Inhalt

Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis

Die V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft

1. Zur Konzeption der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen

Seit 1972 erhebt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gemein­sam mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Evan­ge­lischen Kirche in Hessen und Nassau im Abstand von jeweils zehn Jah­ren repräsentative Daten zur Zugehörigkeit zur (evangelischen) Kirche aus der Sicht Einzelner. Diese Erhebungen zur Kirchenmitglied­schaft (KMU) erfassen ebenso Einstellungen zu Religion und Gesell­schaft von Kirchenmitgliedern und seit 1992 auch von Konfessions­losen; eine ver­gleichbare Praxis kennt man in der katholischen Kirche in Deutschland nicht.

Um ein möglichst umfassendes, realistisches wie differenziertes Bild kirch­licher Wirklichkeit zu bieten und um zur praktischen Orientierung kirchlichen Handelns beitragen zu können, wurde das Untersuchungs­design stetig weiterentwickelt. Fester Bestandteil der Erhebung ist ein ausführlicher Fragebogen, der in einer repräsentativen Stichprobe ein­ge­setzt wird und dessen Kern seit 1972 nur wenig verändert wurde. Da­durch sind Zeitreihenvergleiche über einen langen Zeitraum möglich, so dass auch längerfristige Entwicklungen abgebildet werden können. Seit der dritten KMU wurde der standardisierte Fragebogen durch qua­litative Methoden ergänzt, nämlich Einzelinterviews (1992) und thema­tische Gruppendiskussionen (2002).

Auch in der jeweiligen thematischen Fokussierung spiegeln sich gesell­schaftliche und kirchliche Veränderungsprozesse. Die bisherigen Mit­gliedschaftserhebungen der EKD hießen: „Wie stabil ist die Kirche?“ (1972), „Was wird aus der Kirche?“ (1982), „Fremde Heimat Kirche“ (1992) und „Kirche – Horizont und Lebensrahmen“ (2002). Während die erste KMU im Zeichen der ersten Austrittswelle nach dem Zweiten Welt­krieg stand, wurde 1982 besonders nach der politischen Aufgabe der Kirche gefragt, wurde 1992 speziell die Differenz zwischen ost- und westdeutscher Kirchlichkeit bzw. Konfessionslosigkeit in den Blick ge­nommen und wurden 2002 vor allem die unterschiedlichen Weltsichten und Milieuprägungen der Mitglieder betrachtet.

2. Zum Profil der V. KMU

Die aktuelle, fünfte Untersuchung wird im Auftrag des Rates und unter Verantwortung des Kirchenamtes der EKD von einem Projektteam im Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD durchgeführt. Begleitet wird sie von einem interdisziplinären Beirat von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Theologie und Soziologie. Der Erhebungszeitraum war von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2012; in dieser Zeit führte TNS-Emnid eine Repräsentativbefragung unter insgesamt 3027 Perso­nen durch. Diese Befragung ist repräsentativ für Befragte ab 14 Jahren in Deutschland, die entweder einer evangelischen Landeskirche ange­hören (2016 Befragte) oder konfessionslos sind und früher Mitglied einer evangelischen Landeskirche waren (565 Befragte) oder konfes­sions­los sind und noch nie einer Religionsgemeinschaft angehört haben (446 Befragte). Erste Ergebnisse wurden Anfang März 2014 publiziert; in einer 132 Seiten umfassenden Broschüre werden in 18 Kapiteln ausge­wählte Ergebnisse vorgestellt, wobei das erste Kapitel eine grundsätz­liche Einleitung und Übersicht bietet und das letzte Kapitel erste Hand­lungsherausforderungen aus den Ergebnissen formuliert (im Folgenden genannte Seitenangaben beziehen sich auf diese Broschüre). Für Som­mer 2015 wird die ausführliche Publikation der Studie erwartet.

