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Nachdenken über barrierefreie Digitalität

Unsere Erfahrungen in der Pandemie

In einem zweigeteilten Beitrag berichten Dorothee Janssen (Bistum Essen) und Michael Geisberger (Bistum Augsburg) von ihren Erfahrungen mit digitalen Formaten in der Gehörlosenseelsorge. In der Pandemie sind die Mängel sehr deutlich geworden, die einer Inklusion von Menschen mit Behinderung in der digitalen Kommunikation noch im Wege stehen. Die Kirche könnte hier mit gutem Beispiel vorangehen.

Inklusion im digitalen Neuland – eine Hinführung

Mit der Pandemie sind im Bereich der Behindertenpastoral und -seelsorge viele analoge Formate eingebrochen. In der gewachsenen Behindertenselbsthilfe sind Treffen im Rahmen von Vereinen und Veranstaltungen üblich. Neue, zeitgemäße Strukturen für kirchliche Inklusion gibt es noch nicht so flächendeckend. Vieles fiel wegen der Pandemie einfach aus. Das wollten wir so nicht hinnehmen. Aber uns waren quasi die Hände gebunden, denn unsere Zielgruppen – gehörlose, schwerhörige Menschen und Menschen mit Mehrfachbehinderung in Wohnheimen – gelten zum Teil als technisch unerfahren, je älter, desto mehr. Wir begannen also selbst, mit technischen Mitteln unsere Kommunikation auszutesten. Neben Brief, Telefon, Telefax und E-Mail landeten wir dabei schnell bei Videokonferenzen. Ob Zoom, senfcall oder MS Teams: Im Grunde macht jeder, was er kann.

In zwei Abschnitten erzählen wir von unseren Erfahrungen und schließen mit einem gemeinsamen Resümee.

Wir werben um kirchliche Transformationsprozesse für ALLE u. a. durch digitale Barrierefreiheit. An den Beginn setzen wir bewusst die Definition des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz BGG):

㤠4 Barrierefreiheit
Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen
in der allgemein üblichen Weise,
ohne besondere Erschwernis
und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.
Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“

 

 

Bedarfe schwerhöriger, ertaubter und gehörloser Menschen

Michael Geisberger

Deutsche Gebärdensprache (DGS)

Ich möchte mit meiner Erfahrung beginnen, um die Bedarfe gehörloser Menschen zu verdeutlichen: Am 6. März 2020 hat der Deutsche Gehörlosen-Bund (DGB) e. V. seine Pressemitteilung „Fehlender Zugang zu gesundheitlichen Informationen über das Coronavirus in Gebärdensprache und mit Untertiteln“ (DGB 2020) verbreitet. Was in anderen Ländern bereits selbstverständlich war, wurde in Deutschland erst nach Tagen und Wochen im Frühjahr 2020 ermöglicht. Vielleicht erinnern Sie sich, im linearen deutschen Fernsehen plötzlich Gebärdensprache gesehen zu haben.

Weiter schreibt der DGB über die Informationen im Internet: „Leider sind die Informationen nur in der Schriftsprache gehalten, in der Sprachform der hörenden Menschen. Deswegen können viele gehörlose und hörbehinderte Menschen diese Informationen nicht immer gut verstehen. Auch gibt es dazu keine Videos mit Übersetzungen in die Gebärdensprache“ (DGB 2020).

„Aber die können doch lesen“, diese Meinung vieler Hörender muss ich korrigieren, denn die Schriftsprache ist für gehörlose Menschen wie eine Fremdsprache. Die selbstverständliche Verwendung der Laut- und Schriftsprache auf dem Niveau von hörenden Menschen gelingt nur einem sehr kleinen Teil. Darum ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) so wichtig. Die Katholische Seelsorge in Deutscher Gebärdensprache bietet allen, die einen Internetzugang haben, die Seite https://taub-und-katholisch.de. Kolleginnen und Kollegen gestalten zusammen mit ehrenamtlichen Gebärdensprachlern wöchentliche Impulse, auch bei Telegram unter „TuK-Bibel in DGS“.

