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Wer den Nusskern will, muss die Schale knacken

Aktuelle Bibelübersetzungen und ihre Bedeutung für eine zeitgemäße religiöse Sprache

Die Schrift selbst, ihr sprachlicher Ausdruck und der Umgang mit ihr gelten als „Sprachschule des Glaubens“. Claudio Ettl verdeutlicht die Bedeutung verschiedener Übersetzungen anhand der prominenten aktuellen Überset­zungsprojekte und wirbt für ein gemeinsames und gegenseitiges Verstehen der biblischen Botschaft. Entscheidend ist das Offenbarungsverständnis: Gott selbst spricht im Menschenwort und ermutigt zur eigenen sprachlichen Kodierung der glaubenden Antwort. Die Vielfalt der Erfahrungen des Gehens mit Gott spiegelt sich in der Vielfalt der Texte und auch in der Vielfalt der Übersetzungen und Rezeptionen wider.

„Nach der Lektüre theologischer Traktate: Tortur! Schwulstig diese Spra­che, auch wirklich an Geschwülsten leidend, bräuchte sie das Skalpell des Sprachchirurgen oder eine Strahlenkur, wenigstens entfettende oder entwässernde Pillen […] Pathologie: Sprache, die an Fettwuche­run­gen, Lipomen, leidet, an Ödemen, wässrigen Auf­schwem­mun­gen des sprachlichen Zellgewebes, an Obstipation, Drängen und Drücken um den Ausdruck, an Arthrose, steifer, ungelenker Gedankenbewe­gung […]

In der somatischen Medizin gibt es Messer und Medikamente, in der Sprachmedizin aber, derer es bedürfte …? Den Geist zur Klarheit des Ausdrucks zwingen, den sprachlichen Formsinn schärfen, fachliche Terminologie nicht zu esoterischem Kauderwelsch entarten lassen […]

Niemand wird als Sprachkrüppel geboren, vieles lässt sich lernen. Ler­nen! Autofahren darf nur, wer’s gelernt und die Prüfung bestanden hat, schreiben darf jeder, auch ungelernt. Theologen müssten schrei­ben wie Flaubert, der ganze Tage verbrauchte, um das einzig treffende Wort zu finden.“

Es war nicht erst Erik Flügge mit seinem 2016 erschienenen Buch „Der Jargon der Betroffenheit. Warum die Kirche an ihrer Sprache verreckt“, der den Kirchen ein massives Sprachproblem diagnostizierte. Die hier zitierten Passagen sind fast 50 Jahre älter. Sie sind den Tagebüchern von Fridolin Stier entnommen, die posthum unter dem Titel „Vielleicht ist irgendwo Tag“ veröffentlicht wurden (Stier 1981, 19). Der Tübinger Alt­testamentler und Orientalist beschäftigte sich zeitlebens mit der Bibel und ihrer Sprache, insbesondere mit der Frage, wie biblische Texte ange­messen übersetzt werden können. Von Stier stammt u. a. eine wort­mäch­­tige deutsche Übersetzung des Neuen Testaments. In seinen Auf­zeichnungen dokumentiert er sein ständiges Ringen um Wörter, Sprache und Botschaft biblischer Texte. Und reflektiert zugleich über die Unzu­läng­lichkeiten und Herausforderungen einer kirchlich-theo­lo­gi­schen Sprache, die nicht mehr verstanden wird, weil sie sich der Spra­che der modernen Welt entfremdet hat.

