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Divine Renovation. Wenn Gott sein Haus saniert

Von einer bewahrenden zu einer missionarischen Kirchengemeinde

Die veränderten Rahmenbedingungen für Kirche führen dazu, Selbst­verständlichkeiten und gewachsene Strukturen, Mitgliedschaftsver­hältnisse, Partizipationsweisen und Leitungsvorstellungen zu hinter­fragen, ob sie noch angemessen sind. Wie es mit der Kirche weitergeht und wie pastorale Schwerpunkte gesetzt werden sollten, darüber gehen die Auffassungen oft auseinander. Wird immer mehr Energie von im­mer weniger Personen aufgewendet, um eine bestimmte Gestalt und Abläufe von Kirche weiterzuführen? Bleibt man in „denselben Bahnen organisierter Gläubigkeit“, wie es Bischof Stephan Oster im Vorwort vermutet (8)?

Von Bewahrung zu Mission. Das ist der Anspruch dieses Buches des kanadischen Priesters James Mallon im Schnittfeld von Ekklesiologie und pastoralen Praxisvorschlägen. Die absolute Entgegensetzung von Bewahrung und Mission kommt ein wenig plakativ daher. Er selbst ist Pfarrer und nun, von seinem Bischof beauftragt, Handlungsreisender in Sachen Evangelisierung und missionarische Gemeinde. Man wird zu­nächst Father James zustimmen: Missionarische Christen, missionari­sche Pfarrei zu sein, heißt, anderen Menschen zu helfen und sie dazu einzuladen, Christus zu begegnen, sich von ihm ansprechen zu lassen, sich aber auch selbst mehr auf ihn einzulassen. In der Vergangenheit hat die Kirche tatsächlich mehr vom Bestand und von gesellschaftlichen und sozialen Unterstützungsmechanismen gelebt, die nun sichtlich wegbrechen. Der Weg von einer Volkskirche hin zu einer Entscheidungs­kirche ist sicherlich eine Tendenz.

Mit dem Bild der Tempelreinigung setzt der Autor ein starkes Signal in Bezug auf die Kirche. Das Ziel ist, aus dem Tempel wieder ein Haus des Gebetes zu machen. Mallon betont die universale Bedeutung des Got­tesbundes für viele. Es war eine Krise der Priestervolkes Israel, die Hei­denvölker ihrer Einbeziehung in den Bund Gottes zu berauben, also: nur auf sich zu schauen, partikulare (Eigen‑)​Interessen zu vertreten. So ver­steht Mallon kirchliches Handeln konsequent als Verkündigung der heilenden Gottesbotschaft an die, die sie noch nicht kennen. Wenn er dann jedoch konkret von den Verhältnissen in seiner Pfarrei in Halifax erzählt, weiß der Leser nicht recht, ob die „Rückeroberung der Gebäu­de“ von den vielen Gruppen, die „irgendetwas“ dort gemacht haben, für die vom Pfarrer favorisierten Alpha-Kurse die Tempelreinigung durch den Pfarrer ist, um die Gemeinde zu einem Haus des Gebetes zu ma­chen. Trifft angesichts der vorher beschworenen universalen Bedeutung des Evangeliums hier nicht gerade die Kritik des Partikularismus? Die Gemeinde ist „das Haus Gottes“? Hier erheben sich viele Fragen.