Vatican News sind vorbildlich: Seit Ostern 2021 werden die Übertragungen von Generalaudienzen und Angelus-Gebeten auch in italienischer (https://e.va/lis für die Lingua dei Segni Italiana LIS) und amerikanischer (https://e.va/asl für die American Sign Language ASL) Gebärdensprache angeboten. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Papstes, daraus einen dauerhaften Dienst in mehreren Sprachen zu machen. Bemerkenswert ist auch, dass der ZDF-Gottesdienst seit März 2020 im Internet live mit DGS mitgefeiert werden kann. Aber leider noch nicht im linearen (!) Fernsehen. Besonders ältere Menschen haben kein Internet oder nutzen ihr Smartphone oft nur für die Kommunikation über einen Messenger-Dienst (vgl. Kortmann u. a. 2021), ohne weiter das Internet zu nutzen. Leider mangelt es diesen „Off-Linern“ im linearen Fernsehen live an Gebärdensprache. Dies wäre zeitgleich z. B. auf phoenix bei Gottesdiensten an Festtagen und bei kirchlichen Veranstaltungen mit überregionaler Bedeutung pastoral eminent wichtig. Der Deutsche Gehörlosenbund hat „Empfehlungen für die Bereitstellung von Angeboten in Gebärdensprache in deutschen Medien“ (z. B. „Die Dolmetscher/-innen nehmen mindestens 30 % des gesamten Bildschirms ein.“) erstellt, die gut auch auf Videos im Internet zu übertragen sind.

Untertitelung (UT)

Schwerhörige, ertaubte und gehörlose Menschen können Videos von Gottesdiensten, Bischofsworten oder Besinnungen nicht nutzen, wenn sie keine (zuschaltbaren) Untertitel enthalten. Betroffen sind ca. 13 Mio. Menschen in Deutschland, hinzu kommen etwa 80.000 Gehörlose. Automatisch generierte Untertitel im Netz können – nach den Untertitelrichtlinien auf www.untertitelrichtlinien.de – nachgearbeitet werden. Nur dann ist sichergestellt, dass Worte und Grammatik richtig und schnell verstanden werden.

Kontakt über Messenger

Sehr viele nutzen einen Messenger-Dienst, der mit dem Gesetz über den kirchlichen Datenschutz (KDG) nicht gut vereinbar ist. Das bremst auch unsere Arbeit stark aus. Der Umstieg auf „privatsphäre-freundliche“ Messenger-Dienste fällt vielen ohne technische Unterstützung sehr schwer.

Kontakt per Videokonferenz

Wenn, dann wird untereinander die Videochat-Funktion des Messenger-Dienstes für 1:1-Kommunikation benutzt. Auch Zoom wird von einigen eingesetzt. Barrierefreie Anleitungen zur Nutzung von Videokonferenzen gibt es kaum, darum werden auch Videokonferenz-Dienste nur sehr eingeschränkt genutzt.

Katholische Erwachsenenbildung (KEB)

Bis auf wenige Veranstaltungen mit Untertitelung (UT) und Gebärdensprache (DGS) ist die KEB im Bereich digitaler Barrierefreiheit meist noch ausbaufähig. Bei schwerhörigen Teilnehmenden ist z. B. eine permanente Videozuschaltung aller nicht zu empfehlen, da es aufgrund des hohen Datenvolumens zu einer schlechteren Übertragungsqualität (bspw. Tonverzerrung) kommen kann. Gleichzeitig ist dadurch auch Mundbild und Mimik der sprechenden Person besser zu erkennen, die dann größer auf dem Bildschirm erscheint. Das verwendete Video-Konferenzsystem sollte die zuschaltbare Untertitelung ermöglichen. Für Gebärdensprachler muss das Fenster mit der Gebärdensprachdolmetschung immer groß genug zu sehen sein. Mit Vorträgen und Veranstaltungen von überregionaler Bedeutung könnte der Anfang gemacht werden. Die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen zur gezielten Weitergabe solcher Einladungen an unsere Zielgruppe könnte ich mir gut vorstellen.

