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Ist die Kirche dem modernen Menschen treu?

Der tschechische Religionsphilosoph und Soziologe Tomáš Halík sieht es als eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche an, Anknüpfungspunkte an die säkulare Gesellschaft des Abendlandes zu finden. In diesem Sinne sollte das Christentum, das sich in einer „mittäglichen Ermattung“ befinde, einen Weg der nachmittäglichen Reifung suchen, der weder der Weg des Fundamenta­lis­mus noch des Modernismus, sondern ein Weg in die Tiefe, in die Freima­chung (Kenosis) ist.

Die festlichen einleitenden Worte der Konzilskonstitution Gaudium et spes (Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi) klingen fast wie ein Ehegelöbnis: Die Kirche gelobt dem moder­nen Menschen Liebe, Achtung und Treue in guten sowie schlechten Zei­ten. Ist die Kirche ihrem Versprechen treu geblieben? Kann sie heute mit gutem Gewissen eine „goldene Hochzeit“ mit der modernen Gesell­schaft feiern?

Es scheint mir, dass in der Beziehung der Kirche mit den Menschen unserer Zeit noch viele Spannungen und Missverständnisse überleben. Vielleicht sollten gerade Theologen hier die Rolle der Eheberater spie­len. Das II. Vatikanische Konzil hat zu einem Übergang vom „Katholi­zis­mus zur Katholizität“, zu einem Exodus aus dem „Katholizismus“ als Kontrakultur gegen moderne Kultur beigetragen. (Mit „Katholizismus“ meine ich hier jenen relativ fest formierten und streng strukturierten Typ des soziokulturellen Umfeldes, in dem das Christentum von einem institutionell-doktrinalen Ganzen repräsentiert wurde, das sich gegen den Einfluss des Protestantismus und der modernen Kultur stellte. Als „Katholizität“ bezeichne ich jenen Charakterzug der Offenheit und der Universalität der Kirche, der definitiv zwar erst im eschatologischen Horizont ausgefüllt werden kann, um den man allerdings in jedem Moment der Kirchengeschichte gegen die Versuchung der Exklusivität von Sektierern und Nichtkommunikativität ringen muss.)

Das, worin ich heute die wichtigste Aufgabe der Kirche sehe, ist auf der einen Seite, die „Ökumene Abrahams“ zu stärken (einschließlich der Beziehung zum Islam), auf der anderen Seite aber Anknüpfungspunkte an die säkulare Gesellschaft des Abendlandes zu finden – mit der Pers­pektive einer bestimmten Vermittlung zwischen diesen Welten, zwi­schen denen nicht nur das gegenseitige Unverständnis wächst, sondern es auch zu Explosionen kommen kann, die die ganze Welt bedrohen.

Eine andere Dimension der Katholizität ist ihre Beziehung zu jenen „nicht Einzuordnenden“. Ich glaube, die Kirche sollte lernen, besser mit denjenigen zu kommunizieren, die sich nicht völlig mit ihren derzeiti­gen Strukturen (damit ist der Bereich Institution, Lehre und Praxis ge­meint) identifizieren können oder wollen, die jedoch trotzdem nicht an einem vollkommen anderen Ufer stehen.

Das Ringen um die Katholizität der Kirche ist auch ein Ringen um ihre Offenheit und ihr Verständnis für diejenigen, „die nicht mit uns gehen“ – von den „schlechten Katholiken“ in den Vorsälen der kirchlichen Pra­xis über die „Dissidenten“ von rechts und von links, über die schwer einzuordnenden, ständig religiös Suchenden, über die Nikodemusse, die nur in der Nacht kommen, bis hin zu den „anonymen Christen“ und „Sympathisanten“ – jene, die sich selbst nicht als Christen bezeichnen, denen man allerdings nicht ein „Samenkorn des Logos“ absprechen kann, die der alten Tradition der Kirche nach in den Herzen aller ausge­sät sind, die aufrichtig nach der Wahrheit suchen.

