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Geistlicher Missbrauch – ein Frauenthema?

Eine spezifische Form der Gewalt in der Kirche ist der geistliche Missbrauch: Spiritualität wird zum Spielfeld und Mittel missbräuchlicher Beziehungen. Häufig sind Frauen davon betroffen: als Opfer, aber auch als Täterinnen und Mitwisserinnen. Hannah A. Schulz geht der Frage nach, wie Frauenrollen und -bilder, aber auch das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern in der Kirche dazu beitragen.

Der Schock über die Häufigkeit und Schwere der sexuellen Verfehlungen an Kindern und Jugendlichen, insbesondere an Jungen, innerhalb der katholischen Kirche hat eine Welle der Empörung und Anteilnahme aus­gelöst. Mit der begonnenen Aufarbeitung hat sich der Blick geweitet: Einerseits ist der sexuelle Missbrauch an Mädchen und Frauen, unter besonderer Berücksichtigung von missbrauchten Ordensfrauen, in den Blick gekommen – dafür stehen etwa die Fachtagung von Frauen und für Frauen zum Thema „Gewalt gegen Frauen in Kirche und Orden“ in Siegburg 2019 und der im gleichen Jahr auf arte ausgestrahlte Doku­mentarfilm „Gottes missbrauchte Dienerinnen“. Andererseits ist durch die Suche nach den Ursachen jahrelanger Vertuschung das Konzept des geistlichen oder spirituellen Missbrauchs auch in der katholischen Kir­che zum Thema geworden. Durch die Anfrage, diesen Artikel zu schrei­ben, hat sich mir eine neue Perspektive aufgetan: die Verknüpfung der Themen „Gewalt gegen Frauen“ und „geistlicher Missbrauch“.

1. Neue Fragen

Aus dieser Verbindung entstehen ganz neue Fragen: Wie sind Frauen von geistlichem Missbrauch betroffen? Wie erleben Frauen geistlichen Missbrauch? Welchen Einfluss haben kirchliche Strukturen auf geist­lichen Missbrauch an und durch Frauen? Wie handeln Frauen, wenn sie selber zu Täterinnen werden? U. v. m.

Der Blick auf Frauen und geistlichen Missbrauch ist aus mehreren Grün­den bedeutsam: Erstens ermöglicht er für die Aufarbeitung eine genau­ere Differenzierung und damit ein besseres Verständnis der inneren und äußeren Logik des Missbrauchs. Zweitens bietet er die Möglichkeit, Prä­ventionsmaßnahmen und Hilfsangebote noch spezifischer auf Frauen abzustimmen. Das gilt sowohl für Frauen in der Opferrolle als auch für Täterinnen. Drittens kann diese Perspektive einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die (Gleich‑)​Stellung von Frauen in der Kirche leisten.

Die hier präsentierten Beobachtungen beziehen sich schwerpunktmä­ßig auf die katholische Kirche. Das soll aber nicht darüber hinwegtäu­schen, dass es ähnliche Phänomene auch in anderen Konfessionen und Religionen gibt. Im vorliegenden Artikel steht die Situation von Frauen im Vordergrund, das schließt die Männer jedoch nicht automatisch aus. Vieles, was hier – ausgehend von einem biblisch-anthropologischen Verständnis von Frauen und Männern – über Frauen gesagt wird, trifft auch auf Männer zu. Es geht um Gewichtungen und Tendenzen und keineswegs um einen Dualismus. Vergleichende Untersuchungen über die Unterschiede im Erleben weiblicher und männlicher Opfer und Täter von geistlichem Missbrauch stehen noch aus.

Der Verknüpfung der beiden zentralen Elemente in diesem Artikel, „Gewalt gegen Frauen“ und „geistlicher Missbrauch“, ging eine Recher­che zum Thema Frauen und geistlicher Missbrauch voraus. Es gibt em­pirische Untersuchungen zu Gewalt gegen Frauen und zu emotionalem Missbrauch von Frauen und an Frauen. Im Internet findet sich eine ganze Reihe englischsprachiger Masterarbeiten und Dissertationen zu spiritual abuse (u. a. Garrett 2017), doch darin wurde die Geschlechter­differenz nicht berücksichtigt. Hilfreich sind die Berichte und Erhebun­gen zu Gewalt in Frauenorden (u. a. Chibnall 1998). Wenn daher in die­sem Text häufiger auf Frauenorden verwiesen wird, dann ist das einer­seits der Tatsache geschuldet, dass es hierzu Unterlagen gibt, und an­dererseits, dass die Frauenorden in der Aufarbeitung dieser Gewalter­fahrungen bereits aktiv sind. Der hier vorliegende Text ist als Anstoß zu verstehen, die Frage nach geschlechterspezifischen Merkmalen von geistlichem Missbrauch weiter zu vertiefen.

