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Religionsmonitor 2013: Religiosität im internationalen Vergleich

Nach der Vorstellung der Ergebnisse des Religionsmonitors 2013 für Religiosität in Deutschland in der vorherigen Ausgabe von euangel (Ausgabe 2/2013) soll in dieser Ausgabe Religiosität im internationalen Vergleich betrachtet werden. Autor der Auswertung der internationalen Daten des Religionsmonitors 2013 ist der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel. Befragt wurden für diese Studie 14.000 Menschen in dreizehn Ländern zu ihren religiösen Einstellungen und Verhaltens­weisen. Bei der Länderauswahl wurde nicht der Anspruch erhoben, Religiosität welt­weit zu erfassen, sondern es wurde angezielt, die untersuchten Länder gut vergleichen zu können. Als wesentliche Vergleichsgruppe wurden daher Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Spanien, Kanada und die USA herange­zo­gen. Darüber hin­aus wurden solche Länder in die Erhebung mit einbezogen, die aus deutscher Perspektive besonders relevant sind (Türkei und Israel) oder die aus globaler Perspektive, z.B. als Schwellenländer, besonders inte­res­sant sind (Brasilien, Indien und Südkorea).

Leitende Auswertungsfragen waren, welche Bedeutung Religiosität in den erhobenen Ländern hat, wie auf die wachsende religiöse Vielfalt reagiert wird und welche Rolle Religion für den gesellschaftlichen Zu­sammenhalt spielt. Als theoretischer Hintergrund fungiert die kontro­verse Frage, ob Religion eher im Säkularisierungsparadigma beschrie­ben werden kann oder ob eher von einer Wiederkehr der Religion zu sprechen ist.

1. Bedeutung des Religiösen im internationalen Vergleich

Im Vergleich zu den Ergebnissen des Religionsmonitors von 2008 sind nur geringe Veränderungen festzustellen; die zeitliche Distanz der Erhe­bungen ist zu gering, um die Ergebnisse im Sinne von Entwicklungspro­zessen zu interpretieren: „Der Wandel von Religiosi­tät ist ein eher lang­fristiger Prozess, der sich über den Wechsel der Generationen hinweg vollzieht.“ (17)

Gemessen am bewährten Instrument des Zentralitätsindex der Reli­giosität, der zwischen den drei Ausprägungen hochreligiös, mittelreli­giös und wenig oder nicht religiös unterscheidet, sind jedoch deutliche Unterschiede im internationalen Vergleich festzustellen. Unter den be­trachteten Ländern weisen die Türkei, Indien und Brasilien die höchste Religiosität auf; die Summe von Hoch- und Mittelreligiösen liegt in die­sen Ländern bei fast 100%. Brasilien mit dem höchsten Wert von fast 75% Hochreligiösen repräsentiert das zum größten Teil hochreligiöse Lateinamerika; die USA mit über 90% Hoch- und Mittelreligiösen stel­len einen weltweiten Sonderfall dar, insofern sie einen sehr hohen Be­völkerungsanteil mit Migrationshintergrund, eine ausgeprägte religiöse Pluralität und einen hohen Modernisierungsgrad aufweisen. „Die ‚Leuchttürme‘ hoher Religiosität sind mittlerweile weitgehend aus Europa ... abgewandert ... Das Zentrum religiöser Verbundenheit liegt den vorliegenden Zahlen zufolge nicht mehr in Europa, sondern in anderen Regionen der Welt.“ (10.17)

In Europa ist das Niveau der Religiosität merklich geringer; der Anteil der Hochreligiösen liegt zwischen 25% (Spanien) und 10% (Schweden und Ostdeutschland). Zählt man Hoch- und Mittelreligiöse zusammen, so werden die Unterschiede in der Religiosität noch deutlicher: Die Wer­te rangieren zwischen gut 80% in der Schweiz bzw. ca. 75% in West­deutschland und Spanien und ca. 45% in Schweden bzw. 35% in Ost­deutsch­land; Großbritannien und Frankreich liegen dazwischen mit je etwas über 60%. Blickt man auf die religiöse Selbsteinschätzung, so liegen diese „subjektiven“ Werte generell unter den „objektiven“ Wer­ten des Zentralitätsindex: In den befragten europäischen Ländern – mit Ausnahme der Schweiz und Westdeutschlands – verortet sich jeweils eine Mehrheit als nicht oder wenig religiös; am stärksten in Ost­deutsch­land mit über 70%, dicht gefolgt von Schweden mit knapp 70%. Er­staun­lich hoch ist die persönliche religiöse Indifferenz auch in Israel (knapp 70%) und Südkorea (ca. 65%).

