl Open Innovation wie Charismenorientierung auf den „Fähigkeits- und Selbstentfaltungsaspekt des Individuums“ (262) und haben etwas mit kreativen Verbesserungen, die anderen nutzen, zu tun.

Aber genau hier bleibt der Rezensent unzufrieden zurück: a) weil die „konzeptionellen Anknüpfungspunkte“ unzureichend entfaltet werden; b) weil Charismen mehr sind als Innovation.

Ad a) Ja, man kann sich als Leser:in natürlich eigenständig überlegen, wie die recht ausführlich dargestellte Open-Innovation-Methodik in der Kirche zum Einsatz gebracht werden könnte; ja, es werden in diesem Kapitel noch kurz ein paar Praxisbeispiele wie „St. Maria als …“ vorgestellt; und man kann sich von der mit Open Innovation verbundenen Grundhaltung der Offenheit nach außen anstecken lassen. Aber hier, wo sich doch eigentlich in einer Synthese theologischer und ökonomischer Überlegungen der Kernertrag des Buches bilden sollte, geht dem Rezensenten vieles zu schnell, hätte er sich ein tieferes, umfangreicheres Weiterdenken erwartet.

Ad b) Charismen sind mehr als Innovationsfindung! Natürlich sind viele Charismen mit Kreativität und Erfindungsreichtum verbunden – während das aber bei anderen (Trostspenden …) weniger bis gar nicht im Fokus steht; und die Autorin kennzeichnet ihr Konzept von Charismenorientierung auch als eine Möglichkeit (243). Doch ihre Berufung auf die Pluralität des biblischen Charismenbegriffes, die Offenheit des Paulus für seine Umwelt und seine kreative Aneignung des hellenistischen Wortes charisma (243 mit Rekurs u. a. auf 131) empfindet der Rezensent doch als recht konstruiert. Und so erscheinen ihm in diesem Kapitel Charismen als ziemlich konstruiert und einseitig unter der Brille „Lösungsenergie“ betrachtet. Das geht nicht wirklich auf: Verräterisch ist allein schon, dass bei den Praxisbeispielen in diesem Kapitel (269–281) nicht von „Charismen“ die Rede ist. Es kommt also in ihren Ausführungen insgesamt nicht ganz zusammen, was die Autorin unter einen Hut zu bringen versucht: Innovation, Charisma/​Charismenorientierung und nebenbei auch noch Partizipation. Dass es hier aber Verbindungslinien gibt, die sich auch in der Praxis in einzelnen Situationen verknüpfen ließen, sei nicht bestritten.

 

Formal macht der Band insgesamt einen ordentlichen Eindruck, auch der Umfang des Literaturverzeichnisses ist beachtlich. Redundanzen und kleinere sprachliche und formale Schwächen sind nicht ernsthaft störend, dagegen aber durchaus die benutzerunfreundliche Buchbindung.

Inhaltlich hätte sich der Rezensent zwar gewünscht, die Autorin wäre den begonnenen Denkweg weiter gegangen und hätte Einzelnes differenzierter betrachtet. Dennoch legt Theis hier einen wichtigen Beitrag zu den Themen Charismen und Kirchenentwicklung vor, der hoffentlich zu weiterem Nachdenken und Rezeption in der Praxis ermutigt.

 

Martin Hochholzer