2. Geistlicher Missbrauch

Spiritualität kann alle Dimensionen des Menschseins beeinflussen, wie z. B. das Denken, Fühlen, Handeln, Glauben, Beten und Leben in Ge­meinschaft. Wenn sie in guter und der jeweiligen Person angemessener Weise gelebt wird, führt sie zu größerer Freiheit, Verbundenheit mit Gott, Mensch, Natur und mit sich selbst. Allerdings kann Spiritualität so entstellt werden, dass sie dazu dient, Macht auszuüben und Menschen abhängig zu machen, um sie für die Befriedigung egoistischer Bedürf­nisse zu missbrauchen. Alles, was christliches Glaubensleben ausmacht, kann dafür benutzt werden: Predigten, Bibelzitate, kirchliche Struktu­ren, Gemeinschaften und Gruppen, liturgische Vollzüge, Erfahrungen aus der christlichen Mystik und Tradition u. v. m. Zu geistlichem Miss­brauch kann es in Gruppen und Gemeinschaften kommen und in asym­metrischen Beziehungen, wie es in der Einzelbegleitung (Seelsorge, geistliche Begleitung, Beichte) der Fall ist. Der geistliche Missbrauch geht meistens mit Machtmissbrauch und emotionalem Missbrauch einher. Manchmal ist er der Nährboden, auf dem es auch zu sexuellen Übergriffen kommt. Er kann als einmaliges, stark traumatisierendes Ereignis geschehen oder, was häufiger vorkommt, in dauerhaften Be­ziehungen und/​oder Gruppen mit der Zeit an Intensität zunehmen (vgl. Schulz 2019).

Typisch in missbräuchlichen Beziehungen sind Verwirrung, Doppel­deutigkeiten und subtile bis perverse Manipulationen. Die Betroffenen verlieren nach und nach ihre Urteilsfähigkeit und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Je nach Dauer und Stärke des Missbrauchs kön­nen die Folgen für die Opfer verheerend sein. Sie reichen zum Beispiel von innerer Verunsicherung über existentielle Selbstzweifel bis hin zum Suizid; von Misstrauen der eigenen Wahrnehmung gegenüber über kom­­plette Dissoziation eigener Gefühle bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen; von Glaubenszweifeln und der Frage: „Wie konnte Gott das innerhalb der Kirche zulassen?“ bis hin zur Abkehr von der Kirche und dem Verlust des Glaubens an Gott (vgl. Tempelmann 2015, 242–292; Wagner 2019, 79–147). Sexueller Missbrauch, der im kirchlichen Umfeld stattfindet, insbesondere wenn es sich bei den Tätern um kirchliche Amtsträger handelt, hat neben allen anderen Konsequenzen immer auch Auswirkungen auf das Glaubensleben der Betroffenen und ihre Fähigkeit, Gott (weiterhin) zu vertrauen.

Um der oben genannten Vielschichtigkeit des geistlichen Missbrauchs gerecht zu werden, berücksichtigt die hier vorliegende Zusammen­stellung unterschiedliche Ebenen:

  1. Die systemischen Zusammenhänge mit ihren unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten zeigen, auf welche Weise Frau­en von geistlichem Missbrauch betroffen sind.
  2. Der Blick auf Frauenbilder in der Tradition der Kirche macht so­ziologische und theologische Facetten deutlich und gibt Beispiele dafür, wie Missbrauch auch auf mentaler Ebene stattfindet.
  3. Die Ungleichheit der Funktionen von Frauen und Männern in der katholischen Kirche hat ebenfalls einen Einfluss darauf, wie Frauen geistlich unterdrückt und benachteiligt werden.
  4. Geistlicher und emotionaler Missbrauch gehen Hand in Hand. Dazu werden einige Fragen aufgeworfen und Antworten vorge­schlagen: Gibt es zum Beispiel typisch weibliche Versuchungen, die jemanden zur Täterin werden lassen, und wie könnten weib­liche Täterstrategien aussehen? Welche psychologi­schen Aspekte tragen dazu bei, dass manche Frauen längerfristig in missbräuch­lichen Beziehungen und Gruppen verharren?

3. Frauen als Betroffene von geistlichem Missbrauch

Frauen sind vom geistlichen Missbrauch auf vielfältige Weise betroffen: Sie sind Opfer, Täterinnen, Mitwisserinnen, und manchmal stehen sie auf der Seite der kirchlichen Verantwortungsträger und müssen als solche zu missbräuchlichen Situationen Stellung beziehen.