Der Grundunterschied besteht heute nicht zwischen den „Gläubigen“ und den „Nichtgläubigen“ (oder jenen, die sich selbst als gläubig oder nichtgläubig ansehen), sondern zwischen den „dwellers“ („heimisch Gewordenen“) und „seekers“ („Suchenden“). Dies ist ein weiterer Grund für eine Revision des „Säkularisierungsparadigmas“ – nicht die Zahl Gläubiger nimmt ab, sondern die Zahl der „dwellers“. Die Zahlen sinken in beiden Lagern, die der „seekers“ nehmen zu. Das hat für die Seelsorge eine grundsätzliche Bedeutung. Bisher war diese nur auf die „dwellers“ eingestellt. Die Zukunft der Kirche hängt davon ab, inwie­weit es ihr gelingt, die „seekers“ anzusprechen.

Soll die Kirche nicht zu einer Sekte werden, kann sie sich nicht bloß um die „Vollintegrierten“ kümmern, sondern sie sollte einen Raum öffnen auch für diejenigen, die am Glauben der Kirche noch nicht voll beteiligt sind, die „ihren eigenen Gott“ eifersüchtig behüten und von der „orga­ni­sier­ten Religion“ Abstand halten.

Soll die Kirche bloß ein gemütliches Heim für die „dwellers“ sein oder kann sie auch einen offenen Raum für die „seekers“ darstellen? Kann ihre Solidarität mit den Menschen unserer Zeit, zugesagt in dem Eröff­nungssatz der Konstitution Gaudium et spes, bedeuten, sie werde nicht nur „mit den Weinenden weinen und sich mit den Fröhlichen freuen“, sondern sie wolle auch Suchende mit den Suchenden sein?

Es ist sicher legitim und wichtig, dass sich die Kirche um die Aufrechter­haltung der Kontinuität der Tradition, um die Belebung eines „festen Kerns“ und um die klassische Missionsarbeit bemüht. Würde sie ihre Identität, die sie über Jahrtausende herausgebildet hat, verlieren oder bis zu Unkenntlichkeit aufweichen, hätte sie übrigens gerade den Men­schen am Rande und „hinter den Mauern“ nichts zu bieten. Doch alle Formen der Seelsorge, die sich über Jahrhunderte bewährt haben, rei­chen heute nicht mehr aus.

Damit die Kirche eine Kirche bleibt und nicht zu einer Sekte wird, muss sie sich wie der Saturn seinen „äußeren Ring“ bewahren. Übrigens ist ein beredtes Symbol dafür der vatikanische Petersdom, den – falls man die Absicht des Architekten richtig versteht – nicht nur ein innerer Kir­chenraum bildet, sondern auch eine offene Kolonnade, die den Platz einrahmt, über den Tag für Tag Menschenströme ziehen, die meistens gar nicht gewahr werden, dass sie sich gleichzeitig draußen und „drin­nen“ befinden.

Vielleicht ist dieser Offenheit die Entwicklung der Ekklesiologie – der Lehre von der Kirche – behilflich, in der man heute sichtbar von der Metapher der Kirche als mystischen Körpers Christi (die das Leitbild zu Zeiten Pius´ XII. darstellte) zu der Me­ta­pher übergeht, die Johannes Paul II. gern verwendet – „der Kirche als Ikone der Dreifaltigkeit.“ Im Unterschied zur Auffassung von Joachim da Fiore (und seiner zahllosen Nachfolger), nämlich dem Bemühen, die Dreifaltigkeit in die Geschichte in Form dreier aufeinander folgender geschichtlicher Epochen hineinzu­projizieren, bietet sich hier die dreidimensionale Auffassung der Plura­lität der Kirche an.

Meditiere ich über diesem Bild, scheint es mir, dass die Kirche wirklich drei Formen hat – sie hatte sie wahrscheinlich immer und muss sie sich auch weiter erhalten. Man muss darin sowohl für diejenigen Platz fin­den, die sich um das „Erbe der Väter“ kümmern, als auch für diejenigen, die von der Neuheit des Lebens mit Christus ergriffen sind und die Frei­heit von dem Gesetz, das der Sohn gebracht hat, verteidigen. Doch dann muss darin die Offenheit herrschen, damit der Geist wehen kann, der „weht, wohin er will“, der alle Grenzen überschreitet und es denen „drin­nen“ nicht erlaubt, sich darauf zu berufen, die einzigen legitimen „Kinder Abrahams“ zu sein, denn gerade durch sein Wirken kann Gott Abrahams Kinder beispielsweise aus den Steinen zum Leben erwecken.

