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Die Mission der Kirche im Kontext von Migration und Flucht

Im Kontext globaler Herausforderungen kirchlicher Pastoral haben sich in den letzten Jahren Migration und Flucht als besonders bedeutsame Zeichen der Zeit erwiesen. Der Frage, wie in diesem Kontext von Mission gesprochen werden kann, geht Tobias Keßler in seinem Beitrag nach. Dabei setzt er bei Einheit und Katholizität der Kirche an, um von dort aus ihren Auftrag ange­sichts wachsender Pluralisierung abzulesen. Im Weiteren schärft er den Mis­sionsbegriff und leuchtet ihn u. a. in seiner kenotischen Dimension aus. Als Mission der Kirche im Kontext von Migration und Flucht identifiziert er ab­schließend die authentische Kommunikation von Zugehörigkeit.

Migration und Flucht gehören zu den Zeichen der Zeit. Sie bringen un­zählige Menschen in oftmals äußerst prekäre Situationen und gehen nicht selten einher mit Ausbeutung und Ungerechtigkeiten, die zum Himmel schreien. Abgesehen von den Hochqualifizierten gelingt es aber auch jenen Zuwanderern, deren Ausgangslage per se günstiger ist, weil sie bereits mit den notwendigen Papieren und einem Arbeitsvertrag nach Deutschland einreisen, nur selten, zu den Einheimischen in Gesell­schaft und Kirche Beziehungen auf Augenhöhe zu etablieren. Durch die Ankunft zahlreicher muslimischer Flüchtlinge stellt sich zudem die Fra­ge nach einem angemessenen Umgang mit Religionsverschiedenheit. Und auch beim Verhältnis zwischen verfolgten und einheimischen Christen treffen häufig recht unterschiedliche Welten aufeinander.

Andererseits eröffnet das Zusammentreffen von Menschen verschie­de­ner Herkunft, Sprache, Kultur und Religion auch ungeahnte Möglich­kei­ten der Begegnung und des Dialogs und bietet damit eine einmalige Chan­ce, an der Gemeinschaft der Völker mitzubauen und in der zerrisse­nen Welt neue Zeichen der Hoffnung und des Friedens zu setzen.

Damit ist der Kontext umrissen, in dem sich die Frage nach der Mission der Kirche hier stellt. Diese Frage kann nur vom Wesen der Kirche her an­gemessen beantwortet werden. Mit Blick auf den spezifischen Zu­sam­menhang von Migration und Flucht setze ich daher bei jenen Eigen­schaften der Kirche an, aus denen sich ihr Auftrag angesichts wachsen­der Pluralisierung ablesen lässt: bei ihrer Einheit und ihrer Katholizität, welche die Einheit und Vielfalt in Gott selbst widerspiegeln (1.). Die Vielfalt fristete auch in der Theologie lange Zeit ein Schattendasein. Tatsächlich hat sie jedoch eine unverzichtbare Rolle für das Wesen der Communio, die ich im weiteren Verlauf aufzeige (2.). Unter Punkt 3 beleuchte ich die enge Verwobenheit von Missio und Communio, um in einem letzten Schritt die Frage nach dem Spezifikum der christlichen Mission im Kontext von Migration und Flucht zu beantworten (4.).

1. In ihrer Katholizität weiß sich die Kirche allen Menschen verpflichtet

Im sogenannten nizäno-konstantinopolitanischen Credo von 381 n. Chr., das auch als „Großes Glaubensbekenntnis“ bekannt ist, werden die zen­tralen Wesensmerkmale der Kirche erwähnt, nämlich Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität. Die lateinische Übersetzung des Textes markiert einen Unterschied zwischen der Art und Weise, in der wir an Gott glauben, und der Modalität, in der wir an die Kirche glauben. Die Formulierung „Credo in unum Deum“ („Ich glaube an den einen Gott“) steht hier der Wendung „Et unam, sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam“ („Und an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“) gegenüber. Sinngemäß könnte diese Differenz im Deutschen etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: „Wir glauben von der Kirche, dass sie eins, heilig, katholisch und apostolisch ist“. So wichtig diese Unterscheidung auch ist, ein Blick in die Geschichte mag an der Stimmigkeit dieses Bekenntnisses schnell Zweifel aufkommen lassen. So scheinen die zahlreichen Kirchenspaltungen die Einheit der Kirche klar zu widerlegen. Verständlich wird die Überzeugung von der Einheit der Ecclesia erst dann, wenn man sie als Reflex der göttlichen Einheit begreift. Mit anderen Worten ist die Kirche von Gott her eins, ihre Ein­heit ist in der Einheit der göttlichen Personen grundgelegt. Auch die übri­gen Wesensmerkmale sind göttlichen Ursprungs, so dass die Kirche von Gott her bereits ist, was geschichtlich zu werden sie sich bemüht: Abbild des dreieinen Gottes (vgl. Kehl 1993, 125–131).

