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Lebenswege

Wandern und Spiritualität aus praktisch-theologischer Sicht

Maria Widl reflektiert die Erfahrungen des Wanderns im Sinne einer Pastoral des Weges, die sich von einer sesshaften Gemeindlichkeit absetzt. Wandern und Pilgern ermöglichen spirituelle Erfahrungen, die von den Religionen kultiviert und auf dem Hintergrund des Glaubens gedeutet werden.

Wandern ist ein menschheitsaltes und vielschichtiges Phänomen. Menschen haben sich schon immer gehend fortbewegt; auf alltäglich kurzen oder auch längeren Strecken. Und darüber hinaus, um den alltäglichen Lebensraum zu verlassen und neue Erfahrungen zu machen. Die Walz brachte junge Männer nach der grundlegenden Berufsausbildung im eigenen Betrieb oder Dorf in die „weite Welt hinaus“ – wie es das Lied bis heute besingt. Der „fahrende Gesell“ war jener, der anderswo neue „Er-fahrungen“ machen konnte, um schließlich vielleicht als Meister seines Faches nach Hause zurückzukehren, zumindest aber reif zur Familiengründung zu sein. Denn er hatte Eigenverantwortung gelernt und war fähig, mit seiner Hände Arbeit eine Familie zu ernähren.

Heute ist es Mode geworden, einen Schrittzähler am Handgelenk zu tragen, der auch weitere Infos zu eigenen Gesundheitsparametern zur Verfügung stellt. Die angeblich 10.000 Schritte, die für die persönliche Gesunderhaltung als tägliches Bewegungspensum nötig sind, können so nebenher überwacht werden. Und ermutigen vielleicht noch zu einem Abendspaziergang, wenn man feststellt, heute zu viel gesessen und zu wenig gegangen zu sein. Das Wandern jedoch ist etwas Anderes. Es meint nicht die alltägliche Bewegung, sondern die besonders geplante, längere am Stück, die einen außerhalb des Alltäglichen Erfahrungen machen lässt, die auf den Alltag zurückwirken und ihn bereichern. Beobachten und überlegen wir, was das näherhin bedeuten kann.

Tageswanderung mit Freunden – existentiell-phänomenologisch reflektiert

Schon Wochen im Voraus hatten wir einen gemeinsamen Termin festgelegt, zu dem wir eine kleine Wanderung unternehmen wollten. Sie sollte so klein und einfach sein, dass auch die Konditionsschwächeren sie gut bewältigen. Zugleich sollte sie mit wenig Fahraufwand erreichbar sein, aber in eine Gegend führen, die zumindest einigen nicht altbekannt war. Im Laufe der Zeit wurden verschiedenste Vorschläge gemacht, diskutiert, verworfen, modifiziert. Schließlich wurden Zeit- und Ausgangspunkt festgelegt, Möglichkeiten zum Mittagessen recherchiert und noch der Wetterbericht eingeholt. Die nötige Kleidung, das Schuhwerk und die Getränkemitnahme wurden ebenso geregelt wie die Frage, wer alles einen Rucksack mitnimmt, ob wir Regenkleidung benötigen, wer Sonnenbrille und -creme einsteckt.

  • Eine gemeinsame Wanderung braucht Vorbereitung und Absprachen. Zudem trägt sie der Tatsache Rechnung, dass sowohl die körperlichen Fähigkeiten wie das Wissen um nötige Ausrüstung und ihr Vorhandensein unterschiedlich sind. Wir lernen und üben ein, uns als verschieden wahrzunehmen; mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen. Jede:r trägt bei, was er* hat und kann. Und wer weniger hat und kann, ist dankbar, dass durch die diesbezüglich Bessergestellten auch ihnen möglich wird, was sie selbst nicht bewerkstelligen könnten. Der schöne gemeinsame Tag wird reicher Lohn für alle sein. Alles was dem im Weg stehen könnte, wird möglichst vorsorglich bedacht und ausgeräumt.

Der Tag ist da, Wetter und Stimmung sind gut, man trifft sich zum vereinbarten Zeitpunkt und es kann losgehen. Noch eine kurze Abstimmung darüber, wie der Weg verläuft und welcher Markierung man folgt, dann setzen wir uns paarweise in Bewegung. Einige haben sich schon länger nicht gesehen, wir tauschen Neuigkeiten aus, erzählen, was uns gerade bewegt. Dazwischen halten wir immer wieder inne, genießen die kühle Waldesstimmung, erfreuen uns an Sonne und Vogelgezwitscher, am Grün der Wiesen und an den Blumen am Wegesrand, an schönen Ausblicken und an flachen Passagen nach kurzen steileren Anstiegen. Immer wieder halten wir kurze Pausen, um etwas zu trinken und auf die anderen zu warten. Es wird erzählt, welche früheren Erlebnisse mit dieser Gegend verbunden sind; und was einem ganz neu und fremd ist.

