Inhalt

Religiöse und säkulare Lebenskompetenz

Kirchenleute und Konfessionslose im Gespräch

Dieser Beitrag dokumentiert einen Vortrag bei der Tagung „Konfessionslosig­keit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität“ der Friedrich-Schiller-Uni­versität in Jena (21.-23.2.2013). Reiner Knieling geht darin auf Erkundungs­tour in säkularem Gelände. Durch Literatur und Bildende Kunst inspiriert sucht Reiner Knieling nach einem neuen Verhältnis von Religion und Säkula­rität. Die säkulare Perspektive leistet ihren Beitrag dazu, dass die Religion insgesamt und insbesondere das Christentum nicht weltfern und religiös deformiert werden. Der Beitrag erschien in:

Rose, Miriam / Wermke, Michael (Hg.), Konfessionslosigkeit heute. Zwischen Religiosität und Säkularität (Studien zur religiösen Bildung 5), Leipzig 2013.

http://www.eva-leipzig.de/product_info.php?info=p3459_Konfessionslosigkeit-heute.html

Wir danken herzlich der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig für die freundliche Genehmigung des Abdrucks in euangel.

1. Erkundungen im religiös-säkularen Gelände

Jenseits einer dualen, vom Gegensatz bestimmten Hermeneutik, Aus­drucks­formen für unterschiedliche Facetten von Religiosität und Säku­larität zu finden, ist ein Anliegen dieser Tagung. In dieser Perspektive empfinde ich eines der Erfolgsbücher des vergangenen Jahres als Geschenk.

1.1. Rationale und empirisch-religiöse Religions- und Rationalismuskritik

Esther Maria Magnis findet in ihrem Buch „Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung“ ihre eigene Sprache zwischen Religiosität und Säkula­rität und jenseits davon. Ihr Erzählen ist gespeist von dem, wozu das eigene Leben in seinen sozialen Bezügen herausfordert. Es verbindet hohe emotionale Dichte mit ausgeprägtem Scharfsinn.

Die Autorin, geboren 1980, beschreibt, wie sie als Kind Gott interessant und die Kirche langweilig empfand und wie sie mit 13 oder 14 Jahren begann, sich „leise von Gott zu trennen“ (24). Wie treffsicher sie den Finger in die Wunden der Kirche legt und was das für die Kirchenent­wicklung bedeuten könnte, wäre ein eigenes Thema, das ich hier nicht vertiefen kann. Die Nachricht vom baldigen Krebstod ihres Vaters führte sie in einen Strudel intensiver Auseinandersetzungen. In der Not ver­such­ten die Geschwister zu beten, wussten aber nicht wie. Da kam es zu einer Gottesbegegnung der besonderen Art: „[…] aus der Stille wuchs eine Ruhe. […] Dieser Frieden war nicht unserer, aber wir wussten, dass er die Wahrheit ist. Und die Wahrheit stellt immer nur eine Frage. Und die einzige Antwort darauf ist ‚Ja‘, die gibt sich von selbst, und wir nick­ten ihr dann nur noch unsere Worte zu.“ (49f, vgl. auch 198)

Im Kontrast dazu stehen die brutalen Erfahrungen der Abwesenheit Gottes. Ihr Ringen war heftig. Als ihr Vater schließlich gestorben war, konnte sie ihre Wut nur noch herausschreien: „Ich habe ihn [Gott, RK] so beschimpft, wie man jemanden beschimpft, […] den man dazu bringen will, sich zu wehren, zu regen, und wenn das nicht möglich ist – ihn umzubringen. […] In dem Hass steckte meine ganze Existenz, mein ganzes Leben, meine ganze Welt … und Gott. […] Das Schlimmste war ja, dass ich wusste, dass es ihn gab.“ (108) Die Auseinandersetzung ging weiter. Sie wollte Gott aus ihrem Denken verschwinden lassen, fand es aber „nicht intelligent“ (123), die Existenz Gottes zu negieren. „Weil es mich immer an diese mittelalterliche Art des Menschen erinnerte, sich für das Zentrum des Alls zu halten und später dann auf dem Stand, auf dem die Wissenschaft gerade steht, völlig steile Thesen zu formulieren.“ (ebd.)