Die vom Konzil erhoffte Frucht des Bündnisses mit dem Säkularhuma­nismus – ein breiterer Aufschwung des Katholizismus im Westen – fand sich nicht ein. Moderne Seminargebäude, Kirchen und Klöster, gebaut in begeisterter nachkonziliarer Erwartung, wurden nicht voll, vielmehr wurden die bisher existierenden immer leerer.

Die Kirche bekam die Chance, sich dessen bewusst zu werden, was sie lange Zeit zugegebenermaßen ablehnte, nämlich dass sie längst ein Be­standteil der modernen Gesellschaft ist. Sogar der religiöse Fundamen­ta­lis­mus, eines der Gesichter des gegenwärtigen Christentums, ist ein typisch modernes Phänomen. Der Fundamentalismus beschwört die Tradition, ist jedoch seinem Wesen nach anti-traditionell; er stellt einen Versuch dar, jenen lebendigen Strom der Tradition, jene Strömung des Heiligen Geistes durch die Landschaft der Geschichte aufzuhalten und sich auf eine der vergangenen Gestalten der Kirche und der Theologie zu fixieren. Das Problem besteht darin, dass diese Gestalt – die prämoder­ne Christianitas – heute nicht mehr lebendig ist und in der Form, nach der sich die Traditionalisten sehnen, offensichtlich auch nie existierte: Es geht vielmehr um ein Ideal, das der Romantismus in seiner Polemik gegen die Aufklärung erträumt hat.

Jedoch auch jene, die die Devise Johannes‘ XXIII. – aggiornamento – oberflächlich und verzerrt aufgefasst hatten als Aufruf zu Konformität, zu billiger Anpassung an die überwiegende Mentalität der späten Mo­der­ne, brachten der Kirche keinen Nutzen. Die säkulare Welt fragte zwar ständig, wann sich die Kirche endlich der modernen Zeit anpasse, jene allerdings, die es versucht hatten, waren bitter überrascht dadurch, dass die säkulare Welt an einem säkularisierten Christentum gar nicht inte­res­siert ist. Der moderne Mensch spürt instinktiv, dass die unterwürfige Form eines „modernisierten Christentums“ nicht fähig ist, die moderne Welt mit etwas wirklich zu bereichern; sie trägt nur Eulen nach Athen.

Am Anfang der Geschichte der Evangelisation steht die revolutionäre Botschaft des Apostels Paulus: Eine neue Wirklichkeit kommt, die alle bisherigen Grenzen zwischen den Menschen überwinden und alle Men­schen vereinigen wird. Es hat keine Bedeutung mehr, ob man Jude ist oder Heide, Mann oder Weib, reich oder arm, Sklave oder freier Mensch: in Christus sind wir eine neue Schöpfung. Alle bisherigen, auf den Un­ter­schieden gründenden Identitäten und Gewissheiten sind relativiert. Einer ist gekommen, der alle trennenden Mauern niedergerissen und alles in sich versöhnt hat. Man soll nicht zum Alten zurückkehren, man soll dieses neue Leben leben, diese befreiende Kraft ins Leben, in die Welt hineinbringen. In diesem Appell brannte etwas aus der Pfingster­fahrung: Eine neue Sprache ist da, die alle Menschen imstande sind zu verstehen, über die Grenzen von Kulturen, Völkern und Religionen hinaus.