3.1 Opferrolle

Entgegen einer weitverbreiteten Sprachregelung spreche ich weiterhin von Opfern und nicht einfach von Betroffenen. Denn vom Missbrauch betroffen sind auch Täter oder jene, die in diesem Zusammenhang vom Leid anderer Menschen hören. Die Bezeichnung „Opfer“ muss die Per­sonen nicht in ihrer Opferrolle festschreiben, im Gegenteil, sie kann ihnen ermöglichen zu erkennen, dass andere an ihnen ein Unrecht be­gangen haben, an dem sie nicht schuld sind. Gerade die Anerkennung der Tatsache, dass man tatsächlich Opfer schädlicher Machenschaften anderer Menschen war oder ist, macht es möglich, das Unrecht zu be­nennen und die wahrhaft Schuldigen anzuklagen und zu verurteilen. Reisinger benennt drei Gruppen von Frauen, die in der Kirche besonders häufig Opfer von Missbrauch werden: 1. junge, in sich noch wenig gefes­tigte Frauen, die sich Beichtvätern, geistlichen Begleitern und Begleite­rinnen, Ordensoberinnen und Novizenmeisterinnen anvertrauen; 2. Frauen, die aufgrund von persönlichen Fragen, Nöten und anderen Bedürftigkeiten Seelsorge in Anspruch nehmen; 3. Frauen, die in der Kirche die Erfahrung machen, dass sie von Vorgesetzen und Priestern im beruflichen Umfeld ausgenutzt, manipuliert und unterdrückt werden (vgl. Reisinger 2020).

3.2 Täterinnen

Geistlicher Missbrauch ist meistens auch Machtmissbrauch: Wann im­mer Frauen in der Kirche Verantwortung für andere Menschen über­nehmen und asymmetrische Beziehungen entstehen, können auch sie diese Machtposition missbrauchen: als Leiterin einer Gemeinschaft, Einrichtung oder Gebetsgruppe, als Pastoralreferentin, Katechetin, Lehrerin oder Erzieherin, als Ordensoberin oder Novizenmeisterin, als Seelsorgerin, geistliche Begleiterin oder psychologische Beraterin.

Da Frauen in der katholischen Kirche selten in der ersten Reihe stehen, agieren sie meist aus der zweiten, als Assistentin, stellvertretende Vorsitzende, aber auch als Haushälterin oder Ehefrau. Gerade aus dieser weniger sichtbaren Position kann manipuliert und Druck ausgeübt werden, z. B. wenn sie „hinten herum“ das moralische Schwert gegen schwächere Personen in ihren Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaf­ten erheben oder aus Eifersucht ihre Leiter unter Druck setzen und zu bestimmten Entscheidungen zwingen wollen.

3.3 Mitwisserinnen

Frauen sind ebenfalls Mitwisserinnen, die missbräuchliche Systeme unterstützen. Sie sind Beobachterinnen, die vertuschen und Täter decken. Sie sind aber auch Frauen, die Missbrauch aufdecken und ihm entgegenwirken. In der Dokumentation „Gottes missbrauchte Diene­rinnen“ von arte wird von Ordensoberinnen berichtet, die den sexuellen Missbrauch von Priestern an den ihnen anvertrauten Schwestern dul­den, aus Angst vor einem Skandal oder dem Verlust gewisser Privile­gien. Wenn dort ebenfalls von ständigen Diakonen berichtet wird, die regelmäßig mit Ordensschwestern und jungen Frauen sexuelle Bezie­hungen pflegten, stellt sich die Frage nach den Ehefrauen. Haben sie tatsächlich nichts gesehen oder wollten sie nichts sehen? Wenn sie et­was wussten, wo hätte ihre Verantwortung gelegen, diesen missbräuch­lichen Situationen entgegenzuwirken? Hatten sie Angst vor der Stigma­tisierung und dem Gerede? Wollten sie ihre Familie und insbesondere die Kinder schützen? Die Schuld der Vertuscher (vgl. Keul 2020) schließt auch weibliche Mitwisserinnen mit ein.