Für Mallon ist „Jünger machen“ (als einzige finite Verbform in Mt 28,19.20) das zentrale Ziel des Missionsauftrages. Dies sei ein lebens­langer Prozess des Lernens. Und hier liegt nach Mallon das Problem: „Unsere Gläubigen sind aufgerufen, Jünger zu machen, aber die meis­ten von ihnen sind selbst noch gar nicht Jünger geworden“ (34). Da kann man ihm im Blick auf Deutschland sicher zustimmen. Bewusstes und vertieftes Christsein als Ziel der „Jüngerschaft/​discipleship“, Glaubens­erfahrung, Gebet und Lobpreis: Die Frage ist nur, ob eine bestimmte soziale Form des Christseins als Indiz und Garant dieses vertieften Glaubens gesehen wird. Was ist Glauben? Was bedeutet zum Glauben kommen? Welche unterschiedlichen Gestalten kann Nachfolge anneh­men? Hier zeigt Mallon doch eine starke Betonung einer klassischen pfarrgemeindlichen Frömmigkeit mit neo-charismatisch-evangelikaler Prägung. Und hier ist der Autor im Zentrum seines Evangelisierungsver­ständnisses: Evangelisierung ist für ihn „Hunger wecken“ auf die per­sönliche Begegnung mit dem Auferstandenen, ja: sich in Jesus verlieben (37). Viele „unserer“ Gläubigen sind ihm nie persönlich begegnet. Pasto­rale Folge ist für Mallon also: „Alles tun, um Räume zu schaffen, wo die Menschen Jesus als dem lebendigen Herrn begegnen können“ (38). Das ist Evangelisierung, zu der von Papst Paul VI. bis Papst Franziskus in der Nachfolge des Konzils aufgerufen wurde. Evangelisierung ist für Mallon kerygmatisch, nicht inhaltlich: Es geht nicht primär um Information, sondern um Begegnung. Gleichzeitig ist sich Mallon durchaus bewusst, dass die charismatisch-evangelikale Begrifflichkeit und was damit ge­meint ist eher traditionellen Christen fremd ist. Man kann ihm zustim­­men, dass alle kraft der Taufe berufen sind, Jünger und Missionare zu sein. Nachfolge führt dazu, selbst apostolisch zu sein, sich zu anderen zum Zeugnis und zum Dienst senden zu lassen. Mallon strukturiert den Prozess des Zum-Glauben-Kommens in Anlehnung an Evangelii nunti­andi: Öffnen (Vor-Evangelisierung), Bekehrung (Evangelisierung), Rei­fen (Jüngerschaft) und Dienen (Apostolat) (57). Wenn also die Ausbil­dung missionarischer Jünger der pastorale Schwerpunkt ist, dann braucht es dazu die Entscheidung, dies tun und mit allen Kräften un­terstützen zu wollen. Hemmnisse liegen seiner Meinung nach auch in bestimmten Selbstbildern von Priestern: Es gäbe zu viele „System­erhaltungspriester“ statt „Bekehrungspriester“ – oder solche, die auf die Rechtgläubigkeit zu stark Wert legten. Sehr realistisch beschreibt er die Problematik des katholischen Sowohl-als-auch in der Frage nach pasto­ralen Prioritätensetzungen: „Wir sind eingezwängt zwischen der Beru­fung zu und dem Wunsch nach Erneuerung einerseits und anderer­seits dem starken Druck, dass innerhalb der Kirche alles so bleiben soll, wie es war“ (71).