Insgesamt bestätigt dies das Bild eines „relativ fortgeschritten säkulari­sierten Europas“ (17), doch wäre es unzutreffend, deshalb von einem „säkularen Europa“ zu sprechen. Denn es ist zwischen Prozess (Säkula­risierung) und Status (Säkularität) zu unterscheiden: Trotz eines relativ hohen Niveaus der Säkularisierung existiert in Europa „immer noch eine überwiegend religiös geprägte Kulturtradition – und weitgehend auch eine Kultur des Christentums“ (18). Auch wenn Religion für die europäischen Bürgerinnen und Bürger an Bedeutung verloren hat und als weniger wichtig angesehen wird als z.B. Familie, Arbeit oder Frei­zeit, so ist sie doch nicht verschwunden oder ausschließlich ins Private abgewandert. Es gilt aber, dass oft „religiöse Menschen einer ebenso großen Anzahl religiös indifferenter Menschen gegenüber“ (ebd.) stehen.

Fragt man nach den Gründen für das hohe Niveau der Säkularisierung in Europa, so ist es zum einen die sozioökonomische Modernisierung, die sich negativ auf die soziale wie individuelle Bedeutung von Religion aus­wirkt (ein Beispiel hierfür ist Südkorea), im Zusammenspiel mit Faktoren wie Bildungsexpansion, Rationalisierung, Bürokratisierung, höherer Mobilität, Demokratisierung oder funktionaler Differen­zie­rung. Tendenziell wendet man sich mit zunehmendem Wohlstand ver­stärkt dem Diesseits zu (was nicht bedeutet, dass damit alle religiösen Fragen erledigt wären, im Gegenteil können mit der Befriedigung mate­rieller Bedürfnisse neue, religiös virulente Fragen z.B. nach dem Sinn und der Qualität des Lebens entstehen).

Ein weiterer Faktor ist die konfessionelle Zugehörigkeit: Die Zentralität der Religiosität ist (in Europa) am höchsten unter Muslimen, gefolgt von Buddhisten, Juden und Christen. Innerhalb der Christen zeigen Evange­li­kale bzw. Pfingstkirchler die höchste Religiosität, danach folgen Katho­liken, Orthodoxe und (Mainline-)Protestanten; am wenigsten religiös sind die Konfessionslosen (aber auch hier werden nach dem Zentrali­täts­index immer noch knapp 40% als religiös klassifiziert). Dem Protes­tantismus scheint es folglich am wenigsten gelungen zu sein, seine Mit­glieder zu halten, was sich an Ländern mit einer protestantischen Tradi­tion wie Ostdeutschland oder Schweden zeigen lässt. Hinzu kommen freilich als weitere Erklärungsfaktoren spezifisch historisch bedingte Entwicklungen wie die frühere sozialistische Repression in Ostdeutsch­land oder die laïcité in Frankreich.

Für eine Prognose der zukünftigen Entwicklung ist die Differenzierung nach Altersgruppen aufschlussreich: Vergleicht man die verschiedenen Altersgruppen miteinander, so ist für alle untersuchten Länder (mit ei­ner Ausnahme) ein kontinuierlicher Abbruchsprozess zu konstatieren; mit jedem Generationswechsel geht also die Zentralität von Religiosität zurück. Tendenziell ist der Rückgang bei den Hochreligiösen über die Altersgruppen noch deutlicher ausgeprägt als bei den Mittelreligiösen. Diese Zahlen lassen mittel- und langfristig keine Revitalisierung des Religiösen in den befragten Ländern erwarten, sondern im Gegenteil insbesondere in Europa, aber auch in hochreligiösen Ländern wie der Türkei oder den USA eine Abnahme der Bedeutung des Religiösen.