Die beschriebenen Betroffenheiten oder Rollen mit Bezug zum geist­lichen Missbrauch überschneiden sich: Frauen sind nicht nur Täterin­nen, häufig waren sie in anderen Kontexten selber Opfer. Andersherum haben Opfer nicht nur passive Rollen in einem (größeren) missbräuch­lichen System, sie geben den erlebten Druck nicht selten an untere Hier­archieebenen weiter. Eine Assistentin, die von der Leitung unterdrückt wird, kann einerseits selber Mitglieder der Gruppe ausnutzen und ande­­rerseits an dem Wissen um das Fehlverhalten ihrer Leitung leiden. Auf­arbeitung wird dadurch besonders komplex, insbesondere, wenn in denselben Gemeinschaften Täterinnen, Mitwisserinnen oder Vertusche­rinnen und Opfer weiterhin zusammenleben (vgl. Kotz 2019).

4. Typisch weiblich?

Es ist deutlich geworden, in welchen Rollen und Funktionen Frauen von geistlichem Missbrauch betroffen sind. Gibt es in der Art und Weise, wie dies auf der Täter- und Opferseite geschieht, wiederkehrende Muster, die man als typisch weiblich ansehen könnte? Eindeutige Antworten müssten Mann-Frau-Klischees bedienen. Dennoch ist es möglich, dazu einige Beobachtungen und Hypothesen aufzuzeigen. Ich berücksichtige typische Frauenbilder in Bibel und christlicher Tradition sowie die mög­lichen Auswirkungen der ungleichen Verteilung von Macht in den Strukturen der katholischen Kirche. Ein besonderes Augenmerk gilt dem emotionalen Missbrauch als wichtigem Boden, auf dem geistlicher Missbrauch wachsen kann (vgl. Kluitmann 2019, 184).

4.1 Frauenbilder in Bibel und christlicher Tradition

Beim geistlichen Missbrauch werden meistens christliche Werte, Bibel­verse, Glaubensaussagen, liturgische Vollzüge und anderes so entstellt, dass sie nicht mehr in die Freiheit, in spirituelle Autonomie und zu mehr Lebensfreude führen, sondern zu Mitteln werden, mit denen die Macht der Täter untermauert und verstärkt werden kann. Historisch wurden Frauen in Kirche und Gesellschaft mehr unterdrückt als Män­ner und das nicht selten mit entstellten biblischen Frauenbildern und aus dem Kontext gerissenen Bibelversen.

Jahrhundertelang wurden Frauen als gefährlich und verführerisch wahr­genommen. Schließlich werde im Schöpfungsbericht beschrieben, dass Eva an der Ursünde schuld und Adam durch ihre Verlockungen zu Fall gebracht worden sei. Im ersten Brief an Timotheus wird dies aus­drücklich so dargelegt. Daher habe die Frau in der Gemeinde zu schwei­gen (2,11–15). Auch die Wüstenväter warnten vor den Frauen (und vor dem Bischof) und zogen deshalb unter ihresgleichen in die Wüste. In manchen kirchlichen Kreisen wird Frauen auch heute noch beigebracht, dass sie dafür verantwortlich seien, wenn Männer an ihnen der Versu­chung nachgegeben hätten. Das Leid und die Schuldgefühle der Opfer werden dadurch noch zusätzlich verstärkt.

Die Paulusbriefe sind eine Fundgrube für wörtliche Bibelauslegungen, mit denen Frauen unterdrückt werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: „Der Mann wurde nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann“ (1 Kor 11,9). „Die Frauen sollen in der Versamm­lung schweigen […] Wenn sie etwas wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre Männer fragen“ (1 Kor 14,34 f.). Die Frauen sollen sich ihren Männern unterordnen „wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist“ (Eph 5,21 ff.). Diese Tradition wurde durch von der Kirche heiliggesprochene Frauen und Gründerinnen noch fortgesetzt. Sie galten zum Beispiel als Vorbil­der für Demut, Selbstaufgabe, grenzenlosen Dienst am Nächsten und Opferbereitschaft. Das „Bild der dienenden, fügsamen, schweigenden, sich ‚natürlich‘ unterordnenden Frau. Das steckt uns in den Knochen“ (Mathies 2019, 32). Der Übergang von frei gewähltem Verzicht um eines größeren Gutes willen zu krankmachender Selbstaufgabe aus einem falschen Opferverständnis heraus ist fließend und geschieht meist un­merklich. Häufig werden Frauen sich des hohen inneren und äußeren Einsatzes erst dann bewusst, wenn sie bereits in einem Zustand tiefer Erschöpfung angekommen sind und beginnen, unter psychosomati­schen Symptomen zu leiden. Schließlich sind Hausfrauen und Mütter daran gewöhnt, ohne entsprechende finanzielle Gegenleistung oder Bezahlung zu arbeiten. Das setzen sie in den Gemeinden dann wie selbstverständlich fort, und es wird dort auch von ihnen erwartet. Ehrenamtliche Werke der Nächstenliebe können Sinn stiften, sie kön­nen aber auch eine Form der Ausbeutung im Namen des Glaubens sein.