  • Erzählen bringt uns zueinander und zu uns selbst. Indem ich erzähle, werden vergangene Eindrücke, Erlebnisse und Begebenheiten neu ausgesprochen, eingeordnet, bewertet. Indem ich zuhöre, nachfrage, kommentiere, fühle ich mich in meine:n Gesprächspartner:in ein. Zugleich schwingen ähnliche eigene Erfahrungen mit, werden dazugestellt oder bloß innerlich neu bearbeitet. Im Reden finde ich jenen Gehrhythmus, der meiner Atmung angemessen ist. Das kurze Schweigen, um nachzusinnen, oder die etwas längere Unterbrechung, wenn der Anstieg steiler wird und die Puste auszugehen droht, geben auch dem Gespräch seinen angemessenen Rhythmus und seine organischen Wendungen. Die Schritte am Waldboden und auf der Schotterstraße erden mich, sorgen für achtsamen wie festen Tritt. Der Rhythmus des Gehens hilft neben der psychischen Entspannung durch die Gespräche auch der körperlichen Entspannung. Jeder Schritt geht durch den ganzen Körper, dieser richtet sich auf und findet zugleich in eine angemessene Grundspannung. Ich bin ganz bei mir, und ganz bei meiner Freundin; und zugleich erfahre ich mich eingefügt in die schöne Natur rundum.

Wir sind zu früh am Etappenziel, um bereits essen zu gehen. Wir könnten noch einen Abstecher zu einer aufgelassenen Alm machen. Der Weg zieht sich lähmend langweilig bergab; und danach müssten wir denselben auch wieder bergauf zurückgehen. Erster Unmut macht sich breit: doch lieber gleich zur Hütte und dort noch etwas sitzen und plaudern. Es kommt anders: Die im Internet als geöffnet angegebene Gaststätte ist bereits seit zwei Jahren geschlossen, wie uns ein vorbeikommender Radfahrer aufklärt. Wenn wir noch eine Stunde weitergehen, erreichen wir eine andere Gaststätte, die jedenfalls noch betrieben wird. Es ist noch früh und wir haben ausreichend Kraft; also weiter. Andere Gesprächskonstellationen finden sich, neue Themen tauchen auf, kleine Bedürfnisse am Wegesrand sorgen immer wieder für Zwischenstopps, es läuft nicht mehr so rund. Langsam ist immer wieder vom Mittagsziel und der mit Freude erwarteten Essens- und Verschnaufpause die Rede. Wie weit ist es noch? Kann man schon sehen, wo wir hinwollen? Ist da noch ein Anstieg zu meistern? Da ist schon die Straße, 200 m noch, sagt der Hinweispfeil. Endlich da. Die Stühle sind zusammengestellt, die Sonnenschirme eingeklappt: Betriebsurlaub. Wir sitzen an der Bushaltestelle, der nächste kommt in 1 ¾ Stunden. Trinken, verschnaufen, Karten studieren, recherchieren, Vorschläge machen. Hungrig, müde. Was nun?

  • Es geht nicht alles glatt; der Rhythmus geht verloren, es läuft nicht mehr rund. Nun geht es nicht mehr nach Plan, neue Orientierung muss gefunden, Kommunikation nach außen aufgebaut, fremde Kompetenz genutzt werden. Der Schwung des zweiten Aufbruchs erlahmt aber bald, es wird zäher und mühsamer und die Sehnsucht nach Labung und Erholung steigt. Und dann die große Enttäuschung: wieder nichts. Wird es zu Konflikten kommen? Oder sind Solidarität und Verantwortung füreinander und das gemeinsame Projekt stärker? Wer kann Erfahrungen, Ideen und Fähigkeiten einbringen, die weiterhelfen? Wie geht es den Schwächeren und was können und wollen sie sich noch zutrauen? Wie viel Pause ist hilfreich, um sich zu erholen, aber nicht vollends die nötige Grundspannung zu verlieren, um überhaupt noch weitermachen zu können und zu wollen?