Der besondere Fokus der V. KMU liegt darauf, kirchliche Mitgliedschaft als eine bestimmte soziale Praxis zu verstehen: Religiöse und kirchliche Praxis wird daher besonders in den Dimensionen der Interaktivität und Beziehungshaftigkeit betrachtet. „Befragte werden so als eigenständige religiöse Subjekte und zugleich als Personen in einem vielfältigen Bezie­hungsgefüge verstanden“, in das ihre kirchliche Mitgliedschaftspraxis eingebettet ist (4f). Als ergänzendes methodisches Instrument wird die soziologische Netzwerkanalyse herangezogen, da die Perspektive des Netzwerks offen ist für unterschiedliche Beziehungs- und Kommunika­tionsformen und somit der „Wechselseitigkeit und Beziehungshaftigkeit religiöser und kirchlicher Praxis besonders adäquat Rechnung“ tragen kann (6). Summierend kann hierzu festgehalten werden: Die „Netzwer­ke existenzieller wie pragmatischer religiöser Kommunikation [sind] wesentlich stärker im privaten Nahbereich verortet, als bisher ange­nommen wurde“ (17).

Eine weitere Lebensstil- bzw. Milieutypologie wie in der IV. KMU wird in der aktuellen Studie nicht vorgelegt; stattdessen werden spezifische Dimensionen wie Traditionsorientierung, Bildungsaffinität oder Inte­resse an Geselligkeit analysiert, die verschiedene Lebensstile in beson­derer Weise unterscheiden. Hier lässt sich zusammenfassen: „Ein kirch­liches Selbstverständnis, das kirchliche Geselligkeit und ‚Gemeinschaft‘ im theologischen Sinn miteinander verkoppelt zur eigentlichen ange­mes­senen Form von Kirche, wird demnach von den Daten nicht ge­stützt. Diese zeigen vielmehr: Es wirkt dann faktisch eine Beschränkung auf gesellige Lebensstile“ (79).

3. Ausgewählte Ergebnisse

Die V. KMU weist einige interessante Ergebnisse auf, die zum einen nicht unbedingt überraschend sind, zum anderen aber in dieser Form auch nicht immer vorhersehbar waren und die, wie Ulrich Ruh es im aktuellen April-Heft der Herder Korrespondenz (171) treffend formu­liert, „sowohl Optimisten wie Pessimisten nachdenklich machen können“.

Spannung zwischen Engagement und Indifferenz

Ein erster zentraler Punkt, der sozusagen titelgebend für die Studie war, ist eine „Tendenz zur Polarisierung“ (12) hinsichtlich der Verbundenheit der Evangelischen zu ihrer Kirche. Vergleicht man die Daten seit 1992, so sind jeweils die Extrempositionen angestiegen, nämlich die Summe derer, die sich der evangelischen Kirche sehr bzw. ziemlich verbunden fühlen (sie liegt zurzeit bei 43 %), sowie derer, die sich ihr kaum oder überhaupt nicht verbunden fühlen (32 %). Die Mittelposition („etwas verbunden“) ist dagegen so gering vertreten wie seit 1992 noch nie (aktuell: 25 %, 1992: 33 %, 2002: 36 %; vgl. 87).

Feststellen lässt sich also, dass sich die Mitgliedschaftsverhältnisse der Protestanten über den Zeitverlauf in einem signifikanten Wandel befin­den und von einer Spannung zwischen Engagement und Indifferenz oder anders gewendet: zwischen Stabilität und Diffusion geprägt sind. Diese Spannungen verlaufen nicht nur zwischen unterschiedlichen Grup­pen von Kirchenmitgliedern, sondern durchziehen bisweilen auch die individuellen Haltungen. Zum einen ist z. B. Stabilität festzustellen bei der Bereitschaft der Kirchenmitglieder zur Inanspruchnahme der Kasualien wie Taufe oder Trauung (wobei der tatsächliche Vollzug deut­lich rückgängig ist); dabei sind Verschiebungen in der Motivation zu erkennen: „Waren in den vergangenen KMUs vor allem Traditions- und Konventionsorientierung als Kernmotive identifizierbar, so stehen in der V. KMU inhaltliche Gründe im Vordergrund“ (18). Zum anderen sind Tendenzen zur Diffusion zu konstatieren, v. a. hinsichtlich der sozialen Bedeutung von Religion im Lebensalltag Jugendlicher und junger Er­­wach­sener. Insgesamt ist von „einem sich in der Generationenfolge steigernden Relevanzverlust des Religiösen auszugehen“ (19).