Bräutliche Mystik ist ein typisch weibliches Erleben. Frauen ist es leich­ter möglich, mit Jesus eine bräutliche Liebe zu erfahren, was früher bei der Ordensprofess durch Brautkleider und Blumenkränze im Haar zum Ausdruck kam. So ist es vielleicht eher nachvollziehbar, dass eine Frau dem Priester glaubt, wenn er, als Repräsentant Jesu, diese Liebe auch körperlich ausdrücken möchte. In Frankreich haben zahlreiche Gründer von Gemeinschaften unter den Vokabeln spirituelle Freundschaft und/​oder mystische Vereinigung Frauen verführt zur Erfahrung „eines ganz besonderen Gottesdienstes“ und damit jahrelang sexuell ausgenutzt (Wagner 2018, 380). Zusätzlich herrscht mancherorts weiterhin ein völ­lig überzogenes Bild von jungfräulicher Reinheit vor. Dies findet sich ebenfalls im Kontext von besonders traditionell geprägtem gottgeweih­tem Leben und in Schriften monastischer Tradition wieder.

4.2 Ungleiche Machtverhältnisse in der katholischen Kirche

Glücklicherweise sind Männer und Frauen unterschiedlich. Das muss nicht automatisch zu Ungleichheit und Dominanz führen, sondern kann Kooperation, Ergänzung, gegenseitige Bereicherung und Wertschätzung bewirken. In der katholischen Kirche aber wird Frauen der Zugang zu höheren Ämtern verwehrt und zwar nur deshalb, weil sie Frauen sind. Damit fehlen bei vielen Entscheidungen die Sichtweisen, Bedürfnisse, Wünsche und Nöte der Frauen, auch dann, wenn sie vom Ergebnis des Entscheidungsprozesses direkt betroffen sind. Männer in der Kirche entscheiden daher auch darüber, in welchem Maße und welcher Form Frauen mitreden dürfen. Dieses Machtungleichgewicht erschwert es Frauen, die traditionell von jeher unterdrückt worden sind, nun ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln und einen gleichberechtigten Platz mit den Männern in der Kirche zu finden. „Dieses erzwungene Unter-den-eigenen-Möglichkeiten bleiben scheint mir geradezu ein Symptom von Gewalt gegen Frauen in der Kirche zu sein“, so Doris Reisinger (Reisinger 2019, 5). Da in der Hauptsache mit theologischen Gründen argumentiert wird, handelt es sich hierbei um eine Variante von geistlichem Missbrauch.

Erschwerend kommt zu den strukturellen Bedingungen männliches Dominanzverhalten innerhalb der Kirche hinzu, das sich vor allem im Klerikalismus ausdrückt. Noch offensichtlicher wird das Machtgefälle für Ordensfrauen. Sie haben eigene – auch internationale – Hierarchie­strukturen in der Kirche und sind dennoch auf die Dienste von Priestern angewiesen. Das schafft institutionelle Abhängigkeiten, die zu oft aus­genutzt und missbraucht werden.

Bei alledem muss unterschieden werden zwischen systemischer und individueller Verantwortung und der sich daraus ergebenden Schuld. Klerikalismus ist das eine, die Verehrung und Dienstbeflissenheit ge­genüber Priestern etwas anderes. Wenn diese in einem Kloster zu Gast sind, ist es beispielsweise nicht nötig, ihnen automatisch auch die Wäsche zu waschen und noch die Schuhe zu putzen (vgl. Kotz 2019, 152). Die Überhöhung der Priester geht nicht unbedingt nur von ihnen selber aus. Auch wenn der Klerikalismus fortbesteht, haben Frauen, egal ob Laiinnen oder Ordensfrauen, doch einen Einfluss darauf, wie sie damit umgehen.

4.3 Emotionaler Missbrauch in der Kirche an und von Frauen

In Amerika wurden eine Reihe von Forschungsprojekten zu den Ge­schlechterunterschieden bei körperlichem und emotionalem Miss­brauch in Paarbeziehungen durchgeführt. Sie kommen in der Regel zu dem Ergebnis, dass es bei der Häufigkeit keine signifikanten Unter­schiede gibt (vgl. Karakurt/​Silver 2013). Da emotionaler Missbrauch die Grundlage für geistlichen Missbrauch ist, liegt die Hypothese nahe, dass die Ergebnisse übertragen werden können. Das würde bedeuten, dass Frauen beim emotionalen Missbrauch im kirchlichen Umfeld gleicher­maßen Opfer und Täterinnen sind.

