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Pilgertage in der Fastenzeit

Das Angebot eines Essener Sportvereins

Die Idee

Die Idee zum „Fastenpilgern“ wurde 2011 geboren. Ich war seinerzeit Vorsitzender des Essener Sportvereins DJK Altendorf 09, und meine Frau und ich überlegten, wie wir denn die kommende Fastenzeit gestalten wollten. Eins war uns klar: Wir wollten mal weg vom Verzicht:

  • Verzicht auf Alkohol
  • Verzicht auf Fernsehen
  • Verzicht auf Süßes

Wir wollten stattdessen mal ein positives Gegenzeichen setzen und die Fastensonntage bewusst gestalten. Etwas tun, für das wir uns sonst keine Zeit nehmen und das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, spirituell neue Erfahrungen zu machen.

Da wir beide gerne wandern und auch Pilgern für uns kein Fremdwort war, haben wir überlegt, an jedem Sonntag eine Etappe auf dem Jakobsweg von Essen nach Aachen zu gehen. Gleichzeitig haben wir das Vorhaben auch für die Vereinsmitglieder (und andere Interessierte) geöffnet.

Unser Verein, der dem katholischen DJK-Sportverband angeschlossen ist, war seinerzeit einer der wenigen, der tatsächlich einen Priester als geistlichen Beirat hatte. Ihm erzählten wir von der Idee. Er war sehr aufgeschlossen und hat zugesagt, die spirituelle Begleitung zu übernehmen, für jeden Tag einen Bibel-Text auszusuchen, Impulsfragen zu formulieren und so weiter. Wo es ihm möglich war, hat er auch einen Gottesdienst mit uns gefeiert.

Meine Frau und ich waren für das Organisatorische zuständig. Wir haben Zugverbindungen rausgesucht, Busse gechartert, Pfarrsäle gesucht, in denen wir eine Mittagspause machen konnten, und ein kleines Erinnerungsgeschenk entwickelt, das an alle Teilnehmenden abgegeben wurde. Um die Strecke selbst brauchten wir uns nicht so viele Gedanken zu machen, da es einen offiziellen und gut dokumentierten Weg gibt, der ein Verlaufen nahezu unmöglich machte. Außerdem hatten wir Kontakt mit der St. Jakobus-Bruderschaft Düsseldorf aufgenommen, die uns nach Kräften mit ihrem Knowhow unterstützte.

Wir haben für das Projekt den Namen „Fastenpilgern“ gewählt, weil das Pilgern in der Fastenzeit stattfindet. Der Begriff hat aber bei einigen Interessierten zu Missverständnissen geführt, da sie dachten, bei den Touren würde auch gefastet. Dennoch haben wir den Namen nicht mehr geändert, weil er sich in der Öffentlichkeit rasch eingeprägt hat.

So wenig Aufwand wie möglich

Unser Ziel war es, das „Fastenpilgern“ mit so wenig Aufwand wie möglich zu machen. Es gab keine große Anmeldung, wer kommt, ist einfach da und geht mit. Vor der ersten Etappe hatten wir deshalb keine Ahnung, wie viele Menschen uns auf dem Weg begleiten würden. Aber wir waren uns einig: Wenn keiner kommt, gehen wir alleine.

Doch dazu ist es nicht gekommen: Rund 50 Pilgerinnen und Pilger waren beim Auftakt mit von der Partie – stetig wurden es mehr (Mund-zu-Mund-Propaganda) und in den sechs Wochen der Fastenzeit ist eine sehr schöne Gemeinschaft gewachsen, die am Palmsonntag mit Gesang in den Aachener Dom einzog.

Und weiter geht’s …

Fast zwangsläufig stellte sich danach die Frage, ob wir etwas Ähnliches im folgenden Jahr wieder anbieten würden. Meine Frau und ich haben die Herausforderung angenommen und gleichzeitig fünf, sechs Menschen gefunden, die bereit waren, die organisatorische Vorbereitung mitzutragen. Die Touren haben uns mal von Essen nach Billerbeck geführt, mal von Paderborn oder Köln nach Essen. Nicht immer waren wir auf Jakobswegen unterwegs, aber das tat der Sache keinen Abbruch.

Die Pilgergruppe ist in der Folgezeit stetig gewachsen, so dass wir uns nach fünf Jahren dazu entschieden haben, keine Werbung mehr zu machen. Wir haben das organisatorisch einfach nicht mehr hinbekommen, da sich die Gruppengröße im Mittel bei 100 Personen einpendelte – die Höchstzahl lag bei 150! Da ist der ÖPNV in manchen Orten einfach überfordert und die Toilettenpausen wurden immer länger. Auch spirituell mussten ab einer gewissen Größe Abstriche gemacht werden – und das wollten wir nicht.