Getragen von diesem Appell hat das junge Christentum die Grenzen des Judaismus überschritten und trat in die durch die hellenische Philoso­phie und die römische Politik geformte Welt ein. Dieser ersten Rekon­tex­tuali­sierung des Christentums, der Einverleibung des christlichen Glaubens in die antike Kultur und Gesellschaft, verdankt die Geschichte des Westens Vieles. Nicht zu übersehen ist jedoch auch die andere Seite dieser Tatsache, nämlich die Steuer, die das Christentum für seinen kulturellen und schließlich auch politischen Erfolg in der antiken Welt gezahlt hat. Das Christentum hat nach und nach eine großartige Kultur entwickelt; ist es aber nicht in den Grenzen und in der Sprache dieser Kultur dermaßen heimisch geworden, dass es aufhörte, die alle Grenzen beseitigende und die Menschen aller Sprachen wachrüttelnde Kraft zu sein? Das Christentum ist allmählich zur Religion geworden – Religion in jenem ursprünglichen, römischen Sinn des Wortes religio, zum Sys­tem von Symbolen und Riten, die die Identität einer bestimmten Ge­sellschaft zum Ausdruck brachte und deren Integrität stärkte. Es wurde zu einer Religion neben den anderen Religionen, zu einer Sprache neben vielen anderen. Evangelisation wurde durch Christianisierung ersetzt, durch Christlichmachung – durch Anstrengungen, weitere Gebiete (im kulturellen und geistigen, jedoch auch im geographischen und politi­schen Sinn – manchmal auch „mit Schwert und Feuer“) an das bereits existierende kulturpolitische Reich, die Christianitas, anzuschließen.

Das 2. Vatikanische Konzil wurde oft als Ende des „Konstantinismus“ bezeichnet. Einmal habe ich eine berühmte Legende ironisch kommen­tiert, nämlich jene, die die Anfänge des „Reichschristentums“ (Christia­nitas) treffend symbolisiert, die vom Traum des Kaisers Konstantin. Konstantin sah im Traum ein Kreuz und hörte die Worte „In diesem Zeichen wirst zu siegen“. Am nächsten Morgen ließ er auf die Banner seines Heeres Kreuze anbringen und hat die Schlacht gewonnen. Dies brachte mich zu Nachdenken darüber, wie die Geschichte Europas sowie die der Kirche aussehen würden, wenn der Kaiser seinen Traum ein biss­chen intelligenter und nicht so oberflächlich gedeutet hätte.

Auch wir stehen heute vor dem Kreuz als vor einem Dilemma. Wird das Kreuz für uns eine Kampfstandarte sein, eine nostalgische Erinnerung an jene Zeiten, in denen er das Zeichen des Triumphalismus und der Macht war? Werden wir die „neue Evangelisation“ als eine Reconquista verstehen, als eine Re-Christianisierung, „religiöse Mobilisation“, getra­gen von der Nostalgie nach einer untergegangenen Zivilisation, nach der Christianitas?

Oder werden wir die kenotische Sendung des Kreuzes begreifen? Jesus, obwohl er Gott gleich war, entäußerte sich, ist den Menschen gleich ge­worden und nahm Knechtsgestalt an … Wenn wir Christus nachfolgen wollen, müssen wir auf die Sehnsucht nach einer privilegierten Stellung in dieser Welt verzichten; jeder von uns muss „den Menschen gleich werden“, muss die Solidarität mit den Menschen unserer Zeit ernst nehmen, zu der sich die Kirche mit den schönen Einleitungsworten der Konzilskonstitution „Gaudium et spes“ verpflichtet hat. Keine Angst, dass wir uns dadurch in der Masse verlieren und unserer christlichen Identität beraubt werden. Das, was uns von der Masse der Menschen um uns herum unterscheiden wird (uns jedoch zugleich auch mit jenen verbinden wird, mit denen wir von uns aus keine Verbundenheit suchen würden), werden nicht Kreuze auf Bannern sein, sondern jene Bereit­schaft „die Knechtsgestalt anzunehmen“. Diese Lebensausrichtung (kenosis, Selbstverzicht) bedeutet inmitten einer vorwiegend auf mate­ri­ellen Erfolg ausgerichteten Zivilisation eine auffallend nonkonforme Stellungnahme; die so Lebenden können sowohl verborgenes „Salz der Erde“, als auch unübersehbares „Licht der Welt“ sein.