4.3.1 Die emotionale Seite des Missbrauchs aus der Täterinnenperspektive

Auch Frauen unterliegen der Versuchung, die ihnen anvertraute Macht auszunutzen und zum Schaden Schwächerer zu missbrauchen. Im Vor­dergrund steht hier die Frage, wie sie sich dabei emotionaler Druckmit­tel bedienen. Dazu einige Hypothesen.

Offene Machtkämpfe von Frauen werden gesellschaftlich nicht immer akzeptiert und leicht als „Zickenkrieg“ abgewertet. Daher ist es mög­lich, dass Frauen in der Auseinandersetzung um gleiche Chancen in Beruf, Partnerschaft und Familie eher emotional manipulieren, um subtil an Einfluss zu gewinnen. Das schafft einen neuen Stil, schützt aber nicht vor Machtmissbrauch.

In den mir vorliegenden Berichten über Missbrauchsstrukturen, die von Frauen dominiert wurden, kommt eine Reihe von Täterstrategien im­mer wieder vor. Diese sind natürlich nicht ausschließlich den Frauen vorbehalten. Typisch ist die Inszenierung einer Selbstviktimisierung, obwohl sich jemand schon in einer Leitungs- oder Machtposition be­findet. Sie besteht darin, sich selber als Opfer der bösen Machenschaf­ten anderer, insbesondere der übergeordneten Hierarchiestufen, dar­zustellen. Damit werden eigene Machtstrategien verschleiert und man macht sich unangreifbar gegenüber jedweder Kritik, da an allem Übel immer andere schuld sind. Frauen beziehen sich dabei zum Beispiel auf Teresa von Avila: „Auch sie hat schon unter der Dominanz der Männer gelitten. Das geht mir heute nicht anders.“ Diese Aussage deutet gleichzeitig an, das besagte Leiterin, die es ja so schwer hat, mit der „großen Teresa“ zu vergleichen ist. Auch das ist eine Strategie zum Gewinn von geistlicher Macht.

In reinen Frauengruppen ist eine Tendenz zu gegenseitiger Kontrolle zu beobachten. Aus überzogener Fürsorge und angeblicher Verantwortung füreinander wird auf jeden möglichen Fehler und jede mangelnde Ein­haltung von Regeln geachtet. Auch die vielleicht fürsorglich gemeinte Aussage: „Das schaffst du nicht allein, ich helfe dir“ kann missbräuch­lich sein: Das Gegenüber wird entmündigt und selber behält man die Kontrolle über seine Handlungen und die Art und Weise, wie bestimmte Aufgaben ausgeführt werden. Gegenseitige Sozialkontrolle, gerade im geschlossenen System von in Klausur lebenden Nonnen, kann starken psychischen Druck aufbauen und bis zum Denunziantentum führen. Dies geschieht scheinbar mit bester Absicht und wird biblisch begrün­det. Man sei schließlich „Hüterin seiner Geschwister im Herrn“ (Gen 4,9) und solle sie auf ihre Verfehlungen aufmerksam machen (Mt 18,15 und Parallelen). Auch Statuten und Direktorium liefern meistens Paragraphen, die als Begründung angeführt werden können.

Durch Spiritualisierungen werden psychische Bedürfnisse oder Blocka­den nicht unbedingt sublimiert, sondern ebenso abgespalten und ignoriert. Aufforderungen (Auf‑Forderungen) zu kindlichem Vertrauen in die Leitung und zur völligen Hingabe an den Dienst und die Gemein­schaft können eingesetzt werden, um persönliche Grenzen systematisch zu ignorieren und diese auch von anderen überschreiten zu lassen.

Wenn geistliche Begleitung und Therapie in ein und derselben Bezie­hung vermischt werden, was häufig unter dem Begriff „Innere Heilung“ geschieht, sind auch Frauen gefährdet, die ihnen anvertrauten Personen in Abhängigkeiten zu führen und zu halten. Sie bieten dann eine Ersatz­mutterschaft oder geistliche Mutterschaft an und laden das Gegenüber zu kindlichem Vertrauen ein. Meist ist das nichts anderes als die Förde­rung einer Regression im psychologischen Sinne. Psychotherapeutinnen wissen, dass diese Phänomene mit Vorsicht zu gestalten sind und einer guten Supervision bedürfen. In manchen christlichen Gruppen hinge­gen wird der Verweis auf Gottes Fürsorge, die in dieser Beziehung an­geblich zum Ausdruck kommt, ein Freibrief für emotionale Übergriffe und ungesunde Abhängigkeiten. Die Klienten und Klientinnen werden dadurch nicht freier und erwachsener, sondern werden im Gegenteil im Namen der Barmherzigkeit kleingehalten und für Hilfsdienste in den dazugehörenden Gruppen und Gemeinschaften gefügig gemacht.