„Deine Sprache verrät dich!“, oder: Kirchlicher Zungenschlag ist entlarvend

Christliche Sprach- und damit Sprechfähigkeit entscheidet sich an der Bibel, genauer: an der Art und Weise, wie sie die biblischen Texte in der jeweiligen Zeit und im jeweiligen Kontext zur Sprache bringt. Dies kann nur auf dem Weg und mit Hilfe des Übersetzens der hebräischen und griechischen „Urtexte“ geschehen. Übersetzen heißt dabei freilich nicht allein, Wörter, Sätze und Textkonstruktionen in eine andere Sprache zu „ver‑setzen“; es bedeutet zugleich, Inhalt, Sinn und Anspruch „hi­n­ü­ber­­zu­brin­gen“. Übersetzen bedarf der Kenntnis und Sensibilität für Wort und Geist der Ausgangs- wie der Zielsprache. Und damit auch des er­nüchternden Eingeständnisses, dass sich niemals 100 Prozent hinüber­retten lassen: „Wort um Wort, Vers um Vers stocken und stolpern. ‚Über­setzen‘ – dann kreischen und knirschen die Sprachen, also ‚ver‑setze!‘, dann schlägt dir das böse Gewissen. Das Ganze ist ein ‚Versetz‑ge­schäft‘, man bringt das hebräische Urwort hin, man kriegt dafür etwas weit unterm Wert des Versetzten und weiß, man kriegt’s nie wieder heraus“ (ebd. 381). Dem Sinn nach ähnlich, doch mit einer anderen Metapher beschreibt Umberto Eco den Vorgang des Über­setzens: „So bin ich auf die Idee gekommen, dass Übersetzen auf einer Reihe von Verhandlungsprozessen beruht – ist doch Verhandlung genau ein Prozess, bei dem man, um etwas zu erreichen, auf etwas anderes verzichtet, und aus dem die Parteien am Ende mit einem Gefühl von vernünftiger wechselseitiger Befriedigung herauskommen sollten, geleitet vom goldenen Prinzip, dass man nicht alles haben kann“ (Eco 2006, 20).

Soll die Botschaft dennoch verstehbar bleiben – und dies ist ja der grundsätzliche Anspruch jeglicher religiöser Rede –, bedarf jede Zeit, jede Kultur und jede Gemeinschaft immer wieder neu der Bibelüber­tragung. Deshalb kann es keine „endgültige“, ein für alle Mal abge­schlos­sene Übertragung biblischer Text geben; deshalb gilt, frei nach Sepp Herberger: „Nach der Übersetzung ist vor der Übersetzung.“ Um­gekehrt gibt jede Übersetzung Informationen über Zeit, Kontext und Ausrichtung ihrer Zielgruppe preis. Luthers Bibelübersetzung von 1545 lässt ebenso Rückschlüsse auf ihre zeit-, glaubens- und sprachgeschicht­lichen Kontexte zu wie die Vulgata des Hieronymus oder die Bibel in gerechter Sprache von 2006.

Oder, mit der Bibel selbst gesprochen: „Deine Sprache verrät dich!“ (Mt 26,73). Dieser triumphierende Ausruf der Umstehenden an den leugnenden Petrus, der nach der Verhaftung Jesu im Hof des Hohe­priesters das weitere Schicksal seines Meisters abwartet, bezieht sich im Textzusammenhang auf den entlarvenden, weil unleugbaren Dialekt des Fischers aus der galiläischen Provinz. In einem übertragenen Sinn ver­stan­den, formuliert dieser Satz gleichermaßen das Risiko wie die Chan­ce religiöser Sprache, ist er Warnung und Verheißung zugleich: „Aufge­passt: Kirchlicher Zungenschlag und pastorale Mundart sind entlarvend und verräterisch!“

Unter diesen Prämissen soll im Folgenden ein kurzer Blick auf zwei bzw. drei der jüngsten deutschsprachigen Bibelübersetzungen geworfen wer­den. Daran schließen sich einige Überlegungen zur Bedeutung der Bibel und ihrer Übersetzungen für heutige religiöse Sprache und pastorale Praxis an.

Ein Jahr voller Bibelübertragungen: Aktuelle Revisionen und ihre Kriterien

In der zweiten Jahreshälfte 2016 erschienen mehrere wichtige und inno­vative Bibelübertragungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt. Den Anfang machte die revidierte Einheitsübersetzung, gefolgt von einem ersten Teilband der „Bibel in Leichter Sprache“; pünktlich zum Beginn des Reformationsgedenkjahres schließlich wurde die revidierte Lutherbibel der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieses zeitliche Aufeinander­treffen war weder vorhersehbar noch beabsichtigt; gleichwohl bietet es die Chance, mehrere höchst unterschiedlich ausgerichtete Übertra­gun­gen zu vergleichen und nach ihrer Relevanz für die Theologie und pasto­rale Praxis zu befragen.