Mit der Zeit kam sie ihrer eigenen Angst genauer auf die Spur, der „Angst vor der Sinnlosigkeit des Lebens“ (142, vgl. auch 197). Manchmal hielt sie das Leben nicht mehr aus. Sie floh, auch mit Hilfe des Alkohols. Doch sie spürte schnell, dass Erlösungen dieser Art die Nachhaltigkeit fehlte. Von Gott kam sie nicht los. „Vielleicht liegt unsere Sehnsucht nach Gott darin begründet. Nicht, dass er unsere Feinde richtet, sondern uns. Nicht erst im Himmel, sondern schon jetzt – jemand, der einen ver­teidigen kann und die Gewalt hat zu richten. Damit wir es nicht selbst machen müssen. Weil wir es gar nicht können. Es ist ausgeschlos­sen, wir tun es zwar andauernd, aber wir sind nicht gerecht und unsere Argumente sehr schwach.“ (170f.) Mit ihrer Sehnsucht im Herzen ist Gottes Schweigen für sie unerträglich. Als ihr Bruder auch an Krebs erkrankte, wurde diese schreckliche Seite Gottes sofort wieder lebendig. Der „Regenbogenfreundeskreis-Jesus“ (212) aus der Jugendzeit war ihr schon immer verdächtig harmlos. Durch das Gespräch mit einem Pries­ter über dessen Dissertation hatte sie entdeckt, wie verrückt das Christen­tum ist, wenn es behauptet, dass Gott „am Kreuz gelandet ist“ (212, vgl. auch 223f.). Und dann verband sich diese Verrücktheit mit ihrem Schmerz als Schwester: „[…] es war in diesen Momenten von Johannes‘ [Bruder, RK] Schmerzattacken, als ich anfing, meinem Gott dafür zu danken, dass er sich von den Menschen hat foltern lassen. Dass er selber geschrien hatte.“ (231)

Entgegen allen vorherigen Erfahrungen und Befürchtungen bekam ihr Glaube auf einmal eine besondere Qualität. „[…] eines Nachmittags rannte ich auf die Terrasse, auf den Schnee, und sagte zu Gott: ‚Mach keinen Scheiß. Das schaff ich nicht, Herr. […] Wenn du Johannes sterben lässt, verlier ich meinen Glauben. […] Nimm meinen ganzen Glauben, zerschlag mir die Welt. Nicht Johannes.‘ Und was dann geschah, war, dass mein Glaube wuchs. Damit habe ich nichts zu tun. Der gehörte mir nicht mehr. […] Seitdem kann ich nicht mehr sagen, warum ich an Gott glaube. Es ist kein Akt von mir.“ (232)

Aus der Perspektive ihrer existentiell-religiösen Erfahrungen und deren rationalen Reflexion kritisiert Esther Maria Magnis die verfasste Reli­gion, insbesondere ihre katholische Kirche, in der sie aufgewachsen ist und in der sie nach ihrem Studium der vergleichenden Religionswis­sen­schaften wieder gelandet ist. Aus dieser Perspektive kritisiert sie genau­so auch wenn das in der Werbung für das Buch geflissentlich ver­schwie­­gen wird – rationale Denkverkürzungen, die ihr intellektuell un­redlich erscheinen. Etwas vergröbernd lassen sich verschiedene Ver­dich­tungen und dann wieder neue Öffnungen und Wendungen in der Auseinandersetzungsdynamik Esther Maria Magnis’ erkennen: Die Verabschiedung ihres kindlichen Gottesinteresses; Momente intensiver Gottespräsenz; teilweise unerträgliche Phasen der Abwesenheit Gottes; Versuche, aus der Polarität zwischen Gott und „Nicht-Gott“ auszubre­chen; die Entdeckung der Besonderheit des Christentums in einer ge­heimnisvollen Anwesenheit Gottes gerade in grausamen Abwesen­hei­ten Gottes – am Kreuz Jesu und in den Kreuzen dieser Welt; schließlich die Erfahrung, dass Glaube gerade in seinem Entzogensein besonders tragfähig ist.

1.2. Religiös-säkulare Kunstwerke

Bis zum Januar des Jahres 2013 fand in Erfurt die Ausstellung „Tischge­spräche mit Luther“ statt. Untertitel: Christliche Bilder in einer atheisti­schen Welt. Ausgestellt wurden Werke, in denen sich Künstler in der DDR christlicher Motive bedienten und diese im säkularen Kontext neu interpretierten.