Ein Kennzeichen der Kirche, das eng mit dem Merkmal der Einheit kor­res­pondiert, ist ihre Katholizität. „Katholisch“ ist hier nicht gleichbe­deu­tend mit „römisch-katholisch“, es geht vielmehr um eine grundsätzliche Eigenschaft der Kirche jenseits konfessioneller Unterschiede. Das Kon­zept der Katholizität, das häufig mit dem Begriff der Universalität um­schrieben wird, ist bereits bei Ignatius von Antiochien dokumentiert und bezeichnet die geistgewirkte Fähigkeit, gemäß dem Ganzen (griechisch: „kat’holon“) zu handeln. Katholizität meint demnach die bleibende Bezogenheit alles Partikularen auf das Ganze. Dass aber die Kirche in diesem Sinne katholisch ist, hat seinen Grund darin, dass der eine Gott der Gott aller Menschen und der ganzen Schöpfung ist. Damit bezieht sich die Eigenschaft der Katholizität auf ein Ganzes, das weit über die Grenzen der sichtbaren Kirche hinausreicht. Als Kirche des Gottes Jesu Christi, der sein Blut für die Vielen vergossen hat (vgl. Mk 14,24), weiß diese sich jedem Menschen verpflichtet (vgl. GS 1).

2. Die Bedeutung der Vielfalt für die kirchliche Communio

Die abendländische Tradition ist durch eine klare Präferenz für Einheit gekennzeichnet, die nicht zuletzt der Vorliebe für Rationalität und Ord­nung geschuldet ist und eine Abwertung der Vielfalt impliziert (vgl. Greshake 1997, 61–64). Die herkömmliche Interpretation der Erzählung vom Turmbau zu Babel verstärkt diese Tendenz, indem sie die Vielfalt als das Ergebnis einer göttlichen Strafe darstellt. Offen bleibt in dieser Auslegung die Frage, weshalb der Herr die laufenden Bemühungen der Erdenkinder um Einheit durch sein Eingreifen so jäh zunichtemacht. Erst die Einsicht, dass es sich beim Einheitsansinnen jenes Megaprojekts um eine Ideologie handelt, die dazu dient, die Macht der Bauherren über das arbeitende Fußvolk zu sichern, erklärt das Verhalten des Allmächtigen, dessen Intervention für die Unterdrücker zwar als Strafe erscheint, für die Unterdrückten jedoch Befreiung und Rettung bedeutet (vgl. hierzu Keßler 1999; Ebach 2000). Auf dieser Folie betrachtet offenbart die bib­li­sche Erzählung vom babylonischen Wolkenkratzer einen Eifer des Schöpfergottes zugunsten der von ihm geschaffenen Vielfalt, deren Schmälerung er unter keinen Umständen duldet.

Im Licht der christlichen Offenbarung zeigt sich, dass diese Haltung theo­logisch grundgelegt ist. So erscheinen Einheit und Vielfalt als zen­trale Merkmale des dreieinen Gottes selbst. Damit wird die Vorstellung hinfällig, wonach die Viel­falt die Folge eines geschichtlichen Unfalls ist, während vor der Erschaffung der Welt in Gott alles eins war und alle Vielfalt im Jenseits zur Einheit zurückgeführt werden muss. Stattdessen gehören Einheit und Vielfalt gleichursprünglich zum Wesen Gottes und besitzen entsprechend auch dieselbe Würde (vgl. Greshake 1997, 219; Kehl 1993, 75). Diese Überlegungen zeigen, dass die Communio der göttlichen Personen nicht einfach mit Einheit gleichgesetzt und damit erneut als Gegenüber zur Vielfalt verstanden werden kann. Sie ist auch nicht als Zustand zu konzipieren, sondern vielmehr als unabschließbarer Prozess der Vermittlung von Einheit und Vielfalt (vgl. Greshake 1997, 176).