Wir teilen schließlich Schokoriegel und beschließen einen neuen Weg ins Tal und zu einer Pizzeria, die telefonisch versichert, geöffnet zu haben. Noch eine gute Stunde, bergab. Wir bleiben nun mehr beisammen, um uns nicht zu verlaufen, die Wegsuche ist schwieriger, das Gelände unwegsamer, der Weg teils nicht mehr so gut. Die Gespräche weichen einzelnen Sätzen, die die unmittelbaren Wegerfahrungen bekunden: Das trockene Heu am steilen Hang rutscht: Bergbauernlage. Ganz unten am Wiesenrand ein dicker alter Baum mit der gesuchten, schon verblichenen Markierung. Endlich die Forststraße, wo es wieder leichter vorangeht. Dann endlich die Ortstafel, wo die Pizzeria sein soll. Leider wieder nicht: Hinweisschild – nochmals 30 Minuten. Alle bringen ihre ganze Disziplin auf, damit die Stimmung nicht kippt. Beinahe demonstrativ erfreuen wir uns am schönen Wiesenweg und an einem stimmungsvollen Bachlauf mit kleiner Holzbrücke, wo wir noch schnell ein paar Fotos zur Erinnerung machen. Dann endlich die Erlösung: Pizzeria, heute samstags auch noch nach 14 Uhr geöffnet, schöner Gastgarten, Toilette, Trinken, Essen, Verschnaufen.

  • Woher kommt die Hoffnung bei Rückschlägen und Niederlagen? Wie halten wir gemeinsam durch? Neue Pläne, die für alle realistisch scheinen, geben neuen Mut. Aber alles ist schwieriger geworden, es braucht nun nicht nur die Lust am gemeinsamen Projekt, sondern die Suche nach weiteren und restlichen Ressourcen, den Mut, nochmals aufzubrechen, zumal ins Ungewisse, die Disziplin, durchzuhalten, obwohl es mühsam geworden ist, Strategien, sich gemeinsam bei Laune zu halten, die Perspektive auf „Erlösung“. Schließlich wird ein Etappenziel erreicht, das nicht geplant war, sich aber als passend erweist. Die Stimmung steigt wieder.

Mit der Sättigung kommt die Müdigkeit deutlicher durch. Wir beginnen vom Ende her zu denken. Wie weit haben wir noch zurück? Wie anstrengend wird der Weg? Wie realistisch sind die Ansagen derer, die ihn zumindest weitgehend kennen? Wie umgehen mit den schlechten Erfahrungen von früher: Nachdem es beim Radfahren hieß, jetzt gehe es nur noch bergab, zwangen weitere vier Gegensteigungen die Schwächeren, abzusteigen und zu schieben. Wir queren einen Eventpark und erfahren einiges über neue Moden der Naturnutzung: ökologisch kritisch, die Wanderer vermissen die Ruhe. Die Gesprächsthemen drehen sich um Politik und Gesellschaftskritik, um persönliche Schwierigkeiten im Beruf, um Krisen und Todesfälle in der Familie. Dann ist es nicht mehr weit, da vorne sind wir am Ziel, es ist spät geworden, aber wir haben es geschafft. Schön war es.

  • Vom Ende her denken. Krisen, Kritik und Tod thematisieren. Die Gespräche des Anfangs waren von Freuden, Neuigkeiten und Erfolgen geprägt. Jetzt kommen die Kontingenzen in den Blick: all das, was uns ratlos und ohnmächtig macht, uns sehr fordert, ohne dass Lösungen in Sicht wären, uns Grenzen aufzeigt, an deren wir scheitern können. Nebeneinander gehen und in dieselbe Richtung schauen macht es leichter, sich mit Schwierigem anzuvertrauen, als würde man sich gegenübersitzend ansehen. Das Vertrauen zueinander ist so tief, dass all dies zur Sprache kommen kann. Es wird die Hörenden nicht überfordern. Und die Erzählenden brauchen nicht zu fürchten, dass sie als Versager dastehen. Oder dass weitererzählt würde, was nicht für andere bestimmt war. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Wir fahren heim, in verschiedene Richtungen. Keine Zeit mehr für einen abschließenden Kaffee. Wer hat den Kurs getrackt und kann Kilometerleistung und Höhenmeter übermitteln? Schickst du mir die Fotos bitte? Grüße an deine Frau, hoffentlich muss sie beim nächsten Mal nicht arbeiten und kann dabei sein.