(1) So diente dem Hallenser Maler Uwe Pfeifer der christliche Flügelal­tar und Albrecht Dürers „Adam und Eva“ (http://unterwegsinsachenkunst.wordpress.com/tag/uwe-pfeifer/) als Inspiration für eine Auftragsarbeit von 1984, die erst nach einigen Schwie­rigkeiten vom Auftraggeber, der Universität in Halle/Saale, beim Künstler abgeholt wurde, und die der Erfurter Ausstellung jetzt den Namen gab: Tischgespräch mit Luther (Schierz, Tischgespräche, 11). Ich konzentriere mich auf den Aspekt des Dialogs zwischen eher religiösen und eher säkularen Menschen: Der lateinamerikanische Befreiungs­kämpfer, mit dem Rücken zum Betrachter, ist im lebendigen Gespräch mit Martin Luther. Sie sind von unterschiedlichen Menschen umgeben, von Vertretern der staatlichen und sozialen Ordnung auf der linken Seite und von Menschen, die staatliche Vorgaben nicht einfach fraglos hinnehmen, auf der rechten Seite. Ich frage: Was ist daran religiös und was säkular? Welches Potenzial hat Luthers Freiheit eines Christenmen­schen in diesem Kontext? Was bedeutet es, dass dieses Gespräch von zwei Menschen gerahmt wird, die nicht dem Ideal des sozialistischen Menschen entsprechen, aber an der Ostsee so angetroffen werden konnten und gleichzeitig auf Dürers paradiesische Eva und Adam verweisen? Ist das die religiös-kirchlich gestützte Freiheit eines säkularen Sozialistenmenschen?

(2) Christoph Wetzel nennt sein Bild „Das Jüngste Gericht“ (1987, http://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/608). Hinter dem Podium mit dem Wappen des Supreme Court der Vereinigten Staaten ist eine Grup­pe von Kindern aus den damaligen Konfliktregionen der Welt versam­melt, davon manche namenlos. „v.l.n.r.: Palästinenserkind (aus einem Flüchtlingslager, Waise), Äthiopierin, Maria Theresa Ponce-Rueda (Nicaragua), Rosine Gassackys (Rep. Kongo), Libanesischer Junge, Chilenischer Junge, Nguyen Anh Tho (Vietnam), Daniel Mampoya (Mischling, Dresden).“ (32) Obwohl der Künstler betont, dass es um ein irdisches Gericht gehe und dass es mit der christlichen Vorstellung vom Jüngsten Gericht nichts zu tun habe, sind die Bezüge offensichtlich. Ist es die Sehnsucht nach einem gerechten Gericht, wie sie auch Esther Maria Magnis beschreibt? Und gleichzeitig das Wissen, dass wir selbst das letztlich nicht sind: gerecht?

(3) Das häufigste Motiv ist das Kreuz. Ich greife dazu nur ein Beispiel heraus: Fritz Cremer, „Sich vom Kreuz Lösender“ (1983, http://www.imagebroker.com/search/result/details/id/ 865912). Die Plastik steht in der Mahnmalanlage in Buchenwald. Im Ausstellungs­kata­log heißt es dazu (von Andreas Beuchel): „Stellt Fritz Cremer damit die menschliche Emanzipation von religiösen Vorstellungen dar? Oder ist sein Sich vom Kreuz Lösender ein Plädoyer für die Überwindung des Leidens? […] Leiden und Tod, zeigt die Skulptur, bleiben Realität, so wie auch das Kreuz, das uns auf die seufzende Kreatur zurückweist. Den­noch hoffen die Christen auf die Auferstehung und ein Leben nach dem Tod und wirken an der Überwindung des Leidens mit. Denn der Glauben an die Auferstehung führt nicht aus der Welt heraus, sondern in das Leben hinein.“ (138)

Die wenigen ausgewählten Kunstwerke zeigen auf eindrückliche Weise, wie sich religiöse und säkulare Perspektiven ergänzen, mischen, inspi­rie­ren und befruchten. Sie stellen sich gegenseitig Motive zur Verfü­gung, lassen sie in neuen Kontexten erscheinen und fordern sich so wechselseitig heraus, das jeweils eigene zu hinterfragen, zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Wer sich auf die Bilder einlässt, kommt um einen produktiven Dialog nicht herum.

