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„Turmeremit“ im Mariendom in Linz

Das Projekt „Turmeremit“ in unserer Zeit

„Beschleunigungsgesellschaft“ (Rosa 2012) und „Müdigkeitsgesell­schaft“ (Han 2010) sind einige der soziologischen und sozialphilosophi­schen Charakterisierungen, die gewisse Strukturen und Prägungen unserer gegenwärtigen Gesellschaft treffend auf den Begriff bringen. Sie decken zudem damit verbundene Pathologien auf, die nach Gegen­impul­sen suchen lassen. So wird die Sehnsucht nach Ruhe, Rück­zug und Achtsamkeit in einer „Beschleunigungsgesellschaft“, die vom „rasen­den Stillstand“ (Virilio 1992) beherrscht wird – der Menschen an­treibt, ohne sie „vorwärts“ kommen zu lassen –, groß. Überforderung und Orientierungslosigkeit sind Momente, die in einer „Müdigkeitsge­sell­schaft“ überhandnehmen. Die christliche Tradition birgt unter ande­rem auch für die Suche nach einem lebensförderlichen Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit ein großes Potential in sich, welches teilweise lediglich erneut zutage gebracht werden muss. Ein Anliegen des Projekts „Turmeremit“ ist es, die bleibende Relevanz des christli­chen Glaubens in unserer Zeit spürbar werden zu lassen und dessen hilfreiche Unterstützung für die alltägliche Lebenspraxis aufzuzeigen.

Ein Blick in die Eremitage

Das Projekt „Turmeremit“ im Mariendom in Linz wurde 2009 initiiert, als Linz Kulturhauptstadt war. Dafür wurde im Turm der Kirche auf ca. 68 Metern Höhe eine bewohnbare Stube eingerichtet. Seither besteht für „spirituell Suchende“ die Möglichkeit, als sogenannte/r „Eremit/in“ diese Stube eine Woche lang zu bewohnen. Die Eremitage ist ca. 7 m2 groß. Sie ist mit einer kleinen Kochnische, einem Bett, einem Tisch samt Stuhl und einer angrenzenden Toilette ausgestattet. Wasserzu- und ‑ablauf, elektrischer Strom und ein Heizkörper sind vorhanden (vgl. Abb. 1). Die Hälfte des Jahres, d. h. während der Fastenzeit bis zum Freitag nach Ostern, in den oberösterreichischen Sommerschulferien sowie im Advent und zur Weihnachtszeit, steht die Eremitage jeweils von Freitag bis Freitag einem Eremiten oder einer Eremitin zur Verfü­gung. Dieses Angebot wird von vielen Menschen unterschiedlichsten Alters (der jüngste Eremit war 17 Jahre alt, der Älteste 85 Jahre), die diversen sozialen Kontextualisierungen und (a‑)religiösen bzw. welt­anschaulichen Verortungen entstammen, genutzt, um den Lebensalltag zu unterbrechen, sich zu erholen, innezuhalten und der eigenen „spiri­tuellen Suche“ nachzugehen.

Abb. 1: Ein Teil der Innenausstattung der Eremitage im Turm des Mariendoms (Bildnachweis: Maximilian Plöderl, Linz 2014)


Das Projekt ist nur mit verlässlichen und engagierten Kooperationspart­ner/innen zu bewerkstelligen. So ist beispielsweise wöchentlich punkt­genau während der Aus- und Einzugsphase die Eremitage zu reinigen, der Übergang von einem Eremiten zur nächsten Eremitin wird von Eh­ren­amtlichen feierlich gestaltet und praktisch unterstützt (z. B. durch Hilfeleistung beim Transport des Gepäcks), täglich wird der/die Ere­mit/in mit einem warmen Mittagessen sowie Frühstück und Abend­essen versorgt, jeder Eremitin und jedem Eremiten steht eine geistliche Begleitung zur Verfügung usw. – all diese Tätigkeiten sind zu koordi­nieren. Immer wieder sind kleinere Umgestaltungen nötig, um das Projekt – ohne es im Wesentlichen zu verändern – pragmatisch und handhabbar weiterführen zu können.

Ein Blick über die Eremitage im Turm hinaus

Das Projekt „Turmeremit“ aktualisiert die Tradition der „Exerzitien“ in einer direkten, einsichtigen und Interesse erweckenden Art und Weise. Es beinhaltet auch einen „pastoralen Mehrwert“ bzw. sozusagen einen „missionarischen Impetus“, der nicht nur auf die Eremit/innen ein­wirkt. Das Projekt geht in einer vielschichtigen und vernetzten Weise über die Eremitage im Turm hinaus. Die originalgetreue Rekonstruktion der Eremitage, die im Erdgeschoss des Mariendoms so positioniert ist, dass sie ganzjährig von den Kirchenbesucher/innen betrachtet werden kann, lädt beispielsweise dazu ein, die Räumlichkeit auf sich wirken zu lassen (vgl. Abb. 2). Dabei werden bei den Betrachtenden unweigerlich Fragen geweckt wie: Was motiviert Menschen, sich für eine gewisse Zeit in diesen kleinen Raum in der Höhe des Kirchenturms zurückzu­zie­hen? Wäre diese Art von Rückzug bzw. eine generelle Unterbrechung der Alltagsroutine und somit ein „Innehalten“ auch für mich geeignet? Be­reits dieser Denkanstoß ist von hohem Wert: Der Blick in die Rekon­struk­tion der Eremitage fordert zur Auseinandersetzung mit Themen wie Rückzug, Unterbrechung des Alltags, Suche nach Gott usw. auf (vgl. Trawöger 2016). Wenn diese Fragen weiter unter der Haut brennen und mehr und mehr die Neugierde wecken, kann das Gespräch mit geschul­ten Mitarbeiter/innen im Domcenter aufgesucht werden, wo gegebe­nen­falls auf weitere spirituelle Angebote der Diözese Linz, die den je­wei­li­gen zur Sprache gebrachten Aspekt vertiefen, verwiesen werden kann.