4.3.2 Die emotionale Seite des Missbrauchs aus der Opferperspektive

Täter und Täterinnen haben ein gutes Gespür dafür, welche Frauen ver­letzlich und für missbräuchliche Dynamiken anfällig sind. Frauen, die sich an einen Seelsorger wenden, bieten dafür einen willkommenen Anlass. Sie bringen Probleme mit und drücken meist eine emotionale Bedürftigkeit aus. Das macht sie verwundbar und anfällig für Druck und Manipulationen, die genau auf dieser emotionalen Ebene ansetzen (vgl. Reisinger 2019, 9). Die Täter und Täterinnen verfügen außerdem über zahlreiche Strategien, um Frauen immer unsicherer, bedürftiger, ver­letzlicher und letztlich von sich abhängig zu machen. In der ersten Pha­se finden sich exzessives Lob und Anerkennung, verführerisches Umgar­nen und viele Versprechungen, untermauert mit geistlichen Argumen­ten: „Du bist ein ganz besonderes Geschenk, das Gott uns/​mir da ge­macht hat. Wer sich bei uns einbringt, wird den Sinn seines Lebens finden.“ Wenn die Bindung einmal hergestellt ist, wechseln die Täter nach und nach zu mehr destruktiven Praktiken wie Leistungsdruck, Unterstellungen, Anschuldigungen, Lügen, Drohungen und Bestra­fungen. Auch hierfür gibt es geistliche Argumente: „Nur wer richtig/​genügend/​mit dem Herzen betet, kann bei uns Mitglied sein. Wer uns/​mich verlässt, verliert seine Berufung.“ Als Antwort auf Kritik: „Du bist zum Werkzeug des Widersachers geworden und dienst einem Geist der Spaltung!“

Eines ist es, in derartige missbräuchliche Beziehungen verwickelt zu werden, ein anderes, darin zu verweilen. Bei Frauen könnte das fol­gende Gründe haben: Sie sind in der Lage, sehr viel Leid, Not, Entbeh­rung, Krankheit und Ähnliches zu ertragen, durchzuhalten und zu überleben. Das ist erst einmal eine Stärke, kann aber zur Falle werden, insbesondere, wenn sie sich im Sinne von Seligmann in einem Zustand der erlernten Hilflosigkeit befinden. Durch eine passive Glaubenshal­tung, die nur darauf wartet, dass Gott allein schon alles fügen wird und alles wie­der gut macht, werden diese psychologischen Mechanismen noch verstärkt. Derartige geistliche Verkürzungen werden immer wie­der als fromme Ratschläge ausgeteilt. Gerade im Namen von Vergebung und Barmherzigkeit oder im Namen der Treue zum Sakrament der Ehe haben Frauen in Situationen ausgehalten, aus denen sie sich viel früher hätten befreien (lassen) können. Häusliche Gewalt mit Leidensbereit­schaft und Vergebung zu ertragen, kann nicht Wille Gottes sein.

In meiner Beratungspraxis konnte ich beobachten, dass meine Klientin­nen häufig Probleme hatten, mit ihrem Ärger in Kontakt zu kommen und diesen auch auszudrücken. Das machte sie anfälliger, in miss­bräuchlichen Beziehungen auszuharren und weiterhin schädigende Worte und Taten über sich ergehen zu lassen. In der Therapie ist es immer wieder erstaunlich, zu welcher Wut Frauen fähig sind, wenn sie erst einmal Zugang zu dieser Emotion gefunden haben. Damit finden sie auch die Kraft, sich zu emanzipieren und aus den Schlingen ihrer Peiniger zu befreien. Allerdings wird im christlichen Kontext zu oft vor Ärger und Wut gewarnt und dabei auf Jakobus 1,19–20 verwiesen. Dabei gibt es einige Bibelstellen, in denen Jesus selber seinem Ärger Luft gemacht hat, immer dann, wenn es ihm um etwas besonders Wichtiges ging, wie der Tempel (Joh 2), die Kinder (Lk 17) oder die geistliche Elite seiner Zeit (Mt 23).