1.3. Kirchenleute und Konfessionslose im Gespräch

Im Gemeindekolleg der VELKD sammeln wir Erfahrungen in dem Be­reich, den der Erfurter katholische Theologe und Philosoph Eberhard Tiefensee „Ökumene der dritten Art“ nennt: den Dialog zwischen Kir­chenleuten und Konfessionslosen. Im vergangenen Jahr hatten wir eine Tagung zum Thema „Wo wohnt Gott in einer ausgeleuchteten Welt?“ Mit auf dem Podium war z.B. Axel Eger von der Thüringer Allgemeinen Zeitung, der präzise sagen kann, warum ihn Religion und Kirche inte­res­sieren, auch wenn er skeptisch und kein Kirchenmitglied ist. Religion ist für ihn u.a. deshalb interessant, weil sie die Grenzen menschlicher Sichtweisen übersteigt und Dimensionen erschließt, die allein rational-naturwissenschaftlich nicht zugänglich sind. Im Blick auf das DDR-Sys­tem sagt er: „Wir sollten immer eine Weltanschauung haben, ohne dass wir die Welt anschauen durften.“ Natürlich ist das zunächst auf die ein­geschränkte Reisefreiheit bezogen. Gleichzeitig spüre ich die Sehnsucht nach der Mehrdimensionalität von Welt und Kosmos. Mittlerweile ist Axel Eger an der Vorbereitung weiterer Projekte beteiligt. Dabei legt er Wert darauf, dass kein Christentum light angeboten wird, wie er sagt: „Wenn ich mitmache, will ich ja auch wissen, was Euch wichtig ist, und mich damit auseinandersetzen.“ Entscheidend wird sein, dass sich bei den Begegnungsformaten, die wir entwickeln, niemand zu etwas genö­tigt fühlt und dass zugleich spürbar wird, was das Christentum im Kern ausmacht.

2. Religion, Säkularität und Gottes Geheimnis

Nach drei exemplarischen Erkundungsgängen im religiös-säkularen Ge­lände (I.) frage ich nach Impulsen, Denkfiguren und Argumentations­linien, die die theologische Reflexion des Zusammenspiels von Religion und Säkularität voranbringen. Bei Religion sind wenigstens drei Dimen­sionen zu unterscheiden: Institutionalisierte Form von Religion; persön­lich angeeignete, religiöse Praxis (erworbene Fähigkeiten, konkrete Fer­tig­keiten); religiös-spirituelle Suche (was nicht bedeutet, dass für alle Menschen eine religiös-spirituelle Grundanlage vorausgesetzt werden muss). – Säkularität verstehe ich als Ergebnis der Säkularisierung, bei der ebenso verschiedene Dimension zu unterscheiden sind: Übergang kirch­licher Gebäude etc. in weltliche Herrschaft (seit 17. Jahrhundert); Pro­zess der Entkirchlichung, also des Rückgangs kirchlichen Einflusses in der Gesellschaft, spätestens seit der Aufklärung, mit besonderer Drama­tik und Breitenwirkung in den vergangenen Jahrzehnten. Entchristli­chung als Prozess der individuellen Loslösung vom christlichen Grund­konsens.

2.1. Das Recht des Atheismus und die dynamische Offenheit des Glaubens

Der tschechische Theologe Tomáš Halík, in Erfurt 1978 heimlich zum Priester geweiht und mittlerweile Berater des Päpstlichen Rates für den Dialog mit den Nichtglaubenden, entfaltet in seinem Buch „Geduld mit Gott“ in immer neuen Variationen, was es bedeutet und welchen Ge­winn Christen davon haben, wenn sie in die Perspektive von Atheisten, nicht-christlichen Gottsucherinnen, heutigen „Zachäus-Menschen“, wie er sie nennt, treten. Es geht darum, dass wir einander besser ver­stehen und fremde Perspektiven hinzugewinnen; weil wir sonst Gefahr laufen, einen Teil der Wirklichkeit zu übersehen, den es auch im Leben der Glaubenden gibt: den der Abwesenheit Gottes. Für Halík beschreibt der Atheismus einen Teil der Wirklichkeit, ist allerdings nicht zu Ende gedacht, weil er nicht damit rechnet, dass er nur vorübergehend Recht haben könnte. „Den Atheisten sage ich nicht, sie hätten Unrecht; ich sage nur, dass es ihnen an Geduld mangelt […].“ (15)

Umgekehrt dürfe das Christentum nicht hochmütig werden, denn die Wahrheit des Glaubens sei ja ebenfalls noch „‚nicht zu Ende gespro­chen[…]‘, weil sie in ihrem ureigenen Wesen dem Geheimnis gegenüber offen ist, einem Geheimnis, das sich in Fülle erst am Ende der Zeiten offenbaren soll“ (ebd.).