Nie nachgelassen haben zum Glück in der Geschichte des Christentums die Versuche um eine Alternative zu der statischen Form des Christen­tums, um ihre innere Reform – um eine Evangelisation, wenn Sie wol­len. (Vereinfacht gesagt: die Christianisierung verstehe ich als ein Stre­ben nach der Expansion des Christentums, nach dem „Bekehren der Heiden“, die Evangelisation als ein Bemühen um eine „Bekehrung der Christen“, um ein Abrücken von dem selbstsicheren „Christsein“ zu einem demütigen „Christwerden“ hin.)

Wenn die „neue Evangelisation Europas“ wirklich neu sein soll, muss sie den Mut haben, diese uralte, ursprüngliche, evangeliumsgerechte Gestalt mit Demut anzunehmen. In welchem Augenblick der Geschich­te des Christentums leben wir heute in Europa, welcher Art sind die „Zeichen der Zeit“ und wie sollen wir darauf antworten? Befindet sich das Christentum immer noch am Anfang seiner Geschichte, wie Teilhard de Chardin behauptete, oder liegt es im Sterbebett, wie es so manche voraussagten – von Voltaire bis zu einigen Verkündern des „neuen Atheismus“?

Als Antwort habe ich eine dritte Variante zu bieten: Das Christentum in Europa erlebt eine bereits lange Jahre dauernde „mittägliche“ Ermat­tung, Müdigkeit, eine Krise, aus der es erst dann heraustreten kann, wenn es begriffen hat, dass es auf einem bedeutenden Scheideweg steht und sich für einen der möglichen weiter führenden Wege entscheiden muss. Auch hier plädiere ich für einen „dritten Weg“ zwischen zwei Extremen: Ich schenke keinen Glauben einem Weg zurück, dem der Nostalgie der Traditionalisten, noch einem „Vorwärts“ im Sinne des Konformismus mit einer gewissen Modernitätslinie. Wenn ich gut verstehe, was „der Heilige Geist den Kirchen (heute) sagt“, dann befür­wortet dieser „Fürsprecher“ (Parakleitos) den Weg zu Tiefe, zu Freimachung (Kenosis) und Reifwerden.

Die Metapher, von der wir zu weiteren Überlegungen ausgehen werden, ist durch ein Bild inspiriert, das C. G. Jung für den Reifeprozess der Persönlichkeit verwendete. Jung gemäß ist das Leben des Menschen dem Tag ähnlich: Dessen erste Hälfte, der „Vormittag“, stellt die Aufgabe dar, vor allem die äußeren Strukturen der Persönlichkeit auszubauen, den eigenen Platz und die eigene gesellschaftliche Rolle in der Welt zu finden. Es folgt die „Mittagskrise“ – sie kann eine Krankheit sein, eine Ehekrise, wirtschaftliche Schwierigkeiten, berufliches Scheitern, oder einfach irgendeine Ermüdung, wo den Menschen alles, was ihn bisher erfüllte, zu freuen aufhört, und eine Ermattung, Müdigkeit und Depres­sion sich seiner bemächtigen.

Nach Jung stellt diese Krise – wie jede andere – zugleich auch eine Chan­ce dar. In ihr wird deutlich, was alles der Mensch in seiner Einsei­tigkeit außer Acht ließ, vernachlässigte und unterschätzte. Der Mensch steht am Scheideweg. Während des „Vormittags“ war er mit dem Aus­bau seiner Karriere und seines Hauses beschäftigt. Am „Nachmittag“, in der zweiten Hälfte des Lebens, können wir dies sicher fortsetzen und alle unsere Kräfte dem Festigen, Verbessern und Vermehren des bereits Erlangten widmen. Man kann jedoch auch Abstand davon nehmen und einen Weg „zur Tiefe“ einschlagen, sich dem Abenteuer des geistigen Reiferwerdens aussetzen, was allerdings mit Krisen, Prüfungen und Gefahren verbunden ist. (Willst du vollkommen sein, so geh, verschenke alles, was du hast, und folge mir nach, empfahl Jesus jenem reichen jungen Mann, der in manchem zufrieden mit sich war – er befolgte alle Gebote von Kind auf – und trotzdem spürte, dass ihm etwas fehlte. Der junge Mann ging traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen und war nicht imstande, sich davon zu trennen. Und wir?)