Eine Ausnahme von dieser Tendenz stellt Israel dar: Hier ist über die Generationen hinweg eine hohe Konstanz der Zentralität von Religio­sität zu beobachten. Dies spiegelt wahrscheinlich die hohe Polarisierung der israelischen Gesellschaft wieder: „Hochreligiöse Gruppen stehen über alle Generationen hinweg hochsäkularen Gruppen gegenüber.“ (25) Zudem scheinen in Israel die öffentliche Bedeutung von Religion und die individuelle Religiosität stark auseinanderzufallen: „Israel weist damit eine ganz eigene – und paradox anmutende – Kombination von hoher Relevanz von Religion für den Lebensalltag und gleichzeitig be­grenzter persönlicher Religiosität auf, die weltweit in dieser Konstel­lation kaum zu finden ist.“ (14)

2. Religionen und Bedrohungsgefühle

Gefragt wurde im Religionsmonitor 2013 auch nach dem Umgang mit der Pluralität von Religionen, v.a. auch nach Bedrohungsgefühlen durch andere Religionen. Insgesamt „scheinen eine gewisse Gelassenheit und ein gewisser Pragmatismus im Umgang mit anderen Reli­gionen zu be­ste­hen. Gesehen werden die guten wie die gefährlichen Seiten, die Reli­gionen haben können.“ (36) In den meisten Ländern finden sich um die 60% Zustimmung sowohl zur Bereicherung durch religiöse Vielfalt als auch zu ihrer Konfliktträchtigkeit. Größere Differenzen zwischen bei­den Sichtweisen finden sich in der Türkei und Spanien (hier wird stärker die Bereicherung gesehen) bzw. in Israel und der Schweiz (hier über­wiegt die Einschätzung als konfliktträchtig). In eine ähnliche Richtung gehen die Ergebnisse zu religiöser Toleranz und Offenheit: Im Durch­schnitt geben 70% der Befragten an, dass alle Religionen einen wahren Kern haben und man ihnen gegenüber offen sein sollte. In einigen Ländern findet sich dagegen eine größere Gruppe von Menschen, die eine Exklusivität der eigenen Religion hinsichtlich der Heilserlangung behaupten. Am stärksten sind diese Gruppen in der Türkei, Israel und Südkorea, wo sie zwischen 44% und 27% der Bevölkerung ausmachen. In Europa, aber auch in den anderen untersuchten Ländern sind diese Gruppen deutlich in der Minderheit.

Dieses grundsätzlich erfreuliche Ergebnis „bedeutet jedoch andererseits nicht, dass man gegen Bedrohungswahrnehmungen gefeit ist oder Reli­gionen auf naive Weise nur als gut erachtet. Vorherrschend ist vielmehr ein verbreitetes Bedrohungsgefühl.“ (ebd.) Vor allem in der westlichen Welt wird der Islam als Bedrohung wahrgenommen: In Europa liegen die Werte zwischen 30 und 60%; bemerkenswerterweise ist die wahrge­nommene Bedrohung in Spanien am größten mit 60%, gefolgt von Ost- (knapp 60%) und Westdeutschland (knapp 50%). Höher ist das Miss­trau­en gegenüber dem Islam nur in Israel ausgeprägt (über 75%), was aufgrund der politischen Situation leicht nachvollziehbar ist. Die Wahr­nehmung des Judentums als Bedrohung fällt niedriger aus als die des Islam, ist aber dennoch mehr als nur eine Randerscheinung: Am höch­sten ist sie in der Türkei (über 35%) und in Spanien (31%), in Deutsch­land (Ost wie West) beträgt sie immerhin noch 19% (!). Die Stereotype sind allerdings wechselseitig: So wird das Christentum in der Türkei von 32% und in Israel von 27% als Bedrohung empfunden. Auch der Atheis­mus ruft eine Bedrohungswahrnehmung hervor, am stärksten in hoch­religiösen Ländern wie Brasilien, den USA und der Türkei (jeweils ca. 50%). Geringere Stereotypen und Bedrohungswahrnehmungen sind dann zu verzeichnen, wenn es intensivere und häufigere (positive) Kontakte zu Angehörigen anderer Religionen gibt.