Intensive Mitgliedschaftspraxis

Besonders betrachtet wird das Muster der intensiven Mitgliedschafts­praxis, das durch die drei Merkmale häufiger Gottesdienstbesuch (min­destens einmal im Monat), persönlicher Kontakt zu einem Pfarrer/Pfar­re­rin im Laufe des letzten Jahres und aktive Beteiligung am kirchlichen Leben außerhalb des Gottesdienstes definiert ist und dem 13 % der Evan­gelischen zuzurechnen sind. Die Analyse und Interpretation dieser intensiven Mitgliedschaftspraxis ist nun religionstheoretisch interes­sant: Es zeigt sich eine hohe Korrelation von intensiver Mitgliedschafts­praxis und Verbundenheit mit der Kirche (95 % fühlen sich der Kirche sehr oder ziemlich verbunden). Offensichtlich hat die kirchliche Praxis in dieser Korrelation die bestimmende Rolle, denn es gibt hohe Verbun­denheit ohne intensive Praxis, jedoch nicht umgekehrt (vgl. 44). Da kirchliche Praxis nicht nur mit einem entsprechenden kirchlichen Ver­bundenheitsgefühl, sondern auch mit der Selbstbeschreibung des eige­nen Glaubens eng korreliert, ist die gängige These der religiösen Indivi­dualisierung (zunehmendes Auseinandertreten von Kirchlichkeit und Religiosität/Christlichkeit) deutlich differenzierter zu formulieren: „In­sti­tutionelle und individuelle Dimension der Religiosität sind zwar durchaus zu unterscheiden, weisen jedoch zugleich einen hohen Korre­lationsgrad auf. Kirchlichkeit und Religiosität fallen keineswegs zusam­men, stehen aber sehr wohl in einem Zusammenhang. Wer seine Kir­chenmitgliedschaft intensiv praktiziert und sich mit der Kirche sehr verbunden weiß, bekennt sich auch zu einem Glauben an Gott, wie er sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“ (45).

Religiöse Vielfalt

Anfragen an die These der religiösen Individualisierung ergeben sich auch aus der Analyse dessen, wie die Befragten religiöse Vielfalt wahr­nehmen. Hier wird unterschieden zwischen der Einschätzung einer zunehmenden religiösen Pluralisierung in der Gesellschaft („äußere Vielfalt“) und der Selbsteinschätzung der eigenen Frömmigkeit als „religiös vielfältig“ („innere Vielfalt“). Der zunehmenden religiösen Pluralisierung in der Gesellschaft stehen die Evangelischen überwie­gend aufgeschlossen gegenüber (das entscheidende Kriterium bildet dabei die Loyalität zur säkularen Verfassung), jedoch sehen vergleichs­weise viele (35 % der Evangelischen, 43 % der Konfessionslosen) die Gleichberechtigung aller Religionsgemeinschaften kritisch. Überra­schenderweise gilt, dass, wer „in einem religiös pluralen Wohnumfeld lebt, … sich deutlich weniger für eine Gleichberechtigung der religiösen Gruppen [ausspricht] als jemand, der in einem konfessionell homoge­nen Umfeld lebt“ (40).

Besonders die Untersuchung der inneren Vielfalt der eigenen Religiosi­tät läuft der These der religiösen Individualisierung als Auseinandertre­ten von Kirchlichkeit und Religiosität zuwider. Es lässt sich zusammen­fas­sen, dass „außerkirchliche Religiositätsformen und dogmatisch nicht approbierte Glaubensvorstellungen [z. B. Glaube an den Einfluss von Amuletten oder Kristallen, der Sterne oder an Engel und gute Geister] … innerhalb der Kirche wahrscheinlicher als außerhalb“ sind (42). Gleich­zei­tig verneint die große Mehrheit der Evangelischen, religiös auf der Suche zu sein: Nur 14 % der Evangelischen und sogar nur 3 % der Kon­fessionslosen geben an, dass dies für sie voll bzw. eher zutrifft. „Mögli­che Erwartungen an eine gewisse religiöse Experimentierfreudigkeit oder gar an so etwas wie eine weit verbreitete religiöse Sehnsucht wer­den durch das Antwortverhalten der Befragten … nachhaltig gedämpft“ (41). Martin Laube und Detlef Pollack schlussfolgern: „Die innere Viel­falt der Religiosität ist auf eine merkwürdige Weise um die Kirche her­um gruppiert. Believing without belonging? Frei flottierende Religiosi­tät jenseits der Kirchenmauern? – Beliebtes Stichwort der Vergangen­heit. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass die Kirche vor allem außerhalb ihrer selbst lebt“ (ebd.).