Die Metapher, die ich im Weiteren entfalten will, lautet in einfachster Form wie folgt: Die Geschichte des Christentums vom Anfang an bis zur Schwelle des Modernismus, das war der „Vormittag“, in dem sich die institutionelle und doktrinale Seite entwickelt hat. In Konfrontation mit der Moderne waren diese institutionellen und doktrinalen Strukturen einer Krise und leidenschaftlicher Kritik ausgesetzt. Zum Vorschein kam ein vielgestaltiges Phänomen des Atheismus und Agnostizismus, und als das Christentum gelernt hatte, diesen Erscheinungen einiger­ma­ßen zu begegnen, tauchte ein weit schwieriger Gegner auf, der „Apatheismus“, der Verlust des Interesses an der Religion.

Die gegenwärtige „Rückkehr der Religion“, wenn mit dieser Bezeich­nung vielmehr die emotionale Religiosität einiger „neuer religiöser Bewegungen“ und die Inflation der Esoterik gemeint ist, scheint mir eher eine kommerzielle Reaktion auf die Absenz der geistigen Kultur zu sein als eine wirkliche Erwachung des Glaubens aus dem Mittagsschlaf.

Das Christentum ist nicht eingegangen, wie es die Theoretiker des Säku­larismus erwartet und die Ideologen des „wissenschaftlichen Atheis­mus“ geplant hatten. Jedoch wenigstens im großen Teil Europas und in der durch die europäische Kultur wesentlich geformten Welt erlebt das Christentum eine Ermattung, Ermüdung, Depression. Es leidet unter inneren Streitigkeiten zwischen den „Traditionalisten“ und den „Mo­der­nisten“, die meiner Ansicht nach ein gemeinsamer Irrtum verbindet – beide verfeindeten „Lager“ denken in den Kategorien des „Vormit­tags“: Es geht ihnen vor allem um institutionelle Strukturen und um Formen der Glaubensäußerung. Die einen erschöpfen sich in Bemühun­gen, die Entwicklung vor die Moderne zurückzubringen, die anderen verbinden die Zukunft und die Hoffnung des Glaubens vorwiegend mit einer Reform dieser Strukturen. Auf die äußeren Strukturen kommt es wohl nicht so sehr an. Angesichts dieser Streitigkeiten um sekundäre Angelegenheiten wiederhole ich immer wieder: Die Lösung ist weder auf einem Weg nach links oder rechts, noch vorwärts oder rückwärts zu finden, sondern auf dem Weg in die Tiefe.

Mit diesem Weg in die Tiefe, in dem ich den Ausweg aus der Krise sehe, meine ich keinesfalls irgendeine pietistische Flucht ins „Paradies des Herzens“, in ein Gärtlein privater Frömmigkeit. Der Ausweg liegt im Verbinden der Bemühungen um eine spirituelle Erneuerung mit dem Mut, eine neue Sprache der Theologie und der Verkündung zu suchen und damit den Kern des christlichen Glaubens im Dialog mit den we­sentlichen Fragen der heutigen Zeit zum Ausdruck zu bringen. Ein in­spiratives Modell für die heutige Kirche kann das Ideal der mittelalter­lichen Universität sein. Die Universität als Gemeinschaft des Lehrens und Lernens, des Lebens sowie des Betens der Meister und Schüler, eine Gemeinschaft, in der die Freiheit der Überzeugung herrscht, auf dem Glauben gründend, dass auf dem Wege zur Freiheit eine Diskussion unentbehrlich sei und dass die Lehre von Gebet und Meditation ausge­hen müsse: „Contemplata aliis tradere“ („die Frucht der Kontemplation weitergeben“). Nur so kann die Kirche dem modernen Menschen treu bleiben.

Quelle: http://www.downloads.bistum-hildesheim.de/1/10/4/64396064437226136888.pdf

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.