In dem anregend zu lesenden Buch finden sich viele Gedanken, die im deutschen Pastoraldiskurs auch schon vorgetragen wurden, z. B., dass die Infrastruktur dem Auftrag zu dienen hat und nicht umgekehrt. Ebenso: die Universalität des Gotteswirkens, die Gnadenwirklichkeit als Geheimnis, das letztlich nicht vom Menschen abhängt. Der Sämann hat keine Kontrolle über das Wachstum der Saat. Schließlich die Priester­rolle: Aufgabe des Amtsträgers ist es, die „Heiligen auszurüsten“ (107). Mallon spricht sich gegen Klerikalismus aus, den er als ein gemeinsa­mes Tun von Priestern und Laien mit gegenseitigen Rollenerwartungen sieht. In seinen Zeilen zeigt sich das nordamerikanische Verständnis von leadership, was im Deutschen so schwer zu übersetzen („Leiter­schaft“?) und offenbar noch schwerer zu realisieren ist: Dienste, die nicht priesterlich sind (Wort Gottes predigen, Sakramente feiern, Gemein­de leiten), sollen abgegeben und von den „Jüngern“ übernom­men werden, nicht aus Gefälligkeit für den Priester oder in seiner Dele­gation und unter seiner Kontrolle. Der Autor stellt eine Veränderung der Kultur einer Pfarrgemeinde in Aussicht. Er hat dies in „seiner“ Pfarrei über Alphakurse erreicht: Gastfreundschaft, gute Musik, faszinierende und wichtige Referate, Erfahrung von Gemeinschaft in kleinen Grup­pen. Es sind praktische Tipps und Erfahrungen, die sehr gut zu lesen sind, auch wenn die einzelnen Punkte nicht unbedingt ganz neu sind: die Ästhetik beachten, gut und authentisch predigen, echte Gemein­schaft, klare Erwartungen, Dienen und Bildung kleiner Gemeinschaften. Sehr amerikanisch ist der klare Fokus auf guter Identifizierung von Stär­ken, auf Ausbildung und Begleitung ehrenamtlicher Dienste sowie die Auswertung der Pastoral mit sozialwissenschaftlichen Werkzeugen. Stewardship – in den USA gehört sie zum täglichen pastoralen Hand­werkszeug – ist in Deutschland immer noch sehr fremd, aber Vorbild für Versuche eines charismenorientierten Umgangs mit so genannten Ehrenamtlichen. In Deutschland zeigt sich die „Ehrenamtsförderung“ oftmals eben doch noch am Erhalt des alten Systems orientiert und nicht als Einflugschneise des Neuen, was der Geist Gottes mit seiner Kirche vorhat. Eine Kirche, die den Heiligen Geist wirken lässt (die charismatischen Anklänge sind nicht zu überhören), wird zu einer einladenden Kirche.

Der pastorale Umgang mit den Sakramenten ist bei Mallon vom Kate­chumenat inspiriert: prozesshaft (als Weg) und erfahrungsorientiert, familienbezogen, Erwachsene im Fokus, Ausstieg aus dem jahrgangs­weisen oder altersstufenbezogenen Sakramentenempfang, die sonn­tägliche Eucharistiefeier als Mittelpunkt der Programme. Vieles davon wird in der Katechese in Deutschland diskutiert und ausprobiert, aber man wird bei Mallon den Eindruck nicht los, dass es ihm doch darum geht, sich den „Empfang der Sakramente“ über Teilnahme an (seinen) vorgefertigten „Vorbereitungswegen“ zu verdienen, auch wenn es Glaubenswege sind, ein Eindruck, den er vorher mit seiner Kritik des Neo-Pelagianismus gerade zu zerstreuen suchte.

Ein starker Teil des Buches ist die Reflexion über Leitung, was dabei wichtig ist, wie man sie lernen kann. Hier wird viel hilfreiches Material nicht nur für Leitungsverantwortliche serviert. Was in den Verände­rungsprozessen in Deutschland oft mühsam ausgetauscht und versucht wird und doch immer wieder an bestimmten Realitäten scheitert …: Hier ist vieles sehr klar und einfach auf den Punkt gebracht. Das zeigt aber auch, dass im katholischen Verständnis der Amtsträger nach wie vor als der verstanden wird, von dem die eigentliche Initiative für Er­neuerung und Veränderung ausgeht. Das ist auch das Selbstverständnis des Autors Mallon: Innovation versteht er als hierarchisch „von oben nach unten“ verlaufend. Vielleicht ergibt sich von daher der Verdacht auf einen verdeckten – aber dennoch existenten – Klerikalismus auch bei Father James, der den Leser immer wieder beschleicht. Erneuerung und Veränderung geht vom Amt aus und muss es (für ihn) auch, weil der Amtsträger weiß, was richtig und wichtig ist und wohin die Reise gehen muss. Erneuerung im traditionellen Gewand und unter Anregung und Aufsicht des Klerus. Daran anschließend: Mallons Buch kommt an vielen Stellen doch recht traditional daher, nicht zuletzt angezeigt durch die Anmerkung des Herausgebers, dass in der männlichen Form die weibliche mitgedacht ist.