• Revidierte Einheitsübersetzung (EÜ 2016)

1979 erschien erstmals eine „Einheitsübersetzung“. Ihre Bezeichnung erhielt sie nicht wegen ihres teilweise ökumenischen Charakters, son­dern weil sie die erste katholische Bibelübertragung war, die einheitlich, d. h. kirchenamtlich-offiziell für den gesamten deutschen Sprachraum Geltung erlangte. Bald nach ihrem Erscheinen zeichnete sich die Not­wen­digkeit einer Revision ab. Die Arbeiten daran begannen schließlich 2006, acht Jahre später war der Text durch die beteiligten Bischofs­kon­ferenzen approbiert und zur (1979 noch nicht erforderlichen) Anerken­nung nach Rom weitergeleitet. Anfang 2016 lag diese endlich vor und wurde die Drucklegung veranlasst.

Kriterien
Von den Bischöfen gewünscht war eine moderate Überarbeitung, keine Neuübersetzung. Prinzipien der Revision der EÜ 2016 waren dabei u. a. eine stärkere Orientierung am Urtext (auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen textkritischen Ausgaben), Korrektur offensichtlicher Fehler, Eliminierung von nicht im Urtext zu findenden Zusätzen, Über­setzung von bisherigen Auslassungen, bessere Verständlichkeit durch Anpassung an heutige Sprachgewohnheiten sowie Sicherstellen der sprachlichen Wiedererkennbarkeit und praktischen Tauglichkeit für Litur­gie und Katechese. Hinzu kamen neben einem leserfreundlicheren Layout die Durchsicht der Zwischenüberschriften und Einleitungen, die (nicht immer nachvollziehbare) Überarbeitung der Anmerkungen, ein verbessertes Begriffs- und Namensverzeichnis sowie überarbeitete – im Falle der Jerusalem-Karten jedoch leider nicht den aktuellen For­schungs­­stand wiedergebende – Landkarten. Völlig neu ist ein Ver­zeich­nis der GPS-Daten wichtiger biblischer Orte (für weitere Informationen vgl. u. a. Bibel und Kirche 2/2017 sowie Ettl 2017).

Revidierte Lutherbibel (Luther 2017)

Die Lutherbibel von 2017 ist bereits die vierte kirchenamtliche Revision der Lutherübersetzung. Seinem eigenen Anspruch entsprechend, eine für das „normale“ Volk verständliche Bibelübersetzung zu schaffen, un­terzog bereits Luther selbst seine Übersetzungen zwischen 1521 und 1545 mehrfachen Überarbeitungen und sprachlichen Verbesserungen. Die rasante Verbreitung der Lutherübersetzung führte nach Luthers Tod dazu, dass eine Vielzahl an Nachdrucken in Umlauf kam; bis 1845 exis­tierten mindestens elf unterschiedliche Textfassungen. Deshalb wurden Forderungen nach einem einheitlichen Text immer lauter. Sie führten schließlich 1892 zur ersten kirchenamtlichen Revision, der bereits 1912 eine zweite folgte, die v. a. eine Anpassung an die Duden-Orthografie um­fasste. In mehreren, zum Teil von heftiger Kritik begleiteten Etappen wurde seit 1921 eine dritte Revision unternommen, die 1984 abge­schlos­sen war. Von 2008 bis 2016 schließlich erfolgte die aktuelle vierte Revision.

Kriterien
Ähnlich wie bei der neuen EÜ handelt es sich auch bei der neuen Luther­bibel um eine behutsame und eher punktuelle Überarbeitung. Deshalb war sie anfangs nur als „Durchsicht“ geplant, wurde am Ende aber doch als „Revision“ bezeichnet. Die Übersetzungskriterien entsprechen dabei in vielem denen der EÜ, unterscheiden sich jedoch in einem Punkt fun­da­mental. Gemeinsam sind u. a. die Orientierung am Urtext, Korrektur offensichtlicher Fehler, Änderung missverständlicher oder unverständ­licher Begriffe sowie sprachliche Wiedererkennbarkeit und praktische Verwendbarkeit für Liturgie und Katechese. Hinzu kommt die Überar­beitung der Zwischenüberschriften, Sachinformationen, Parallelstellen sowie der Landkarten. Die für den Text weitreichendste Neuerung der revidierten Lutherbibel betrifft die Textgrundlage und Übersetzung der apokryphen bzw. deuterokanonischen Schriften, also der griechisch ver­fassten Spätschriften des Alten Testa­ments. Diese waren von Luther sei­nerzeit als zwar „nützlich und gut zu lesen“ bezeichnet worden, gehör­ten für ihn und sein Übersetzerteam jedoch nicht in gleicher Weise wie Altes und Neues Testament zur Bibel. Hier wurde nun zum ersten Mal die Septuaginta, die antike griechische Übersetzung des Alten Testa­ments, als Textbasis zugrunde gelegt. Dies bedeutete eine Änderung von ca. 80 Prozent des bisherigen Wortbestands und führte dazu, dass Luther­bibel und Einheitsübersetzung fortan über denselben Text­bestand und eine meist übereinstimmende Verszählung dieser Texte verfügen (für weitere Informationen und Beispiele vgl. u. a. Bibel und Kirche 1/2017; dies. 2/2017; Jahr 2016).