  • Bilanzen, Abschied, Rückkehr in den Alltag. Was morgens begann, kommt abends an sein Ende. Ein neuer Abschnitt beginnt und ist auch schon im Blick. Das Erlebte will abgeschlossen und bilanziert werden. Zugleich ist es damit nicht einfach zu Ende und vorbei: Es bleiben Erinnerungen, durch Fotos symbolisiert. Manche Gespräche gehen mir noch nach. Manche Erfahrungen kann ich neu ein- und zuordnen oder auch befriedet weglegen. Die Freundschaften sind reicher und tiefer geworden. Ich auch. Es wartet ein neuer Tag. Was wird er bringen?

Pastoral des Weges

Die beispielhafte Wandererfahrung adressiert vieles, was allgemein menschlich ist: die Erfahrungen von Tempo, Rhythmus, Atmung, Bewegung, Erdung, Energie, Ästhetik; Beziehung, Freundschaft, Erzählen und Hören, Alltägliches und Bedeutsames, Höhen und Tiefen, Krisen und Hoffnungen, Kontingenz- und Erlösungserfahrungen. Zugleich spiegelt sich darin ein Prozess, wie er sich nicht nur periodisch, sondern insgesamt durch das Leben spannt. Als junger Mensch stehen Aufbrüche im Mittelpunkt und idealerweise Erfahrungen, schrittweise gut voranzukommen, seine Kraft zu spüren, Erfolge zu feiern, sich auf gelungene Weise mit anderen zusammentun zu können. Spätestens im Erwachsenwerden zeigt sich das Leben differenzierter, erste Schwierigkeiten werden sichtbar, die einem keiner mehr so einfach abnehmen kann, es gilt, mit Hindernissen, Fehlschlägen und Müdigkeit umzugehen, die menschlichen Beziehungen zeigen sich komplexer und fragiler, verschiedene Interessen und Potentiale werden deutlicher erfahren. In der Midlife-Krisis mag sich zeigen, dass man andere Ziele erreicht hat als geplant, dass man sich neu orientieren muss, dass klug abgewogen werden muss, wofür Kräfte und Motivation reichen und mit wem gemeinsam das alles möglich sein kann. Disziplin und Durchhaltevermögen überragen die Erfahrungen von Lust und Leichtigkeit im Tun. Die Quellen von Orientierung und Hoffnung und die Beziehungsqualitäten im Miteinander erfahren neue Bedeutung. Im Pensionsalter oder wenn die Kinder aus dem Haus sind ist das zuerst eine Erlösung von vielen Belastungen. Und dann fallen manche in ein tiefes Loch; es tritt Ruhe ein und die Spannung zur Lebensgestaltung scheint plötzlich verschwunden. Es gilt neu aufzubrechen, durchaus mit Blick auf Krisen, Konflikte und Todeserfahrungen. So manches beginnt man vom Ende her zu denken: Kann ich mir das noch zutrauen? Macht es Sinn, damit noch zu beginnen? Was von dem, was mich lang begleitet hat, muss ich zurücklassen oder abschließen? Welcher Abschied hat einen neuen Tag vor sich?

Diese Skizze einzelner Aspekte eines Lebensweges lässt zumindest erahnen, wieso die Rede vom „Lebensweg“ einen Sinn macht. Es wundert nicht, dass das Weg-Motiv biblisch wie pastoral zentrale Bedeutung hat. Wir finden das Jesus-Wort: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Vor diesem Erfahrungshintergrund können wir erschließen: Unser ganzer Lebensweg ist von Gott getragen, der selbst Mensch geworden ist und unsere Höhen und Tiefen, Freuden und Ängste, Stärken und Schwächen kennt und selbst durchlebt hat. Er ist das Leben, und insofern gehören wir Ihm. Das Leben gehört uns also nicht. Was uns geschenkt ist, ist die Zeit – solang sie uns geschenkt ist, sind wir frei, sie nach unseren Möglichkeiten zu gestalten. Wir haben sogar die Macht, es gewaltsam zu beenden – jedenfalls den irdischen Teil unseres Lebenslaufs. Wir haben aber nicht die Macht, auch nur eine Sekunde hinzuzufügen: Gott ist der Herr des Lebens, auch unseres, das wir als unser eigenes ansehen. Im Rahmen der uns geschenkten Zeiten und Möglichkeiten gehen wir unseren Weg und suchen unser Glück. Es liegt weniger in dem, was wir erfahren, was wir haben oder tun können. Es liegt zutiefst darin, es in existentieller Wahrheit zu gestalten, uns nicht zu belügen über unsere Macht, unser Können, unseren Status, unsere Erfolge, unsere Genussmecha­nismen. In guten wie in schweren Zeiten ehrlich bei sich zu sein, nicht vor den Anforderungen zu flüchten in Arbeit, Vergnügen, Süchte oder Bequemlichkeiten – diese Wahrheit entscheidet letztlich über unser Glück und unsere Lebensqualität.