Im Gespräch mit Eberhard Tiefensee hat Jan Hermelink, Praktische Theo­loge in Göttingen, bei einer Tagung des Gemeindekollegs der VELKD die Herausforderung für die Kirche so zugespitzt: „Der Fremde, auch der religiös Indifferente [also nicht nur ausdrückliche Atheisten! RK] lässt sich […] als ein Werkzeug des Heiligen Geistes verstehen, der die missionarisch aufmerksame Kirche dazu nötigt, den Glauben ihrer­seits noch einmal anders zu durchdenken und zu artikulieren. Wird der Andere vor allem als defizitär begriffen, dann gerät diese seine Qualität einer heilsamen Verstörung tendenziell aus dem Blick.“ (Hermelink, Response, 25). Diese heilsame Verstörung ist es, die wir in der Kirche dringend brauchen; damit wir gemeinsam zu neuen Antworten auf elementare Fragen vordringen; damit wir entdecken, wie tragfähig manche Wurzeln aus der eigenen Tradition sind; damit uns andere auf Dinge aufmerksam machen, die in unserer eigenen Tradition weithin in Vergessenheit geraten sind. Das geschieht nicht nur im intellektuellen Diskurs, sondern auch in Begegnungen von eher kirchlichen und eher säkularen Menschen in Stadtteil-Cafés, Beratungsstellen, Diakoniekir­chen, Werkstattgottesdiensten etc. Das theologische Potenzial in der Begegnung unterschiedlich bedürftiger Menschen ist noch weitgehend unentdeckt. Vielleicht bräuchten wir analog einer Theologie der Kinder und Jugendlichen eine Theologie Armer und Bedürftiger, die Menschen nicht auf ihre Armut und Bedürftigkeit reduziert, sondern sie mit ihren Potenzialen würdigt und die Augen für eigene Armut und Bedürftigkeit öffnet.

Ich fasse die bisherigen Überlegungen thesenförmig zusammen: (1) Sä­kularität – also säkulare Weltsichten und damit verbundene Lebens­kom­petenzen (z.B. in der Kontingenzbewältigung) – hilft uns als Kirche, einen entscheidenden Teil der Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, den man Gefahr läuft zu übersehen, wenn man alltägliche und außer­ge­wöhnliche Lebens- und Glaubenserfahrungen ausschließlich aus der Pers­pektive überkommener religiöser bzw. spezifisch christlicher Deu­te­muster versteht. Man könnte auch sagen: Die säkulare Perspektive leistet, sofern sich Vertreter/-innen der Religion darauf einlassen, ihren Beitrag dazu, dass die Religion insgesamt und insbesondere das Chris­ten­tum nicht weltfern und religiös deformiert werden.

Grafisch kann das – in Anlehnung an das Werte- und Entwicklungs­quadrat von Paul Helwig und Friedemann Schulz von Thun – so darge­stellt werden (HELWIG, Charakterologie, 65-68). Dabei geht es nicht um die Stabilisierung eines dualen Gegenübers von Religion und Säkulari­tät, sondern um eine bipolare Wechselbeziehung zweiter Dimensionen, die sich gegenseitig benötigen und die in verschiedenen Biographien sehr unterschiedliche Kombinationen hervorbringen.

Oben in der Grafik stehen die beiden Pole gegenüber, die sich wechsel­seitig benötigen, um nicht in ihre Fehlformen abzugleiten. Unten ste­­hen die jeweiligen Fehlformen, die dann gehäuft aufzutreten drohen, wenn – auf der oberen Ebene in der Grafik – das jeweilige Korrektiv fehlt.

Das heißt, die eben formulierte These hat noch eine zweite Seite: (2) Die Religion hilft einer säkular geprägten Gesellschaft im Blick auf das, was diese sich selbst als Gesellschaft an Werten nicht geben kann und hält die Gottesfrage wach. Damit beugt sie einer Sakralisierung oder Verab­so­lu­tierung des Säkularen vor. Nur ein Beispiel aus den Erfahrungen im Bereich der „Ökumene der dritten Art“ im Gemeindekolleg: Henryk Goldberg, Kolumnist der Thüringer Allgemeinen Zeitung, bekennender Atheist und (Halb-)Jude, früheres SED-Mitglied mit kritischer Sympa­thie für die DDR-Vergangenheit, schreibt nicht nur hervorragende Bei­träge zu kirchlichen Festen im Jahreskreis, sondern auch scharfsinnige Artikel zu Gerechtigkeit, Dankbarkeit und Demut. Ich fragte ihn: „Wür­de es das alles – Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Demut – ohne jüdische und christliche Rede von Gott geben?“ Die Atmosphäre des Gesprächs er­laub­­te eine zugegeben freche Zuspitzung: „Warum ist die DDR nur 40 Jahre alt geworden, die Religionen dagegen gibt es seit Jahrtausenden?“ Seine Antwort lautete: „Der Vorteil der Religionen gegenüber dem DDR-Regime ist: Der Stiftungsgedanke ist gegenüber dem Missbrauch einzelner Vertreter (z.B. beim Kindesmissbrauch) stärker als er bei einer Ideologie sein kann.“