Religiöse Indifferenz

Blickt man speziell auf die Gruppe der Jugendlichen und die der Kon­fes­sionslosen, so lassen sich „durchaus gravierende Veränderungen in der künftigen religiösen Landschaft der Bundesrepublik erahnen“ (10). Denn die jüngeren Generationen zeigen die geringste Verbundenheit mit der Kirche und die stärkste Austrittsneigung; dabei fallen die Zah­len für Ostdeutschland weniger hoch aus, was vermutlich als eine Art Kondensierungseffekt infolge des im Sozialismus forcierten Schrump­fungsprozesses zu interpretieren ist: Die ostdeutschen Mitglieder im Jugendalter stellen bereits eine ausgesiebte Minderheit dar und besit­zen aus einer Diasporasituation heraus eine dichtere Sozialisationsein­bettung. Insgesamt aber zeigt der Generationenvergleich nicht nur eine zunehmende Distanz zur Institution Kirche, sondern auch einen sozia­len Bedeutungsverlust von christlicher Religiosität überhaupt: Die ju­gend­lichen Kirchenmitglieder im Alter von 14 bis 21 Jahren stimmen z. B. am wenigsten der Aussage zu, sich für einen religiösen Menschen zu halten (im Westen 42 % bei einem Durchschnitt von 66 %, im Osten 46 % bei einem Durchschnitt von 71 %; vgl. 62); ebenso geben Jugend­liche dieser Altersgruppe am häufigsten an, nie zu beten (im Westen 74 % bei einem Durchschnitt von 49 %, im Osten 61 % bei einem Durchschnitt von 43 %; vgl. 66). Insgesamt muss man hinsichtlich der Jugendlichen von einer „Stabilität des Abbruchs“ (63) sprechen, die vor allem „in der abnehmenden Breitenwirkung der religiösen Sozialisation [begründet ist]: Je jünger die Befragten sind, umso seltener geben sie an, religiös erzogen worden zu sein“ (10). Gert Pickel resümiert: „Vor diesem Hintergrund muss sich die evangelische Kirche die Frage stellen, wie sie vermeiden kann, eine ‚Seniorenkirche‘ statt einer ‚Volkskirche‘ zu werden“ (72) – und diese Frage gilt ohne Abstriche genauso für die katholische Kirche.

Religiöse Indifferenz ist nun nicht nur bei Jugendlichen und jungen Er­wachsenen stärker ausgeprägt als in der Gesamtbevölkerung, sondern auch unter den Konfessionslosen das typische Merkmal. In der V. KMU wird religiöse Indifferenz deutlicher als früher als Ursache von Konfes­sionslosigkeit sichtbar; „Kirchensteuer“ als Austrittsgrund wird zwar immer noch häufig genannt, fällt aber anders als noch in der IV. KMU hinter andere Gründe zurück und wird erst an sechster Stelle genannt. Konfessionslose sind also in aller Regel keine rückgewinnbaren, kirchen­distanzierten religiösen Individualisten, sondern „überzeugte Religi­onslose“. Dieser Befund kann unterschiedlich gedeutet werden: „Zum einen ist die beobachtbare Gleichgültigkeit Religion gegenüber mögli­cherweise schwerer für Kirchen zu bearbeiten als eine pointierte Geg­nerschaft. Zum anderen kann sie aber auch als Chance gedeutet werden. So haben die meisten Konfessionslosen, speziell im Osten, eigentlich nichts gegen Religion und wenig gegen die Kirchen. Damit entfallen Berührungsängste“ (83). Dennoch darf man sich keine Illusionen machen: „Konfessionslosigkeit ist mittlerweile mindestens genauso normal wie Kirchenmitglied zu sein – wenn nicht ‚normaler‘“ (ebd.).