Vieles in dem Buch zeigt den nordamerikanischen Kontext, wie es in einschlägigen Lernprojekten wie dem „Crossing-over“-Projekt immer wieder deutlich wurde: Kirchenfinanzierung, Kirchenzugehörigkeit, zentral ist „Gemeinde“fixierung in einem klar umrissenen parochialen, denominationellen System. Die Tipps von Father Mallon müssten also erst noch auf die spezifische Situation in Deutschland Anwendung fin­den. Es fehlt die Wahrnehmung der gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung, die Kirche, Glauben und Spiritualität in Deutschland trotz der gleicherweise vorkommenden Nicht-Selbstverständlichkeit von Kirche doch noch haben. Kirche wird von Mallon sehr stark liturgisch-spirituell verstanden. Gesellschaftliche Aspekte wie Ökologie, Gerech­tigkeit, Nachhaltigkeit kommen wenig in den Blick, der Schwerpunkt liegt vielmehr auf einer bestimmten Frömmigkeitsform. Und hier ist noch weiter zu fragen und zu denken: Als ob man persönliche Begeg­nung mit Jesus „machen“ könnte! Und darüber hinaus: Eine persönliche Beziehung zu Christus ist immer eine vermittelte, vom jeweiligen Indi­viduum gedeutete, in Symbolen gestaltete Beziehung, kann also in sehr unterschiedlichen Weisen existieren und lässt sich nicht immer in den Mainstream kirchlicher Vergemeinschaftung einbinden. Glauben und Nachfolge muss eine Gestalt haben. Ob Gebet, Lobpreis, Glaubenskurs, Dienste (ministries) etc. die einzige oder gar normative Gestalt sind?

Mallons Buch ist Teil einer Bewegung von bestimmten Akteuren, die durch einen Kulturwandel eine neue Evangelisierung in Gang bringen wollen. Das Anliegen, die persönliche Berufung zu entdecken, von Jesus gemeint sein, eine Beziehung zu ihm haben, diese Beziehung im Gebet, im Gottesdienst, im Lobpreis zu pflegen, entspricht der Vorstellung des Konzils von einem mündigen, lebendigen Christen und seiner partici­patio actuosa. Insofern sind Aneignung, personaler, lebensbezogener Mitvollzug, Vertiefung der Guten Botschaft wichtig und angezeigt. Hier kann in Deutschland noch viel geschehen. Problematisch jedoch er­scheint der klare Bezug auf Bekehrung (metanoein). Wohin umkehren? Was macht das neue Denken, die neue Geisteshaltung und Grundein­stellung aus? Mallons Entwurf kann der Gefahr der Elitegemeinde oder der Exklusivität eines radikalen Kirchenverständnisses, an dem der Einzelne wie in einem Glaubens-TÜV gemessen wird, nicht wirklich entgehen. Ein solcher Maßstab kann selbst schnell zu einer bestimmten „Struktur“ werden, wenn er nicht offen bleibt für sehr unterschiedliche Wege der Nachfolge – und damit auch Kirchengestalten. Damit ist die Gefahr einer Radikalität verbunden, mit der jemand seine Vorstellung einer missionarischen Kirche „durchsetzt“. Kirche ist eben nicht exklu­siver Raum der Gotteserfahrung, sondern auch zeichenhafte und zeu­genhafte Verweisfunktion. Zeugenschaft ist nicht primär Eintreten für kirchlich-institutionelle Dogmatisierungen, Ansprüche und Ressourcen (Kirche „flottmachen“), sondern hilft entdecken, wie Gott in meinem Leben und im Leben anderer gewirkt hat und wirkt. Dem muss dann auch die organisationale Verfasstheit der Kirche dienen.

Appellative Aufbruchs- und Umkehrrhetorik allein wird nicht genügen. Es geht auch um eine Erfahrung von Kirche, die Menschen nicht primär für ekklesiale Vollzüge rekrutiert, sondern mit möglichst vielen Men­schen (die nicht „Mitglieder“ sind) im Kontakt ist, um zu entdecken, wie Gott in dieser Zeit und in dieser Welt sein Reich in Gang setzt; eine Kirche, die unterschiedliche Menschen begleitet, ihre je eigene Lebens­berufung zu entdecken.

Hubertus Schönemann