3. Religion und gesellschaftlicher Zusammenhalt

Der letzte Themenbereich des Religionsmonitors befasst sich mit zivil­gesellschaftlichem Engagement und Vertrauen in den untersuchten Ge­sellschaften. Freiwilliges Engagement – als eine wichtige Grundlage für die Ausbildung sozialen Vertrauens – ist in allen Ländern zu verzeich­nen, jedoch in sehr unterschiedlicher Ausprägung: Während es in Schwe­den und in der Schweiz mit fast 50% am höchsten ausfällt, liegt es in Israel, der Türkei und in Südkorea unter 20%. Während in Europa der Anteil des Engagements mit religiöser Ausrichtung eher gering ist, macht er in den USA, in Kanada, Indien und Brasilien den überwiegen­den Anteil allen freiwilligen Engagements aus. Zu den Gründen für die Unterschiede im Engagement lässt sich u.a. feststellen, „dass Moderni­sie­rung, verbunden mit der Freisetzung zeitlicher Kapazitäten, sich in der Regel positiv auf das freiwillige Engagement der Bürger auswirkt“ (40). Viele Freiwilligengruppen scheinen sich im Umfeld der Kirchen anzusiedeln, ohne dass diesem Engagement eine religiöse Motivation zugrunde liegen muss.

Betrachtet man die Korrelation von Wertvorstellungen und Religiosität, so wird deutlich, „dass religiöse Menschen stärker als andere dazu nei­gen, anderen Menschen in ihrem Umfeld zu helfen und sich um sie zu kümmern“, gleichzeitig sind „Wertemuster wie Hedonismus oder Selbst­entfaltung seltener bei religiösen Menschen zu finden“ (ebd.).

Insgesamt lässt sich länderübergreifend ein hohes soziales Vertrauen in Menschen im Allgemeinen beobachten, es liegt in den meisten der un­ter­suchten Länder zwischen 60 und 85% (weniger sind es in Südkorea mit knapp 60% und in der Türkei mit nur 40%). In diesem Kontext hält der Religionsmonitor fest, dass das „grundsätzliche soziale Vertrauen ... in Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit sowie der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage [steht]. Sozioökonomische Modernisierung scheint Vertrauensressourcen freizusetzen.“ (41)

Recht positiv fällt auch das Vertrauen aus, das in religiöse Menschen gesetzt wird: „Auf der zwischenmenschlichen Ebene werden andere religiöse Menschen mehrheitlich als vertrauenswürdig angesehen.“ (42f) Der Wert reicht von fast 80% (USA) bis knapp 50% (Deutschland) bzw. knapp 40% (Türkei). Es ist also zu unterscheiden zwischen der Wahrnehmung einer Religion als ganzer („der Islam“) und den einzel­nen religiösen Menschen („ein Muslim/eine Muslima“), so dass die be­denklich stimmenden Resultate zu den Bedrohungswahrnehmungen durch andere Religionen zumindest relativiert werden. Der Religions­mo­nitor empfiehlt daher: „Vertrauensbildende Maßnahmen und die Förderung von Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft scheinen lohnend, da hierdurch das Vertrauen in die Mitmen­schen gefördert werden kann.“ (43)

Ein solches Vertrauen wirkt sich auch positiv für Demokratien aus, da sich beobachten lässt, dass mit dem Vertrauen in die Mitmenschen auch die positive Haltung zur Demo­kratie gestärkt wird. Insgesamt findet sich in den untersuchten Ländern eine breite Einschätzung der Demo­kra­tie als guter Regierungsform, wobei die Unterschiede zwi­schen reli­giösen und nichtreligiösen Gruppen relativ gering sind. Religiöse Men­schen zeigen allerdings weniger Offenheit gegenüber Zuwanderern und neigen somit offenbar stärker zu einem exklusiven Gesellschafts­ver­ständnis. „So führt die Untersuchung für die befragten Länder letztlich zu einem widersprüchlichen Resultat: Einerseits stellen Religionen durch ihre Vereine und sozialen Netzwerke Gelegenheitsstrukturen be­reit, die eine positive Einstellung gegenüber der Demokra­tie oder auch Toleranz befördern. Andererseits kann Religiosität in ihrer unmittelbar persönlichen Ausprägung aber auch zu einem exklusiven Gesellschafts­verständnis führen.“ (47)

 

Gert Pickel, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Religiosität im internationalen Vergleich, Gütersloh 2013 (abrufbar unter www.religionsmonitor.de/ergebnisse-international.html)