 

 

Videokonferenzen – neue Erfahrungen in der Pandemie

Dorothee Janssen

Der ausrangierte Laptop

In einem Wohnheim für Menschen mit Mehrfachbehinderung, die auf Begleitung und Schutz angewiesen sind, hatte ein Mitarbeiter einen Laptop aus seinem Privatbereich in eine Wohngruppe mitgenommen und einigen Männern gezeigt, wie sie über Skype mit entfernten Personen sprechen können. Das war in der Zeit der Pandemie für die Pastoral in unserer Pfarrei eine große Erleichterung. Wir konnten in kleinen Kreisen (nicht mehr als fünf Personen) wöchentlich eine Stunde mit denen skypen, die auf Besuche verzichten mussten. Die Begeisterung war auf allen Seiten groß. Nur die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in dem Heim hatten Mehrarbeit, da sie das Gerät jeweils aktivieren mussten.

Es stellte sich heraus, dass einer der Männer im Verlauf von Monaten die Funktionen von Skype nach und nach selber bedienen konnte. Für eine regelrechte Einweisung in die Bedienung des Laptops blieb den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keine Zeit, aber wir konnten manches ausprobieren in der einen Stunde. Als wir dann endlich wieder persönliche Treffen ermöglichen konnten, baten die Beteiligten darum, die Skype-Treffen fortzuführen.

Eine Besonderheit ist das Teilen von YouTube-Videos. Wir konnten so Interessen, die im Verlauf unserer Sitzungen wichtig wurden, mit Liedern oder kleinen Filmen vertiefen. Das Gespräch wurde so durch ein weiteres Medium ergänzt.

Wo kann man Hilfe und Unterstützung finden?

Wie kann ich mich mit Menschen verbinden, die lernbehindert sind oder körperliche Einschränkungen haben? Das Problem ist, dass ich meist nicht genau sagen kann, wie mein Gegenüber mit der Technik zurechtkommt, wenn nicht ich selbst es bin, die die Schulung unternommen hat. Ich möchte hier auf einige Links, Bücher und Initiativen hinweisen, die mir geholfen haben:
 

Piksl Labore

Eine prämierte Initiative führt Menschen mit lernbehinderten und unbehinderten Menschen in einem Unternehmen zusammen. Sie finden dort Arbeitsplätze und können fundiert Schulungen anbieten. Unter https://piksl.net findet man eine Übersicht an Themen und Veranstaltungen. Auf YouTube und Twitter teilen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre aktuellen Aktionen und haben mir so sehr geholfen, einen Einblick in Möglichkeiten (also nicht in Hindernisse) zu geben. Auf einer Veranstaltung, die in Form eines Barcamps Akteure und Akteurinnen für Inklusion zusammenbrachte, konnte ich einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen persönlich kennenlernen.
 

Sozialheld*innen

Auf Initiative des Aktivisten Raúl Krauthausen sind die Sozialheld*innen entstanden. Dort geht es schwerpunkmäßig um den sozialen Bereich. Aber sie verbreiten ihre Arbeit auf allen gängigen digitalen Kanälen und können gute Tipps für Barrierefreiheit geben. Außerdem findet man dort zugewandte Experten und Expertinnen, die für Fragen ansprechbar sind und gerne weiterführende Tipps geben (https://sozialhelden.de). Die Sozialheld*innen kämpfen kompromisslos für Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderung, also für Inklusion, und bieten Mittel und Wege, dieses Anliegen zu unterstützen.
 

Aktion Mensch

Ein Link mit einer umfangreichen Sammlung, die den Status quo abbildet und gepflegt wird, bietet Aktion Mensch mit https://www.einfach-fuer-alle.de/blog/tags/lernbehinderung/.
 

Lernplattform on-line

Eine direkt für lernbehinderte Menschen erstellte Lernplattform, an der u. a. die Aktion Mensch beteiligt ist, findet man unter http://www.on-line-on.eu/. Sie hat eine vorbildliche Struktur, weil sie für Menschen mit Lernbehinderung gut nutzbar ist und alle Anforderung des W3C XHTML 1.0 (EXtensible HyperText Markup Language), des nächsten Schritts in der Entwicklung des Internets nach HTML, einhält.
 