Entscheidend ist der Text: EÜ 2016 und Luther 2017 im Vergleich

Die revidierte EÜ soll sprachlichen, exegetischen, liturgischen und pasto­ralen Ansprüchen gleichermaßen genügen. Wie bereits ihre Vorgänger­version sieht sie sich einer „gehobenen Gegenwartssprache“ verpflich­tet, die vor allem ihrer liturgischen Verwendung Rechnung tragen soll. Dieser Sprachstil wird u. a. durch die Verwendung zeit­ge­mä­ßer Wörter und Wendungen und die Korrektur zeitbedingter und überholter Aus­drücke sichtbar. Gleichzeitig erhebt die EÜ 2016 jedoch den Anspruch, näher am biblischen Sprachduktus zu sein. Dies zeigt sich an der Wort­wahl ebenso wie an veränderten Wort- und Satz­stel­lun­gen sowie Rede­wendungen und Sprachbildern. Bisher ausgelassene Signalworte wie „und siehe“ wurden eingefügt. Manche vertraute Formulierung wirkt dadurch holpriger und wird zunächst einmal fremder.

Anders stellt sich die Situation für die neue Lutherbibel dar. Im Unter­schied zu den vorausgehenden Revisionen von 1912 und 1984 will die revidierte Lutherübersetzung 2017 bewusst „zurück zur Luther­sprache“. Aufgrund dieses erhobenen Hauptprinzips unterscheidet sich Luther 2017 in ihrer Sprachgestalt, aber auch im hermeneutischen Ansatz fun­damental von der Einheitsübersetzung. Das Prinzip „Mehr Luther!“ be­deu­tet, dass sprachliche Modernisierungen und Anpas­sun­gen früherer Überarbeitungen teilweise zurückgenommen wurden, um nicht „die kernige Sprache des Reformators zu verstellen“ (Deutsche Bibelgesell­schaft). Damit soll die nicht zu überschätzende Bedeutung der Luther­bibel für die Entwicklung der deutschen Sprache und Kulturgeschichte gewürdigt werden. Rund ein Drittel aller Änderungen sind letztlich Kor­rekturen früherer Revisionen, und in vielen Fällen bedeutete die Anwen­dung dieses Kriteriums eine „Rückrevision“ zur letzten von Luther selbst verantworteten Fassung von 1545 bzw. 1546. Letztlich versucht die neue Lutherbibel den Spagat zwischen weiterhin angezielter reformato­rischer Orientierung an den Urtexten und – nicht zuletzt durch das Re­for­­mationsgedenken beeinflusst – der kultur- und sprachgeschichtlichen Rückbesinnung auf Luthers ursprünglichen Wortsinn. Kein leichtes Un­terfangen, wie die zum Teil deutliche Kritik aus den eigenen Reihen belegt.

Betrachtet man die Wirkung der unterschiedlichen Übersetzungen, so fällt das Ergebnis bei beiden zunächst einmal ähnlich aus: EÜ 2016 wie Luther 2017 wissen sich hermeneutisch der Texttreue verpflichtet. Da­durch werden die Texte jedoch bisweilen fremder und treten in größere Distanz zu ihren Leserinnen und Lesern bzw. Hörerinnen und Hörern. Zwei Beispiele: Die neue EÜ betont bei der Deutung des Gottesnamens in Exodus 3,14 („Ich bin, der ich bin“) gegenüber der bisherigen Über­set­zung („Ich bin der ‚Ich-bin-da‘“) stärker die Unverfügbarkeit Gottes. Un­ter Umständen kann diese grammatisch sinnvolle Änderung jedoch Irri­tationen auslösen („Ist Gott denn nun nicht mehr für uns da?“). – Im so­genannten Hohenlied der Liebe in 1 Korinther 13 kehrt die neue Luther­bibel bei der mehrfach vorkommenden Formulierung „und hätte die Liebe nicht“ zu der von Luther ursprünglich mit dem deutschen Genitiv übersetzten Wendung „und hätte der Liebe nicht“ zurück – eine für das moderne Sprachempfinden gewöhnungsbedürftige Änderung.

