Wachsen und Schrumpfen
Betriebsseelsorgerische Perspektiven
Im wirtschaftlichen Kontext geht man meistens davon aus, dass Wachstum stets positiv zu bewerten ist, ja, dass eine Abhängigkeit von Wachstum besteht. Dabei gilt bei vielen die Formel: je größer die Wachstumsrate, desto besser. Jedoch spielt gerade bei der Wachstumsrate die Frage nach einem „gesunden“ Wachstum eine große Rolle: also die Frage, welches Wachstum für den Planeten Erde und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern noch bekömmlich ist.
In Zeiten des Wachstums ist die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hoch. In Branchen, in denen begehrte Güter produziert werden und eine dementsprechend hohe Nachfrage besteht, kann gutes Geld verdient werden – der Begriff „Wohlstand“ ist sehr stark mit Wachstum verbunden, ganz besonders in einem Land wie Deutschland, das mit dem „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonders hohes Wachstum verzeichnen konnte und in diesen Zeiten der Vollbeschäftigung Wohlstand generieren konnte.
Wachstum hat aber auch eine ganz andere Seite. Im medizinischen Bereich wird etwas, das stets wächst, als Krebs bezeichnet. Und auch im wirtschaftlichen Bereich hat diese Medaille, wie alle Medaillen, zwei Seiten. Durch Wachstum bei Produktion und entsprechender Nachfrage werden die Ressourcen des Planeten Erde verbraucht – oft genug weit über das gesunde Maß hinaus. Verbrauchte Ressourcen wachsen nicht mehr nach. Die fossilen Energieträger für unsere Mobilität und Heizung sind endlich, die seltenen Erden, die für die Hochtechnologie gebraucht werden, auch und es ließen sich noch viele weitere Beispiele in diesem Zusammenhang aufzählen.
Aber auch die Menschen, die ihre Arbeitskraft in boomende Geschäftszweige stecken, leiden oft genug an der dort geforderten Geschwindigkeit, kommen mit dem Tempo, das in diesem Wirtschaftssystem erforderlich ist, nicht mit, scheitern im Beruf und fallen oft sehr schnell durch die sozialen Netze, die es in unserem Gesellschaftssystem gibt, durch. Ein Index dafür ist der DAK Psychreport, der die psychischen Erkrankungen in Deutschland auf einem Höchststand sieht, was wiederum mit den Belastungen im Arbeitsumfeld in direktem Zusammenhang steht. Auch wir verzeichnen an unseren Beratungsstellen seit Jahren eine steigende Nachfrage nach Beratungen gerade in Zusammenhang mit Konflikten im Arbeitsumfeld.
„Wo gehobelt wird, fallen Späne“ – könnte man einerseits sagen … aber andererseits gilt es doch zu bedenken, wie hoch der Preis ist, der im Endeffekt für den Versuch zu bezahlen ist, das Wachstum in den Ländern der Erde so hoch als irgend möglich zu halten. Und irgendwann wird jede Rechnung fällig – sei es in Form der Naturkatastrophen, die wir bereits heute im Zusammenhang mit dem Klimawandel sozusagen „präsentiert“ bekommen und deren Zahl in Zukunft noch höher ausfallen wird, wenn nicht heute die richtigen Weichenstellungen erfolgen, sei es in Form der endenden Ressourcen und der unter Umständen daraus resultierenden Konflikte (Wasser, Öl, seltene Erden, Metalle …), sei es in Form der Kosten, die im Gesundheitswesen entstehen, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den verschiedensten Gründen in dieser Wirtschaft ihre Gesundheit aufs Spiel setzen.
Grundsätzlich ist das Verhältnis zwischen den hoch entwickelten Industrieländern und den Entwicklungsländern ein ungerechtes. Um mehr bzw. überhaupt Gerechtigkeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu ermöglichen, brachte Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato si’ sogar ein notwendiges „Schrumpfen“ bei den Industrieländern ins Spiel, wenn er schreibt:
„Wir wissen, dass das Verhalten derer, die mehr und mehr konsumieren und zerstören, während andere noch nicht entsprechend ihrer Menschenwürde leben können, unvertretbar ist. Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt eine gewisse Rezession zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann.“
(Laudato si’ 193)
Dazu kommt, dass es in wachsenden Wirtschaftssystemen immer auch Bereiche gibt, die in jeder Hinsicht unter den Tisch fallen. Wenn man das Glück hat, als männlicher Ingenieur bei einem boomenden Chemie- oder Technologiekonzern zu arbeiten, und mit den dort bestehenden Anforderungen zurechtkommt, dann wird das mit großer Wahrscheinlichkeit ein Leben in Wohlstand zur Folge haben. Anders sieht es dagegen im Dienstleistungssektor z. B. für eine weibliche Pflegekraft in einem Krankenhaus oder für eine Reinigungsfachkraft in eben diesem Krankenhaus aus. Die Tätigkeit ist hochspezialisiert, das Fachwissen muss hoch sein: Schließlich geht es um die Gesundheit der Patientinnen und Patienten – übrigens auch bei der Reinigungsfachkraft, denn die muss dafür sorgen, dass es eben nicht zu Infektionen mit Krankenhauskeimen kommt. Doch ist es in vielen Dienstleistungsbranchen die Regel, dass dort die Arbeitskraft wesentlich schlechter bezahlt wird als im Technologiesektor. Offensichtlich ist uns der Dienst an Maschinen, Automobilen, Technik (so wichtig das auch ist) mehr wert als der Dienst an uns Menschen selbst.