Abb. 2: Originalgetreuer Nachbau der Eremitage im Erdgeschoss des Mariendoms (Bildnachweis: Maximilian Plöderl, Linz 2014)

Ein „(Wohn‑)Ort“ wird so zum ersten unübersehbaren Vermittler für spirituelle Grundthemen der christlichen Tradition. Über die „Atmo­s­phäre“ des Raumes bzw. die „Gestimmtheiten“ im Raum (vgl. Böhme 2001) kann ein Zugang zur spirituellen und religiösen Sinndimension geschaffen werden. Auch viele Menschen die sich von der katholischen Kirche bzw. dem christlichen Glauben distanziert haben oder sich selbst als „nicht religiös“ bezeichnen würden, sind von dem Ort im Turm faszi­niert und zählen zum Kreis der Eremit/innen. Mitten in der Stadt und doch – aufgrund der Höhe – in einer gewissen Distanz zum bunten Trei­ben. Die Wirkung des Orts und die damit einhergehenden Perspektiven­veränderungen werden körperlich erlebbar – unter anderem im tägli­chen Auf- und Absteigen der 400 Stufen. Am Abend, wenn die Außen­türen des Domes verschlossen werden, kann die „Atmosphäre“ des Mariendoms, der flächenmäßig größten Kirche Österreichs, auf indivi­duelle Weise erfahren werden.

Ein Detail im Auszug – das Eremitentagebuch

Neben dem Anziehungspunkt „Ort“ (sei es der Mariendom, der Turm, die Eremitage, die Rekonstruktion der Eremitage oder gar der „Mix“ all jener) gibt es noch weitere Momente, die einen wesentlichen Beitrag zum gelungenen Eremit/innenaufenthalt leisten. Besondere Einblicke in das Projekt bieten die Eremit/innentagebücher. Jede/r Eremit/in wird gebeten, Tagebucheinträge zu hinterlassen. Aufzeichnungen von Erlebnissen während der Eremit/innenzeit, farbige Bilder, Zeichnun­gen, Gedichte, Erfahrungsberichte, Dankesworte und Gebete prägen die Ein­tragungen. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens kann festge­halten werden, dass darin auf einmalige Weise die vielfältigen Begeg­nungsweisen Gottes mit dem Menschen dokumentiert sind. Be­reits sechs gefüllte Tagebücher liegen in der Eremitenstube auf. Jede/r Eremit/in kann die Aufzeichnungen seiner/ihrer Vorgänger/innen durchschmökern und je nach Belieben täglich einen Eintrag verfassen oder eine kurze Notiz am Ende des Aufenthalts hineinschreiben. „Tradi­tion“ wird hier für jeden einzelnen Eremiten und jede einzelne Eremitin konkret erfahrbar: Mit dem übergebenen und weitergeführten Eremi­t/in­nentagebuch reiht sich jede/r Eremit/in in die Weisheitstradition der Turmeremit/innen ein.

Schluss

Das Projekt darf sich einer großen Resonanz erfreuen. Vor allem, weil es einige der Herausforderungen unserer Zeit in den Blick nimmt und Anre­gungen zu einem lebensförderlichen Umgang bereithält; aber auch, weil es „leise“ und „unaufdringlich“ eine langsame Annäherung an die mit dem Stichwort „Eremit/in“ verbundenen Qualitäten der christli­chen Tra­dition ermöglicht. Das Projekt hat demnach eine „mis­sio­narische Be­sonderheit“, es hält unterschiedliche „Einstiegs­szena­rien“ bereit (vom Gedankenanstoß über das [Informations‑]Gespräch im Domcenter bis hin zum Rückzug in die Eremitage). Dies findet vor allem in einer Gesell­schaft, die von Individualisierungstendenzen (vgl. Kreutzer 2016) ge­prägt ist, großen Anklang; da hier beispielsweise frei wählbare Weisen der Annähe­rung an und der Vertiefung in die christli­che Spiritualität bzw. Tradition möglich sind.


Daten und Fakten zum Projekt

Nähere Informationen:

Domcenter Linz
z. Hd.: Trawöger Sibylle
Herrenstraße 36
4020 Linz
Österreich
0043/(0)732/946100
domcenter@remove-this.dioezese-linz.at
www.mariendom.at

Bewerbung als Turmeremit/in:
mittels Anmeldebogen (im Domcenter erhältlich)

Kosten für Aufenthalt samt Verpflegung und geistlicher Begleitung:
675 €

Impulsgeber:
MMMag. Hubert Nitsch

An der Umsetzung beteiligt:
Dr. Maximilian Strasser, Dipl.-Ing. Wolfgang Schaffer, Mag. Clemens Pichler, Mag.a Susanne Gross …