Hilfreiche und weiterführende Literatur

Die Website https://inventaire.io/inventory/bit58456 bietet eine Sammlung hilfreicher Literatur. Daraus kann ich aus persönlicher Kenntnis besonders den Autor Domingos de Oliveira (https://netz-barrierefrei.de) empfehlen, er bietet Schulungen an. Er ist selbst sehbehindert und hat sich umfangreiche Kenntnisse über Barrierefreiheit erworben. Frau Dr. Heike Schaumburg von der Humboldt-Universität zu Berlin im Institut für Erziehungswissenschaften hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Studie veröffentlicht, die am Schluss weiterführende Literatur bietet: Chancen und Risiken digitaler Medien in der Schule, Medienpädagogische und -didaktische Perspektiven (Schaumburg 2015).
 

Initiativen

Es gibt leider zu wenige Initiativen, die den Weg in die Öffentlichkeit finden. Meist ist es die Aktion Mensch, die wahrgenommen wird. Nach unserer Erfahrung ist in jeder Stadt und jeder Pfarrei irgendwo jemand oder eine ganze Gruppe aktiv und selbstverständlich mit Inklusion befasst, ohne sich dessen selbst bewusst zu sein. Gerade jüngere Menschen (z. B. die Pfadfinder der DPSG) praktizieren es einfach. Aber jüngere Menschen haben in der Regel wenig Bewusstsein für Datenschutz. Sie probieren gerne aus und finden Wege, miteinander zu kommunizieren. Wir möchten Sie, die Leserinnen und Leser, ermutigen: Helfen Sie, Initiativen aufzustöbern und sie bekannt zu machen! Initiativen entstehen zumeist aufgrund von äußerem Druck, weil Dritte Not erkennen und aktiv werden. Menschen mit Lernbehinderung finden allein zu selten Gehör. Wir wiederholen unsere Bitte: Helfen Sie, Menschen mit Lernbehinderung Gehör zu verschaffen! Ein Beispiel für gelingende Initiativen mit Vorbildcharakter ist der Deutsche Bildungsserver, eine Fundgrube für Beispiele oder sogar Initiativen, an denen Sie sich beteiligen können: https://www.bildungsserver.de/Inklusion-und-digitale-Bildung-Behinderter-12816-de.html.

Menschen mit Lernbehinderung organisieren hier selbst ihre Anliegen: https://www.menschzuerst.de/.

 

Unser Resümee

Was für Videokonferenzen gilt, gilt für alle anderen Kommunikationsmittel der Digitalität. Viele unserer Klienten und Klientinnen nutzen ein Smartphone und haben es für ihre eigenen Belange angepasst. Wir machen im Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen in allen Bereichen der Behindertenseelsorge und Behindertenhilfe die Erfahrung: Barrierefreiheit ist möglich. Wir können hier keine professionellen Empfehlungen abgeben, weil wir nicht vom Fach sind. Aber wir haben gelernt und teilen unsere Erfahrungen gerne mit. Zunächst ist es hilfreich, mit IT-Experten ins Gespräch zu kommen. Schildern Sie ihnen, welche Bedarfe vorliegen, und hören Sie, welche Empfehlungen gegeben werden. Wir gehen davon aus, dass Sie dies nicht im luftleeren Raum tun. Sie kennen Menschen, deren Bedarfe in Videokonferenzen berücksichtigt werden müssen und die diese beschreiben können. Oder anders gesagt: Sie sind gut vernetzt. Es gibt also zwei Arten von Experten: Einerseits fachkompetente IT-Experten und Sonderpädagogen, andererseits die Menschen mit Behinderung selbst als Experten in eigener Sache. Häufig wird das Thema digitale Barrierefreiheit erst angegangen, nachdem sich Strukturen etabliert haben. Oft wird dabei vergessen, dass Barrierefreiheit auch vielen Menschen ohne Behinderung die Bedienung von Programmen erheblich erleichtern kann. Jede Form von Internetseelsorge und digitaler Pastoral kann nur für alle sein, wenn sie barrierefrei ist.