Am 14. Dezember 2023 gab es die Schlagzeile: DIW und ifo Institut warnen: Geringeres Wachstum in Deutschland! Es ist noch gar kein Schrumpfen … Es wird aber bereits gewarnt, wenn die Wirtschaft weniger wächst. Müsste aber nicht das das eigentliche Ziel sein: ein umweltverträgliches, menschenverträgliches leichtes Wachstum für alle statt exorbitante Gewinne für einige wenige? Die neueste Oxfam-Studie, gerade erst zum Weltwirtschaftsforum in Davos herausgekommen, spricht da Bände: Die soziale Ungleichheit auf der Welt ist dramatisch: Seit 1995 hat das reichste Prozent der Weltbevölkerung fast 20-mal mehr Vermögen angehäuft als die ärmsten 50 Prozent der Menschheit zusammen. Fast die Hälfte der Menschheit (3,2 Milliarden Menschen) lebt in Armut, von weniger als 5,50 Dollar am Tag.
Liegt nicht darin der Zusammenhang zwischen Wachsen und Schrumpfen im globalen Maßstab? Ist es nicht so, dass es auf der einen Seite unglaubliches Wachstum gibt bei einigen wenigen, das wiederum eine Mehrheit dazu zwingt, „den Gürtel enger zu schnallen“?
Zweifellos ist das so. Die Vorstandsgehälter sind bei uns in Deutschland sehr gestiegen und die Boni noch viel mehr. Die Deutsche Bahn machte damit erst vor Kurzem unrühmliche Schlagzeilen. Bei den Vorstandsgehältern hat die zuletzt stark steigende Inflation in wirklich jeder Hinsicht Berücksichtigung gefunden. Ganz anders aber bei den Gehältern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch wenn die verschiedenen Tarifverhandlungen mit den damit verbundenen Streikmaßnahmen ordentliche Lohnsteigerungen in der einen oder anderen Branche erbracht haben, so ist doch zu bemerken, dass die Inflationsrate bei keiner einzigen Branche für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer komplett ausgeglichen werden konnte. Es ist uns bewusst, dass durch Tarifpolitik die Inflationsrate grundsätzlich nicht ausgeglichen werden kann, aber es ist doch zu beobachten, dass diese Inflationsrate in den Vorstandsetagen mehr als ausgeglichen wird – es also innerbetrieblich einerseits zu einem Wachstum (bei den Vorstandsgehältern) und gleichzeitig zu einer Schrumpfung (bei den Gehältern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) kommt. Wir fragen uns: Könnte dieses seit Jahren fortgesetzte Erleben einer Ungerechtigkeit nicht vor allem auch zu der oft beklagten Kluft in den Gesellschaften der westlichen Demokratien geführt haben?
Wer anderen eine Schrumpfung zumutet, darf nicht gleichzeitig sich selbst mit Wachstum verwöhnen. Auf diesem Hintergrund muss man, glauben wir, die Streiks in den verschiedenen Branchen sehen. Auf der einen Seite geht es um eine weitere Erhöhung eines Wohlstands, der so groß ist, dass viele den Überblick über ihren Besitz verloren haben, also um ein geradezu unendliches Wachstum – auf der anderen Seite geht es um eine, in einigen Branchen existenzbedrohende, Schrumpfung. Wir glauben, darin liegt eigentlich die oft beklagte Spaltung unserer Gesellschaften. Um sie zu überwinden, bedürfte es einer gerechteren Verteilung.
Schrumpfung, Rezession ist in der Wirtschaft in der Regel mit Arbeitsplatzabbau, Lohnverlusten und Sozialabbau verbunden. Massive Auswirkungen hat der Rückgang von Aufträgen und Produktionszahlen aktuell z. B. in der Baubranche, in der Rohrglasindustrie und auch bei den Herstellern großer Haushaltsgeräte. Durch die niedrigen Zinsen oder durch die größere Nachfrage während der Corona-Zeit stark gewachsen, erleben diese Branchen gerade einen deutlichen Schrumpfungsprozess mit Kurzarbeit und drohenden bzw. bereits angekündigten größeren Entlassungen. Arbeitsplatzverlust ist für viele wie der Verlust eines nahestehenden Menschen – Unsicherheit, Trauer, Ärger, Existenzängste sind oft die Folge und Seelsorge sollte in diesen Situationen den Betroffenen begleitend zur Seite stehen. Wir Betriebsseelsorgerinnen und Betriebsseelsorger stellen uns natürlich dieser Herausforderung im Rahmen unserer Möglichkeiten. In vielen Diözesen gibt es dieses Angebot leider gar nicht – dabei wäre es ein wahrlich lohnendes Arbeitsfeld für unsere Kirche.