Religiöses Sozialkapital

Die Ergebnisse der V. KMU weisen auch auf die Leistungen hin, die die evangelische Kirche und ihre Mitglieder für die Gesellschaft und ihren Zusammenhalt erbringen. Sie schafft einen beträchtlichen Fundus an religiösem und gesellschaftlichem Sozialkapital, der sich in ehrenamt­lichem Engagement, aber auch in der Ausbildung interpersonalen Ver­trauens niederschlägt: Ein Fünftel der deutschen Protestanten beteiligt sich aktiv an kirchlichen oder religiösen Sozialgruppen, und auch in nichtkirchlichen Gruppen und Vereinen engagieren sie sich häufiger als Konfessionslose. Zudem geben die evangelischen Christen ein über­durchschnittliches Vertrauen in andere Menschen an – während 50 % der Protestanten dem Satz „Man kann den meisten Menschen vertrau­en“ zustimmen, sind es bei den Konfessionslosen 30 % (vgl. 109). Dieses Vertrauen beschränkt sich nicht nur auf die Angehörigen der eigenen Religion, sondern erstreckt sich, in allerdings geringerem Maße, auch auf andere Religionen. Überdies besteht eine hohe Korrelation zwischen sozialem Vertrauen und Engagement. Die evangelische Kirche trägt somit in mehrfacher Hinsicht wesentlich zum Zusammenhalt in der Gesellschaft bei.

4. Zur Einschätzung der Ergebnisse

Die V. KMU zeichnet ein komplexes, vielschichtiges und spannungsrei­­ches Bild der Kirchenmitgliedschaft. Zwei Grundlinien in der Einordung der Gesamtergebnisse sind zu markieren: zum einen die Potenziale der evangelischen Kirche (hohe Wertschätzung der Kasualien, ausgeprägtes Vertrauen in die Diakonie, hohes Maß an Sozialkapital), zum anderen die in vieler Hinsicht erkennbaren Abschmelzungsprozesse. „Die daraus abzuleitenden Prognosen bieten keinen Anlass zu kirchlicher Selbst­be­ru­higung“ (20). Es stellt sich daher die Frage, ob der beständige quanti­tative Verlust in eine andere Qualität umschlägt, „ab welchem Punkt also das Konzept einer volkskirchlich-flächendeckenden Prägung der bundesdeutschen Gesellschaft zu überdenken ist“ (19).

Deutlich wird, dass die These der religiösen Individualisierung, die von einem freien, kirchendistanzierten Christentum ausgeht, zunehmend weniger durch die Daten bestätigt wird. Die eigentliche Herausfor­de­rung stellt das Phänomen der religiösen Indifferenz dar: Als faktisches Nicht-Verhältnis meint sie kein zwiespältiges oder mehrdeutiges Ver­hältnis, sondern überhaupt keine Beziehung zu Religion und Kirche. Dies eröffnet eine völlig neue Grundsituation für die Kommunikation des Evangeliums (vgl. 132).

Die Ergebnisse der V. KMU lassen sich wahrscheinlich nicht ohne weite­res 1:1 auf die katholische Kirche übertragen; es dürfte von der ein oder anderen Akzentverschiebung, gerade im Hinblick auf unterschiedliche ekklesiologische Traditionen, auszugehen sein. Doch die grundlegenden Herausforderungen gelten in wohl weitgehender Parallelität auch für die katholische Kirche. Um auch von katholischer Kirchenmitgliedschaft ein realistisches und differenziertes Bild zu erhalten, aus dem empirisch informierte und theologisch klare Handlungsstrategien entwickelt wer­den könnten, wären vergleichbare regelmäßige Erhebungen auch auf katholischer Seite ein dringendes Desiderat.

Tobias Kläden