Die vorangegangenen Erwägungen in Bezug auf die Communio setzen einen spezifischen Begriff vom Personsein voraus, der in der Theologie wurzelt, in der Folge jedoch vor allem im säkularen Bereich eine beacht­liche geistesgeschichtliche Entwicklung erfahren hat. Die zentralen Merk­male der Person bestehen demnach zum einen in ihrer Einzigartig­keit (Individualität), die ihre Würde begründet, und zum anderen in ih­rer bleibenden Verwiesenheit auf das Ganze, das heißt in ihrer Relatio­nali­tät (vgl. Greshake 1997, 175–176). Die Person ist somit als eine po­rö­se Größe zu begreifen, die sich in ihrer Freiheit und Unverfügbarkeit einerseits selbst konstituiert, zugleich aber keineswegs isoliert existiert, sondern stets auf das je andere verwiesen bleibt. Die unaufhebbare Span­nung von Identität und Differenz ad intra – also in der Person selbst – sowie ad extra – das heißt in der Beziehung zu anderen – bedingt die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Vermittlungsprozesses nach innen und nach außen, der die Einheit und zugleich die Weiterentwicklung (Ver­änderung, Leben, Lebendigkeit) der Person über die Zeit sicherstellt.

Vielfalt und Differenz sind damit jener Faktor, der dafür verantwortlich ist, dass Neues in die Welt kommt und dass sich das Leben weiterent­wickelt. Diese Einsicht ist bedeutsam für eine Kirche, die mit dem Zwei­ten Vatikanischen Konzil den Wandel von der selbstreferenziellen Reli­gionsgemeinschaft (societas perfecta) zur selbstvergessenen Pastoral­gemeinschaft vollzogen hat und sich damit in ihrem Sein und Handeln als auf die Welt verwiesen begreift (vgl. Sander 2002). Dieser Schritt beinhaltet zugleich den Übergang von einem monologischen zu einem dialogischen Missionsverständnis, das der Überzeugung entspringt, dass die Kirche ohne das Hinhören auf die Welt nicht wirklich Kirche des Got­tes Jesu Christi sein kann, denn: Als Gott aller Menschen ist er in jedem Einzelnen präsent und wirkt in allen. Vor diesem Hintergrund wird Mis­sion zu einem wechselseitigen, geistgeführten Kommunikationsge­sche­hen, in dessen Vollzug die Welt mit der christlichen Offenbarung in Be­rührung kommt und sich zugleich die Kirche erneuert, indem sie in der entgrenzenden Zuwendung zur Welt mehr und mehr zu ihrem wahren Wesen findet. Auf diesem Weg wächst und gedeiht über die Zeit zu­gleich das neue Gottesvolk, das ausgehend von den Armen und Ausge­grenzten potenziell alle Menschen einschließt, in jedem Fall aber die Grenzen der sichtbar verfassten Kirche weit überschreitet (vgl. LG 13).

3. Die kenotische Dimension der kirchlichen Mission

In der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium be­zeich­net das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche als Sakrament und damit als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Offen bleibt an die­ser Stelle die Frage, wie Zeichen- und Werkzeugcharakter – und damit näherhin Communio und Missio – aufeinander bezogen sind. Der Um­stand, dass Communio und Missio häufig als gegenläufige Bewegungen wahrgenommen werden, entspringt seinerseits der problematischen Gleichsetzung von Communio und Einheit. Wird jedoch, wie beschrie­ben, Communio als unabschließbarer Prozess der Vermitt­lung von Ein­heit und Vielfalt gefasst, dann ist Missio das Werkzeug dieser Vermitt­lung, mit deren Hilfe die Communio unablässig hergestellt wird und sich fortlaufend erneuert. Mission und Gemeinschaft der Kirche fallen damit letztlich in eins, oder besser: Mission ist die zur Herstellung der Gemein­schaft notwendige Kommunikation (Communicatio) nach innen wie nach außen. Die Formel, die das Verhältnis zwischen Zeichen und Werkzeug angemessen zu beschreiben vermag, lautet demnach „Commu­nio als Missio“, was bedeutet: Als Werk­zeug wird die Kirche zum Zeichen und damit zum Sakrament für die Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (vgl. Greshake 1997, 400).

Entgegen einer überkommenen Konzeption, die bei der kirchlichen Mis­sion vor allem die Inhalte im Sinne der Weitergabe des Glaubenswissens und der Lehre im Blick hat, bedarf jene Kommunikation, die den An­spruch erhebt, die göttliche Missio in der Welt abzubilden, darüber hin­aus einer präzisen Gestalt. Die Form der göttlichen Missio, das heißt der fortwährenden Kommunikation zwischen Vater, Sohn und Geist, wird in der Inkarnation, im Leben und Sterben des menschgewordenen Gottes­sohnes sichtbar. Sie ist durch und durch kenotisch geprägt. Daher wird auch die Kirche ihrer Mission nur dort gerecht, wo sie ihre Selbstreferenz überwindet, um sich auf selbstvergessene Weise in den Dienst der Menschen zu stellen.