Solche Veränderungen, die die Fremdheit des Textes bewusst machen, müssen kein Nachteil sein. Im Gegenteil: Das „Stolpern“ über die schein­bar bekannten, jetzt aber überraschend anderen, „neuen“ Texte bietet die Chance, sie neu wahrzunehmen und nach ihrem Sinn für heu­te zu fragen. Um diesen Sinn bzw. die Botschaft der biblischen Texte zu verstehen, bedarf es jedoch verstärkter „Aufklärung“ und Information der Adressatinnen und Adressaten; die Begleitung der neuen Überset­zungen in Predigt, Unterricht, Erwachsenenbildung und sonstiger Pasto­ral ist deshalb unverzichtbar. Eine Chance für die Pastoral; wird sie je­doch nicht genutzt, ist die neue Sprache der revidierten Übersetzun­gen kontraproduktiv und erschwert das Verstehen.

Die Ursachen für diese auf den ersten Blick ähnlichen Lese- bzw. Hör­erfah­rungen sind, wie beschrieben, unterschiedlich: Bei der EÜ 2016 rührt die größere „Überraschtheit“ über den neuen Text v. a. aus der stärkeren Orientierung am biblischen Sprachduktus; bei Luther 2017 dagegen ist sie oft Ergebnis einer stärkeren Orientierung am „originalen Luther-Sound“. Letzten Endes fühlen sich EÜ 2016 wie Luther 2017 ihrer jewei­ligen Textgrundlage verpflichtet und sind aus dieser Perspektive heraus verfasst.

Entscheidend ist die Zielgruppe: Bibeltexte in Leichter Sprache

In gewisser Weise den Gegenpol zu am Text orientierten Übersetzungen wie EÜ und Luther 2017 bilden sogenannte „kommunikative Überset­zun­gen“. Sie orientieren sich stärker am Sinn des Ursprungstextes und versuchen diesen im Blick auf die angezielte Zielgruppe, ihren gesell­schaftlich-religiösen Kontext und ihre konkrete Sprach- und Lebens­situa­tion zu übertragen. Die dritte der 2016 erschienenen neuen Bibel­ausga­ben geht diesen Weg am konsequentesten: Der erste Teilband der „Bibel in Leichter Sprache“ mit den vornehmlich aus dem Matthäus- und Johan­nesevangelium stammenden Evangelientexten des Lese­jahres A (die beiden anderen Lesejahre folgen 2017 und 2018) begibt sich dabei in vielem auf sprachliches Neuland.

Mit „Leichter Sprache“ wird eine barrierefreie Sprache bezeichnet, die sich durch einfache, klare Sätze und ein übersichtliches Schriftbild aus­zeichnet. Sie ist deshalb besser verständlich. Zu Leichter Sprache gehö­ren idealerweise auch erklärende Bilder, Fotos oder Grafiken. Das Kon­zept der Leichten Sprache berücksichtigt insbesondere die Bedürfnisse von Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch von anderen Men­schen mit (noch) eingeschränkter Sprach- und/oder Lesekompetenz, wie Menschen mit Demenz, Kinder, Menschen mit Migrations­hintergrund, Geflüchtete u. a.

Oberstes Prinzip der Leichten Sprache ist Textverständlichkeit. Diese wird u. a. durch Einfachheit und Eindeutigkeit der Sprache, klare Glie­derung des Textes, Prägnanz und kurze Sätze erreicht. Daran anknüp­fend wurden bestimmte Regeln für Leichte Sprache entwickelt, die sich als hilfreich erwiesen haben (vgl. Netzwerk Leichte Sprache). Um einen Bibeltext in Leichte Sprache zu übertragen, müssen einfache Worte und kurze Sätze mit kleinschrittigen Sinnzusammenhängen gewählt wer­den. Manche Begriffe müssen exformiert werden, d. h. der unausgespro­chene, aber mitgewusste Inhalt eines Wortes muss direkt ausgedrückt werden, damit der Text verstanden werden kann. So wird beispiels­weise aus dem Begriff des Propheten „ein Mann, der in seinem Herzen mit Gott redet“ und „den Menschen erzählt, was Gott in seinem Herzen zu ihm sagt“ (vgl. bspw. die Übersetzung der Bibel in Leichter Sprache zu Mk 1,1–8). Und die Arbeiter im Weinberg erhalten als Tageslohn keinen Denar, sondern 50 Euro.