Im Alltag verschwinden all diese Aspekte leicht im Hamsterrad der Anforderungen und im Getöse kultureller Normalitäten. So haben Menschen immer schon Auszeiten gesucht, um sich wieder auf das Leben zu besinnen und zugleich neue Erfahrungen zu machen, die sie bereichert in den Alltag zurückkehren lassen und in diesem zumindest für eine Weile ein Hintergrundleuchten einer anderen Welt hinterlassen. Europa ist durchzogen von alten Pilgerwegen, großen und auch sehr lokalen, und damit von Pilgerzielen. Diese Wallfahrtsorte, meist an der Gottesmutter oder den Heiligen orientiert, symbolisieren in ihnen, dass Leben trotz aller Schwierigkeiten, Schwachheit und Umwege letztlich gelingen und in das ewige Heil führen kann. Wer sich auf den Weg macht, sie zu erreichen, lässt den Alltag, seine Belastungen, aber auch seine Bequemlichkeiten zurück und begibt sich auf einen Weg, der Erfahrungen und Überraschungen bereithält, mich öfter auch an meine Grenzen bringt, mich Menschen begegnen lässt, die mit ihren Erfahrungen für mich bedeutsam werden sollen. Vor allem aber erdet mich das Gehen, setzt mich in den einfachen Rhythmus der Atmung und in die Langsamkeit des Vorankommens. Zugleich kann ich unglaublich scheinende Distanzen aus eigener Kraft zurücklegen. Ich kann dabei meinen Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen nicht entkommen, bin ganz auf mich selbst und auf meinen Gott zurückgeworfen – oder erahne, dass Er mir nahe ist.

Dieser reiche Erfahrungsschatz des Pilgerns, der gerade heute, wo die Kirchlichkeit in unseren Breiten deutlich schwindet, ganz neue Konjunktur erfährt – dieser reiche Erfahrungsschatz hat das Konzil dazu motiviert, in der biblischen Tradition die Kirche wieder neu von diesem Unterwegssein, von diesem gemeinsamen Pilgern her zu verstehen. Die Kirche als „Haus voll Glorie“, als himmlisches Jerusalem, die zur Vollendung gelangt ist, von oben auf die Ebenen des Menschlichen herabblickt und alle an sich ziehen will – dieses Kirchenbild tritt zurück. Neu betont wird die Kirche als „das Volk Gott auf dem Weg“, pilgernd, mit allen Stärken und Schwächen, gemeinsam auf Augenhöhe, in einem langen Zug durch die Welt und die Geschichte, mit Vorreitern und Nachzüglern, mit Anführern und Mitläufern, mit denen, die neue Wege suchen, und denen, die gern in die Fußstapfen anderer treten.

Diese Wegerfahrungen verändern auch die Pastoral. Die sesshafte Gemeindlichkeit, dialogisch und gremial, liturgisch und gesellig, ist für viele nicht mehr der Ort, den sie aufsuchen. Neu gesucht und gefunden werden die persönliche geistliche Begleitung, der selbst organisierte und persönlich passende Pilgerweg und die individuell passende ästhetische wie funktionale Gestaltung von Wegen, Rastorten, geistlichen Impulsen und Gesprächsmöglichkeiten. Kirchliche wie touristische Träger arbeiten daran, den Menschen das anzubieten, was sie letztlich für sich als Gewinn finden können. Das ist nicht trivial. Kirche steht in der Versuchung, solche Prozesse zu vereinnahmen und die beteiligten Menschen einfach in die eigenen Gemeinderoutinen einfügen zu wollen. Das führt jedoch meist ins Gegenteil, nämlich in Abwehr und Flucht. Man weiß ja, warum man sich von der heimischen Gemeindlichkeit eben nicht angezogen oder zumindest nicht umfassend wahr- und ernstgenommen erfährt. Ähnliches geschieht dort, wo – bedingt durch die kirchliche Tradition von Pilgerwegen und ihren Gnadenorten – die neuen Pilgerbewegungen kirchlich überformt werden. Menschen, die aufgebrochen sind, um zu sich selbst zu finden, stoßen dann gefühlt immer und überall doch wieder auf den „kirchlichen Stallgeruch“, der in all seiner Qualität eben auch vieles gewohn­heits­mäßig enthält, was Menschen auf der spirituellen Suche einfach nicht mehr hören können und sehen wollen. Hier demütig und zurückhaltend Erschließungshilfen für die eigene wie die kirchliche Erfahrungswelt anzubieten, wo und wie sie gebraucht werden, ist eine große Herausforderung. Denn sie nötigt die, die sich in den kirchlichen Routinen und Traditionen wohlfühlen, diese mit den Augen der anderen neu und kritisch zu betrachten und zu hinterfragen; und dabei vielleicht manch Liebgewonnenes zu verlieren oder Relevanzen neu suchen zu müssen.