4. Mission als Entgrenzung und Kommunikation von Zugehörigkeit

Unter dem Zwischentitel „Der ausgesetzte Mensch“ beschreibt Paul Zuleh­ner in seiner Fundamentalpastoral anhand einer mittelalterlichen Malerei die Situation eines Aussätzigen sowie das entsprechende Han­deln Jesu, um daraus Einsichten für den Auftrag und die Praxis der Kir­che zu gewinnen. Bezeichnend ist dabei der Hinweis auf den sozialen Tod – gemeint ist die Isolation – des Betroffenen jenseits der Krankheit an sich. Dazuzugehören sei für die Menschen lebenswichtig. Ein heimat­loses Leben in der Fremde sei auf Dauer kein Leben (vgl. Zulehner 1989, 19). Diese Feststellung ist speziell für die hier verhandelte Thematik auf­schlussreich. Wenn die Mission der Kirche, die sich am Handeln Jesu orientiert, bereits im Allgemeinen eine Entgrenzung impliziert, die die Ausgeschlossenen vor allem dadurch heilt, dass sie diese aus ihrer Isola­tion in die Mitte der kirchlichen Gemeinschaft zurückholt, dann gilt dies umso mehr dort, wo Menschen aufgrund von Migration oder Flucht um Anerkennung und Zugehörigkeit ringen. Sozialhilfe und professionelle Unterstützung allein greifen zu kurz. Kenose beziehungsweise Entäuße­rung bedeutet hier vor allem Entgrenzung.

Tatsächlich bezeichnet Kirche im Kern ein Beziehungsgeschehen, dessen innere Dynamik im Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe auf den Punkt gebracht ist (vgl. Mk 12,29–31; Mt 22,36–40). Wie heute ange­sichts der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern und Konti­nenten und der damit verbundenen Bedenken und Ängste, so stellte sich auch zur Zeit Jesu die Frage, auf welche Adressaten sich denn das Gebot der Nächstenliebe konkret beziehe. Jesus antwortet auf diese Frage mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25– 37) und macht damit einen Vertreter jener Gruppen zum Vorbild und Helden der Geschichte, deren Zugehörigkeit per se in Frage stand. Dies mag gerade auch vor dem Hintergrund der Theologie von der Erwählung des Volkes Israel überraschen. Aufrichtige Nächstenliebe ist demnach als solche grenzenlos. Die Entgrenzung zum Fremden vollzieht sich über die Revi­sion der Definition des Nächsten. Die Grenzenlosigkeit der Nächsten­lie­be, die im erwähnten Gleichnis zum Tragen kommt, ist das Fundament der Katholizität der Kirche, die hier bereits Thema war und sich im vor­lie­genden Kontext folgendermaßen reformulieren lässt: Jeder Mensch ist mein Nächster, weil Gott der Gott aller Menschen ist.

Fragt man vor diesem Hintergrund danach, worin die Mission der Kirche im Kontext von Migration und Flucht besteht, dann lautet die Antwort: in der authentischen Kommunikation von Zugehörigkeit. Diese Mission lässt sich zwar nicht losgelöst von konkreten Hilfeleistungen mit Blick auf eine gelingende „Integration“ in die für die Lebensführung zentralen Bereiche der Gesellschaft wie Schule, Arbeit oder Wohnung erfüllen, sie fügt diesen jedoch einen entscheidenden Aspekt hinzu: Es geht ihr von Anfang an um die Beziehung als Ganzes. Und, wie bereits angeklungen, zählt dabei neben den jeweiligen Tätigkeiten vor allem die Form, in der sich diese vollziehen. Denn der äußere Tatbestand der Zuwendung allein garantiert nicht schon per se eine gelingende Kommunikation der Ent­gren­zung und Zugehörigkeit. Diese misst sich an der Wahrnehmung des Anderen und impliziert somit einen Lernprozess und eine Bereitschaft zur Veränderung auf Seiten des Handelnden, die eine Wechselseitigkeit auf Augenhöhe anstrebt. Der Umstand, dass derartige Begegnungen im Kontext kirchlicher Mission auch beim Anderen Veränderungen bedin­gen, bleibt davon unberührt.