Finanzielles

Finanziell war das Angebot offen, einen festgelegten Teilnahme-Beitrag gab und gibt es nicht. Vielmehr ging jeweils in einer Pause beim Pilgertag ein Hut rum, mit dem Spenden gesammelt wurden. Außerdem erhielten wir von einer Stiftung jährlich einen bestimmten Betrag, mit dem die Kosten für den Druck der Impulshefte und andere kleine Ausgaben gedeckt werden konnten.

Corona

Die Pandemie hat unser Fastenpilgern 2020 zunächst einmal beendet: Busreisen waren untersagt, es gab keine Pfarrsäle mehr, die für uns geöffnet hätten, und auch zahlreiche Pilgerinnen und Pilger setzten aus. 2022 haben wir mit einer leicht veränderten Variante weitergemacht: Seither bieten wir keine Streckenwanderungen mehr an, die eine gemeinsame An- und Abfahrt notwendig machen, sondern Rundwege über die Halden des Reviers. Das hat den Vorteil, dass die Teilnehmenden selbst bestimmen können, wie sie anreisen, und dass sie zum Ausgangspunkt zurückkommen.

Faszination Pilgern

So sind das Fastenpilgern bzw. die Haldentouren ein kleiner Beleg dafür, dass das Pilgern derzeit einen regelrechten Boom erlebt: In den Vor-Corona-Jahren kamen deutlich über 200.000 Menschen in Santiago de Compostela am Grab des hl. Jakobus an, während es fünf Jahre um 2005 „nur“ 95.000 waren. Doch was macht es aus, das Pilgern? Und was fasziniert Pilger dermaßen, dass sie den Rucksack packen und sich auf den Weg machen?

Zunächst einmal: Der Pilgerboom ist offensichtlich unberührt davon, dass die christlichen Kirchen einen immensen Rückgang an Mitgliederzahlen zu verzeichnen haben. Den Menschen, die sich unabhängig von kirchlichen Organisationen und konkreten Glaubensüberzeugungen auf den Weg machen, geht es oftmals um „Selbstfindung“ statt um „Gottesdienst“, um „Sinnsuche“ statt um „Heiligenverehrung“, um den „Bruch mit dem Alltagstrott“ statt um die „Fortführung einer christlichen Tradition“, das jedenfalls hat ein Forschungsprojekt der Universität Trier herausgefunden. Der moderne Pilger macht sich also nicht mehr auf den Weg zu einem weit entfernten Ort, um Heilung durch die Berührung einer Reliquie zu erfahren, um Gott um Vergebung zu bitten oder für widerfahrenes Glück zu danken – drei Hauptmotive für das Pilgern im Mittelalter. Auf dem Weg werden vielmehr aktiv Lebenskrisen verarbeitet (z. B. nach Trennungen oder dem Verlust eines Menschen) und Probleme überdacht. Auch die Einstimmung auf eine neue Lebensphase (Eintritt ins Berufsleben oder ins Rentenalter) bringt Menschen dazu, sich pilgernd einem Ziel zu nähern. Was hat Gott, was hat das Leben mit mir vor; was will ich eigentlich; ist das Ziel, das ich beruflich anstrebe, wirklich das richtige für mich – das sind einige der Fragen, die die Pilger bewegen.

Neue Gotteserfahrungen auf dem Weg

Doch gerade die Suche nach neuer Gotteserfahrung ist ein weiterer maßgeblicher Grund für das Pilgern, sonst wäre es ja nur ein Wandern, das natürlich auch seine Berechtigung hat, aber dem einfach der spirituelle Grundansatz fehlt. Der Pilgerweg bietet abseits von traditionellen Riten ganz neue Möglichkeiten, Gott zu erfahren und zu begegnen. Das ist nicht voraussehbar oder planbar, sondern ergibt sich einfach – jedenfalls für die Menschen, die mit offenem Herzen und offenen Sinnen unterwegs sind.

Diesen Menschen haben wir mit unserem Angebot des Fastenpilgerns bzw. der Haldentouren offenbar ein Angebot machen können, das sie fasziniert hat. Viele haben uns gesagt, dass sie die Freiheit genossen haben, die mit den Touren verbunden ist: Niemand verpflichtet sich zu etwas oder „bucht ein Paket“. Man entscheidet selbst, ob man sich mit den anderen unterwegs unterhalten will oder lieber den eigenen Gedanken nachhängen möchte. Etliche sind seit 2012 Jahr für Jahr dabei. Kommentar einer Teilnehmerin nach dem Abschlusssegen der letzten Etappe einer Pilgertour: „Und was soll ich jetzt nächsten Sonntag machen? Ich würde so gerne mit Euch weiterlaufen.“