Aus einer falsch verstandenen Fürsorge tendieren manche Frauen dazu, sich mit der Not ihrer Täter und Täterinnen zu solidarisieren, insbeson­dere, wenn ihnen schmerzhafte Erfahrungen aus deren Kindheit erzählt wurden (das ist auch eine Täterstrategie!). Sie halten dann viel Schmerz­haftes aus, weil sie sich angeblich weiter um die anderen (z. T. sogar um die Täter) kümmern müssen. Sie fürchten, diese könnten zusammen­brechen, von Substanzen abhängig, depressiv oder körperlich krank werden. Auch hier bauen falsche Vorstellungen, diesmal von Nächsten­liebe und/​oder Vergebung, zusätzlich geistlichen Druck auf.

In der bereits zitierten Untersuchung von Karakurt/​Silver gab es ein Kriterium, das bei emotional missbrauchten Frauen stark ausgeprägt war: das Ausmaß an Isolation. Für sie hat die emotionale Bindung einen höheren Stellenwert als ihre Unabhängigkeit und sie sind bereit, einen hohen inneren Preis zu zahlen, um in dieser Verbindung zu bleiben. Besonders auffällig war das Risiko des Missbrauchs durch Isolation bei jungen Frauen (vgl. Karakurt/​Silver 2013, 10). Sie gingen so sehr in der Paarbeziehung auf, dass sie Angst hatten, durch eine mögliche Tren­nung nicht nur alle wichtigen Beziehungen zu verlieren, sondern auch sich selbst (vgl. ebd. 12). Wenn das Selbstwertgefühl durch den Miss­brauch bereits stark geschwächt wurde, kann diese Angst durchaus berechtigt sein. Deshalb brauchen Aussteigerinnern aus missbräuch­lichen Beziehungen und Gemeinschaften intensive Hilfe und Unter­stützung durch neue verlässliche Beziehungen.

Beim geistlichen Missbrauch spielen Opfer- und Täterrolle zusammen. So können Opfer zur gleichen Zeit in einer anderen Konstellation selber zu Täterinnen werden. Wem zum Beispiel Spiritualität sehr direktiv und einseitig vermittelt wurde (Opfer), läuft Gefahr, sie in ähnlicher Weise auch anderen weiterzugeben (Täter).

5. Eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig ist

Frauen sind Opfer, sie sind Mitwisserinnen und Täterinnen von geist­lichem Miss­brauch. Aber Frauen sind auch diejenigen, die ihre Stimme erheben, um auf die Mechanismen und Missstände des geistlichen Missbrauchs aufmerksam zu machen. Nicht von ungefähr sind die meisten der aktuell erschienenen Veröffentlichungen zu diesem Thema in Deutschland von Frauen verfasst worden. Auch bei der Tagung „Ge­walt gegen Frauen“ in Siegburg haben sich mehr als 120 Teilnehme­rinnen eingefunden. Unter ihnen betroffene Opfer, die endlich einen von der Kirche zur Verfügung gestellten Raum hatten, um über ihre leidvollen Erfahrungen sprechen zu können. Unter ihnen Begleiterinnen und Therapeutinnen, die sich engagiert um Betroffene kümmern und Hilfe anbieten. Unter ihnen in der Kirche angestellte Frauen, bis hin zum Sekretariat der Bischofskonferenz, die sich zu Anwältinnen der missbrauchten Frauen machen, ihnen eine Stimme geben und der immer noch zu klerikal verfassten Kirche den Spiegel vorhalten.

In Genesis 2,20 heißt es, dass Gott dem Menschen eine Hilfe schuf, die ihm ebenbürtig ist. Dies ist ein typischer Vers, der missbraucht werden kann, um Frauen zu unterdrücken und auf eine Position zu reduzieren, in der sie nur den Männern dienen sollen. Doch der hebräische Begriff „Hilfe“ (ezer) findet sich zum Beispiel auch im Psalm 121 wieder, wo es heißt: „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen: Woher kommt mir Hil­fe? Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde erschaffen hat.“ Der Begriff ezer kann daher im Zusammenhang gesehen werden mit Gottes Wirken und der Art von „Hilfe“, die er den Menschen zu­kommen lässt. In der Betroffenheit, Verunsicherung und Empörung, die durch das Sprechen über Gewalt an Frauen und geistlichen Missbrauch ausgelöst worden sind, hoffen wir gleichzeitig auf Gottes Wirken und auf Hilfe, „die den Menschen ebenbürtig ist“. Schon jetzt sehen und erleben wir etwas von dieser Hilfe durch Enttabuisierung, Aufklärung, Fortbildung, Prävention, Aufarbeitung und Forschung verwirklicht von mutigen und engagierten Frauen.