Einen Bibeltext in Leichter Sprache zu erstellen, ist ein spannender und zugleich verantwortungsvoller Prozess. Die ständige Herausforderung lautet: Wie können die klaren Prinzipien der Leichten Sprache auf den biblischen Text so angewendet werden, dass seine theologische (Kern‑)​Aus­sage und religiöse Tiefe dennoch erhalten bleiben? Eine sol­che elementarisierende und sich auf die wesentlichen Aussagen konzen­trierende Übertragung biblischer Texte muss deshalb sprachwissen­schaft­lich reflektiert und exegetisch verantwortlich geschehen. Beides ist in dem vom Katholischen Bibelwerk, der Nürnberger Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus und den Franziskanerinnen von Thuine verantworte­ten Projekt „Evangelium in Leichter Sprache“ durch mehrfache sprach­liche wie theologische „Qualitätskontrollen“ ge­währ­lei­stet (weitere Informationen sowie alle bisher übertragenen, ko­sten­lo­sen Bibeltexte und Bilder unter www.evangelium-in-leichter-sprache.de).

Die Übertragung von Bibeltexten in Leichte Sprache nimmt die anvisier­te Zielgruppe am eindeutigsten und konsequentesten in den Blick. Nicht zuletzt deshalb sind Menschen mit Lernschwierigkeiten von Anfang an aktiv am Übertragungsprozess beteiligt. Sie prüfen die Texte, und erst, wenn sie ihre Zustimmung geben, dürfen sie veröffentlicht werden. Mit diesem unverzichtbaren Prinzip der Zielgruppen­beteiligung am Über­set­­zungsprozess unterscheiden sich Bibeltexte in Leichter Sprache grund­legend von anderen Bibelübersetzungen. Zugleich wird deutlich, dass es sich bei diesen Texten weniger um Übersetzungen als vielmehr – ähnlich wie bei der Bibel in gerechter Sprache – um interpretierende Übertragungen handelt. Dennoch oder gerade deswegen besitzen Bibel­texte in Leichter Sprache eine wichtige Funktion im Bereich der religiö­sen Rede. Die positive Resonanz auf das Projekt belegt den wachsenden Bedarf für derartige zielgruppen­orientierte Bibeltexte. Sie helfen nicht nur Menschen mit Lern­schwierigkeiten, sondern offenbar auch anderen, einen zeitgemäßen und verständlichen Zugang zur Bibel zu gewinnen.

Über die Sprache hinaus in die Fremde: Übersetzen als Exodus-Erfahrung

Welche Bedeutung spielen die vorgestellten neuen Bibelübertragungen für eine zeitgemäße religiöse Sprach- und Sprechfähigkeit? Von unter­schiedlichen Positionen ausgehend und aus unterschiedlicher Perspek­tive kommend stehen alle drei vor derselben Herausforderung: die Fremdheit und Distanz ihres Gegenstandes. Der Text kommt „wie ein Gast aus fremdem Land, aus ferner Zeit […] in alter Tracht. Ich begegne Ungewohntem […]. Aber wenn er den Mund öffnet, […] spricht ein Mensch zu mir, den ich verstehe“ (Stier 1981, 20). Diese Distanz zu überwinden und den alten Text heute neu zum Sprechen zu bringen, ist die Aufgabe jedes biblisch orientierten religiösen Sprechens. Dass dies gelingen kann, zeigt das christliche Offenbarungsverständnis. Denn in der Heiligen Schrift ist Gott als Sprechender erfahrbar, der selbst spricht und damit andere anspricht. Dementsprechend sind beide Perspektiven bzw. Ebenen im Blick – die des Sprechenden und die der Angesproche­nen, die des Rufenden wie die des Angerufenen, die des Textes ebenso wie die seiner Adressaten bzw. Zielgruppe. Biblische Rede ist wechsel­seitige Kommunikation, kein Einbahn-Geschehen zwischen Sender und Empfänger, sondern dialogischer Austausch.