Die Ziele des Pilgerns waren klassisch „Gnadenorte“, also Orte, wo in Begegnung mit dem Heiligen sich Himmel und Erde berühren und die existentiell geerdete Menschen in diese Erfahrung einbeziehen. Klassische Motive waren Buße, Danksagung, Verehrung, Heiligung. Heute wenden sich diese zur Versöhnung mit sich selbst und der eigenen Geschichte, zur Dankbarkeit für das eigene Leben, wie es sich konkret darstellt, dazu, meine eigene Mitte zu finden und darin Gott als meinen Schöpfer und Lebenserhalter zu ehren und dabei eine Sammlung zu finden, die in eine Art ehrfürchtiges Staunen gegenüber allem führt. Diese Erfahrungspalette stand früher eindeutig im Zeichen des kirchlich durchdrungenen Glaubens. Heute wird gerade dies oft abgelehnt oder zumindest beiseitegeschoben. Dann ist nicht mehr von Gläubigkeit, sondern eher von „Spiritualität“ die Rede.

Menschen finden in Spiritualität zu sich selbst – implizit religiös?

Spiritualität ist ein weiter, offener und ziemlich unbestimmter Begriff. Im Kontext sportlicher Betätigung in modernen Gesellschaften weist er auf wesentliche Aspekte des Menschseins hin, die im Alltäglichen verdeckt, verschüttet oder als unproduktiv angesehen sind. Zentrale Aspekte sind:

  • Zu sich selbst finden: Der Alltag fragt bestimmte Kompetenzen ab und fordert Leistungen ein. In freizeitlicher körperlicher Bewegung, beim Spazierengehen mit dem Hund, beim Wandern mit Freunden, beim Pilgern mit dem Partner, beim Radfahren und Bergsteigen, fließen das Erlebnis der Natur um mich und uns und die Erfahrung, dass ich selbst Natur bin, lebendig bin, Kraft habe, den Atem und den Herzschlag spüren kann, ineinander. Ich bin am Ende des Tages wohlig müde, spüre aber keine Alltagslast und kann gut schlafen, vielleicht mit einem Lächeln im Gesicht. Ich bin ganz bei mir – und zugleich ganz mit den anderen und mit der Natur.
  • Den Kopf freikriegen: Der Alltag verlangt den meisten sehr vieles und vielerlei zugleich ab. Tausend Dinge sind im Kopf, viele Aufgaben laufen parallel, jeweils ganz verschiedene Menschen sind involviert, vielerlei ist zu beachten, zu berücksichtigen, darf nicht vergessen werden. Selbst bei guter Organisation, die bei weitem nicht immer gelingt, ist das fordernd. Zu sportlicher Bewegung nehme ich eine Auszeit davon: beim kurzen Fuß- oder Radweg zwischen zwei Terminen, beim Abendspaziergang, bei der Wochenendtour oder im Aktivurlaub. Ich gewinne Abstand zum Alltag, finde zum mir eigenen Rhythmus von Atmung und Herzschlag, entspanne die verkrampften Muskeln und den verkrampften Geist. So manches Verknotete klärt sich, ich entdecke Alternativen zu verfahrenen Wegen. Ich werde mir wieder bewusst, was ich will und was nicht, meine Werte und Prioritäten treten wieder klarer ins Bewusstsein.
  • Sich mit anderen verbinden: Gemeinsam unterwegs sein verbindet. Schwierige Gespräche können ganz anders geführt werden, wenn man sich nicht gegenübersitzt, sondern nebeneinander hergehend den Schritt angleicht, in dieselbe Richtung schaut und dasselbe Ziel erreicht. Beim Wandern und Radfahren, beim Bergsteigen und Tourengehen kann man wunderbar miteinander reden; und – was oft noch wichtiger ist – miteinander schweigen. Es braucht viel Vertrauen, um miteinander schweigen zu können. In der gemeinsamen Bewegung wächst es wie von selbst. Dabei entsteht oft große Nähe, ohne dass daraus Ansprüche erwachsen, die über den Sport hinausgehen. Emotionen sind zugleich geweckt und gezähmt.
  • Sinn und Ziel finden, weil ich loslassen und mich beschenken lassen kann: Unsere Zeit und wir leiden darunter, viele Ziele erreichen und Erfolge einfahren zu sollen. Und allzu oft gelingt das mehr schlecht als recht, mehr halb als ganz, mehr vorgeblich als real. Im Sport kann ich mir nicht so leicht etwas vormachen; ich spüre sehr deutlich, was ich gegenwärtig erreichen kann und was nicht. Zugleich erlebe ich inmitten höchster Anstrengung eine Entspannung, weil in mir etwas loslässt, was zuvor ängstlich oder eisern festgehalten war. Der Gipfelsieg oder die letzte Meile, die ich trotz Erschöpfung geschafft habe, werden zum Geschenk, das ich nicht machen kann, aber erleben darf. So kommt eine Transzendenz, eine Jenseitigkeit, das oder der ganz andere unvermittelt, wenngleich vielleicht sehnlich erwartet, bei mir an. Ich bin überwältigt, kann nur staunen, strahlen oder weinen und Danke sagen.
  • Über sich selbst hinauswachsen: Die meiste Zeit des Lebens sind wir Menschen „ganz normal“, und das ist gut so. Zugleich haben wir es in uns, das Außergewöhnliche zu suchen. Wir finden es im Fest, im Exzess, in der Ekstase. Wir brauchen Nahrung, aber können auch fasten; und das macht Sinn. Wir wollen leben und überleben; und wenn es sein muss, können wir uns trotzdem opfern. Wir kennen und erfahren tagtäglich unsere Grenzen; und erleben beglückend – gerade auch im Sport –, dass wir auch fähig sind, über uns hinauszuwachsen. Manchmal verschiebt das auch unsere alltäglichen Grenzen, macht deutlich, dass wir uns mehr zutrauen dürfen, stärkt unser Selbstvertrauen und unsere Leistungsbereitschaft. Oft bleiben das aber auch singuläre Erfahrungen, Glücksmomente, die nicht reproduzierbar sind, von denen wir aber noch lange, oft ein Leben lang zehren.