2.2. Vergessene Religionskritik und die Selbsterschließung Gottes

Der Religionsbegriff wird – ganz gleich, wie er im Einzelnen spezifiziert wird – in kirchlichen und theologischen Diskursen in der Regel selbst­verständlich und ohne kritische Reflexion auf das Christentum bezogen. Umgangssprachlich ist das plausibel und aus der Perspektive der Religi­onswissenschaften sachgemäß. Mich wundert, dass die innerkirchlichen und theologischen Diskussionen, soweit ich sehe, meistens ohne den Hinweis auskommen, dass es nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts bedeutende Einsprüche gegen eine unproblematisierte Sub­sum­mierung des Christentums unter Religion gegeben hat.

Auch wenn man der These Karl Barths nicht einfach zustimmen mag, der vor dem Hintergrund von Nazi-Deutschland einerseits Religion als Unglauben bezeichnet hat und davon die christliche Religion als „die wahre Religion“ unterschieden hat – sofern sie den bezeugt, der sich selbst zu erkennen gibt und die Sünder rechtfertigt (BARTH, Dogmatik, 324f. 356f, vgl. BARTH, Römerbrief, 211-253) – ist damit eine Unter­scheidung markiert, die nicht einfach übersehen werden sollte: die Unterscheidung zwischen Ausprägungen von Religion, die den Zugang zur Gottesfrage eher abdichten als öffnen, ganz gleich, ob in der Lehre oder in der Glaubenspraxis, und Ausprägungen von Religion, die Räume für Be­geg­nungen mit dem Gottesgeheimnis eröffnen. Diese Unterscheidung kann sowohl auf institutionalisierte Formen von Religion als auch auf persönlich angeeignete, religiöse Praxis bezogen werden. Wilfried Engemann spricht, um es nur an einem Beispiel deutlich zu machen, von „obturier­ter“, d.h. abgedichteter oder verstopfter Predigt, die Verstehens­prozesse seitens der Hörer/-innen blockiert und nicht fördert, die nicht anregt und nicht aufregt, die keine Assoziationen weckt und Weiterführungen auslöst und deshalb ein Gefühl von Langeweile verbreitet und zum Ab­schalten verleitet (ENGEMANN, Homiletik 107-135, 207-211). Er plä­diert dagegen für eine „ambiguitäre“, eine zweideutige Predigt, die vor allem durch eine bildhafte Sprache geprägt ist und zu eigenen Inter­pretationen einlädt (212). In diesen Kontext gehört auch Bonhoeffers Fragen nach der Religionslosigkeit des Christentums. Bonhoeffer, der sich ja auf Barth bezieht und über ihn hinausgeht, fragt bekanntlich, wie Christus vom „Gegenstand der Religion“ zum „Herrn der Welt“ wird (BONHOEFFER, Widerstand, 405).

Esther Maria Magnis ist nur ein aktuelles und eindrückliches Beispiel, wie aus der Suchbewegung eines Menschen auf einmal die Erfahrung wird, mit einer Macht zu tun zu haben, die nicht verfügbar ist, die je und dann aber mit umso größerer Wucht ins Leben tritt und auf ge­heimnisvolle Weise gerade in der Abwesenheit Gottes das Leben hält und den Glauben trägt. Das ist nicht identisch mit Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, aber besonders von Letzterem nicht weit entfernt. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt: Die beiden Pole von Religi­on und Säkularität fördern in ihrer wechselseitigen Beziehung und viel­fältigen Spiegelung alltäglicher Suchbewegungen und Reflexionen die Brechung der je eigenen Perspektive und die Offenheit für eine Wirk­lichkeit, die Reli­gi­on und Säkularität übersteigt und sich als Wahr­heit des Gottesgeheimnisses nur selbst erschließen kann.