Nimmt man dieses Offenbarungsverständnis ernst, wird die Vielfalt bib­lischer Übersetzungen nicht nur verständlich, sondern geradezu unver­zichtbar. Der Vielfalt des Kommunikationsprozesses im Kontext unter­schiedlicher Zeiten, Menschen und Kulturen entspricht eine Vielfalt der religiösen Sprache und damit auch der Bibelübersetzungen. Vielleicht liegt hier die Chance heutiger religiöser Rede: Diese Vielfalt nicht nur zu respektieren, sondern sie zu entdecken und zu fördern. Zum Beispiel da­durch, dass in Liturgie, Predigt, Katechese, Glaubensgespräch, Erwach­se­nenbildung etc. unterschiedliche Textfassungen neben­einander­ge­stellt, nebeneinander gelesen und miteinander verglichen werden (vgl. die Tabelle im Anhang). Oder dadurch, dass biblische Texte und Geschichten gemein­sam neu übersetzt werden und so die angesprochenen Adressaten in den Blick geraten – Zielgruppen­orientierung also Realität wird. Dann kann auch die Tatsache, dass es weiterhin keine vollständige ökumenische deutsche Bibelübersetzung gibt, nicht mehr als Skandal und Mangel, sondern als Chance und Herausforderung begriffen werden.

Religiöse Sprache ist immer wieder aufs Neue zum Exodus aufgerufen:

  • Sich aufzumachen, die zwar kümmerlichen, aber letztlich doch bequemen Fleischtöpfe Ägyptens zu verlassen, um auf dem Weg durch die Ungewissheit und Unbehaustheit der Wüste das gelobte Land zu erreichen.
  • Sich nicht mit dem letzten kümmerlichen Rest an (sprachlicher) Relevanz zu begnügen, sondern der Zusage zu trauen, dass Gottes Wort immer wieder neu hörbar ist.
  • Und mit dieser Vision aufzubrechen, um über die Sprache hinaus neue Pfade des Sprechens zu suchen … Übersetzen als immer wieder neue Exodus-Erfahrung. Und Sprache als Zelt, um in neuen Kon­tex­ten und an unbekannten, nie ersehnten Orten überleben zu können und von der Gegenwart Gottes und seinem Mit-unterwegs-Sein zu erzählen …

Dringend benötigt wird eine religiöse Sprache, die – nochmals in den Worten Fridolin Stiers – „es vermöchte, aus den in antiken Begriffen gedachten und formulierten Glaubensätzen das Gemeinte […] her­vor­zu­­ho­len, um es dieser unserer Welt neu zu Gehör zu bringen. Wer den Nusskern will, muss die Schale knacken. […] Um aber den ‚Kern‘ nicht zu schädigen, müssten der Kirche Theologen erstehen, die, mit dem doppelten Charisma ungewöhnlicher Denk- und Ausdruckskunst (!) begnadet, Denker wären und Dichter zugleich […]“ (Stier 1981, 331 f.).

Anhang: Synopse zu Lk 2,1-3

Einheitsübersetzung 2016Lutherbibel 2017

Evangelium in Leichter Sprache
1 Es geschah aber in jenen Tagen,
dass Kaiser Augustus den Befehl erließ,
den ganzen Erdkreis in Steuerlisten einzutragen.
2 Diese Aufzeichnung war die erste;
damals war Quirinius
Statthalter von Syrien.
3 Da ging jeder in seine Stadt,
um sich eintragen zu lassen.
1 Es begab sich aber zu der Zeit,
dass ein Gebot von dem
Kaiser Augustus ausging,
dass alle Welt geschätzt würde.
2 Und diese *Schätzung war die allererste
und geschah zur Zeit,
da Quirinius Statthalter in Syrien war.
3 Und jedermann ging,
dass er sich schätzen ließe,
ein jeglicher in seine Stadt.
Als Jesus geboren wurde, lebte ein Kaiser.
Der Kaiser hieß Augustus.
Kaiser Augustus wollte über die ganze Welt herrschen.
Dazu brauchte er viel Geld.
Darum sollten die Menschen viele Steuern bezahlen.
Kaiser Augustus sagte:
Alle Menschen sollen in einer Liste aufgeschrieben werden.
In der Liste kann ich sehen:
Haben alle Menschen die Steuern bezahlt?