Wissenschaftlich ordnet sich das einem funktionalen Religionsverständnis zu, wie es umfassend etwa bei Franz-Xaver Kaufmann zu finden ist (1999, 80 f.). Menschsein lässt sich durch genau jene Kategorien beschreiben, die sich in Religion funktional ausgestalten. Diese können gläubig, spirituell oder religionsanalog gefüllt werden. In der Reihenfolge der obigen Darstellung entspricht dem:

  • Identitätsstiftung: Wer bin ich und kann ich sein?
  • Handlungsführung: Was soll ich tun und lassen? Was ist Gut und Böse?
  • Sozialintegration: Was begründet Gemeinschaft und wie füge ich mich ein?
  • Kontingenzbewältigung: Wie komme ich klar angesichts von Tod, Schuld und Versagen?
  • Kosmisierung: Was ist Sinn und Ziel von allem und von mir darin?
  • Weltdistanzierung: Was bringt mich dazu, über mich selbst hinauszuwachsen?

Spiritualität und Gläubigkeit sind nicht das Gleiche

Was wir hier bedacht haben, sind spirituelle Erfahrungen, die jedem Menschen offenstehen. Und die jeder Mensch in seinem Leben mehr oder weniger häufig macht – bevorzugt auch beim Wandern und Pilgern. Religionen kultivieren solche Erfahrungen, ordnen sie einer Tradition ein und geben ihnen eine rituelle Rahmung und eine gläubige Deutung. Daraus können mehrere Missverständnisse entstehen:

  • Das erste: Wenn Menschen Spiritualität suchen oder für sie offen sind, dann wollen sie eigentlich gläubig sein. Es fehlt bloß an geeigneten kirchlichen Angeboten; oder der Stil der Kirche ist für sie ungeeignet; oder die Kirche ist schuld, dass die Menschen nicht zu ihr finden oder sich von ihr abwenden. Ich halte das für eine Fehldeutung. Spiritualität wie oben beschrieben gehört untrennbar zum Menschsein; Gläubigkeit nicht. Gläubigkeit impliziert den Wunsch oder die Anerkenntnis, Gott begegnen zu wollen oder zu können. Oder zumindest, dass Gott real ist und wir in irgendeiner Weise auf ihn verwiesen sind. Das ist zentraler Inhalt jedes Glaubens; aber unter Bedingungen von Säkularität ist Glaube keine kulturelle Normalität mehr. Menschen müssen sich explizit dafür entscheiden. Und es gibt nichts, weder sozial noch logisch, was sie dazu zwingt. Es gibt viele gute Gründe, an Gott als Herrn des und unseres Lebens zu glauben; aber keine Beweise, dass das Sinn macht. Es gibt aber auch keine logischen Gründe, warum das keinen Sinn macht. Es ist eine Lebensentscheidung, ob ich mit Gott als Teil meines Lebens rechnen will oder nicht. Und sie hat Konsequenzen für meine Lebenserfahrungen und meine Lebensgestaltung; mit, durch, vielleicht auch neben der Kirche. Es ist Teil des christlichen Glaubens, dass Gott der Herr des Lebens der gesamten Schöpfung und jedes Menschen ist; egal ob gläubig oder nicht. Daraus folgt aber keinerlei Anspruch kirchlicher Pastoral oder evangelisierender Bestrebungen auf die Eigenentscheidung der Menschen.
  • Ein zweites Missverständnis wäre: Spiritualität ist die bessere oder die zeitgemäßere Form von Gläubigkeit. Hier geht man von der Vorstellung aus, dass Spiritualität etwas ganz Persönliches ist, während Gläubigkeit eine Bevormundung durch die Kirche bedeutet. Wer so denkt, hat sicher keine guten Erfahrungen mit kirchlicher Verkündigung und Seelsorge gemacht. Oft steht dahinter eine Volkskirchlichkeit oder Gemeindepastoral, die keine persönlichen Anstöße zur eigenen Gottesbeziehung enthält, die existenziell als wenig bedeutsam erfahren wird, die keine authentisch gläubigen Personen vor Augen hat. Romano Guardini, der große Inspirator der kirchlichen Erneuerungsbewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ihre Erfüllung im Konzil fanden, soll gesagt haben: „Es ist typisch für unsere Zeit: Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Was er schon damals erkannt hat: Wer in der modernen Welt gläubig sein will, muss darin seine Seele berührt und entfaltet sehen. Karl Rahner, der große Jesuit und Konzilstheologe, bringt es ganz ähnlich auf den Punkt: „Der Christ des 21. Jhs. wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein“ (Zulehner 1984). Mit „Mystiker“ ist im gläubigen Sinn das angesprochen, was in einem allgemeiner menschlichen Sinn Spiritualität meint: die Erfahrung, dass im Leben ein Geheimnis steckt. Der gläubige Mensch wird in ihm Gott erahnen.
  • Schließlich gibt es das Missverständnis, dass Spiritualität eine Art Ersatzreligion sei und damit ein Hindernis für die eigentliche, wahre Religion. Das mag in Teilen etwas Wahres an sich haben, denkt man etwa an den Fansport im Fußball, der seine Götter am Rasen und seine alkoholschwangeren Liturgien in den Stadien hat. Sport hingegen, den Menschen selbst betreiben, kann sie öffnen für wahre Gläubigkeit; kann eine Art Unterbrechung kultureller Selbstverständlichkeiten bewirken, die der Gläubigkeit entgegenstehen; kann uns Menschen zu unserem wahren Selbst führen und damit zum Gott unseres Lebens, der uns so geschaffen hat und so liebt, wie wir sind, und alles großmütig annimmt, was uns an Bequemlichkeiten und Fehlern unterläuft; und der beharrlich um uns und unsere Zuwendung wirbt wie ein Liebender, der es nicht lassen kann.

Im Wandern erfahren wir im Kleinen, was das Leben als Ganzes – der Lebensweg – für uns an Erfahrungen bereithält. Es öffnet uns dafür, uns auf einen Prozess der inneren Wahrheit vorbehaltlos einzulassen. Es hilft dabei, loszulassen und zu lernen, dass ich das Wesentliche im Leben nicht machen, sondern es mir nur schenken lassen kann. Wandern tut uns und anderen um uns gut, wenn es uns sammelt statt zerstreut, uns frei macht statt besessen, uns öffnet für die Freundlichkeit der Menschen und die Schönheit der Natur.

Gläubigkeit setzt dort an, wo ich solche Geschenke staunend entdecke, sie freudig und dankbar annehme und nach ihrer Quelle zu fragen beginne. Kirche bewahrt das Wissen um eine Selbstoffenbarung Gottes, die uns Sein Geheimnis ebenso wie Seine liebend-großherzige Zuwendung und Sein Mitsein mit mir, dir und uns erschließt und verständlich macht, wie das Leben und die Welt gedacht sind und gut gelebt werden können. Und sie ermutigt uns, uns täglich neu auf den Weg zu machen.