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Tradition und Experiment (I)

Mein Weg zur Kirche durch die alte Liturgie

Oft bieten besondere und außergewöhnliche Gottesdienstformen auch beson­dere Anknüpfungspunkte für Menschen, die zu den gängigen Litur­gie­for­men der Gemeinden wenig Zugang finden  –  sowohl für schon Gläu­bige als auch für Suchende. Zu den beiden Polen „Tradition“ und „Experi­ment“ haben wir jeweils einen unserer Autoren gefragt:  Was macht für Sie persön­lich die Faszination und den Reichtum dieser Gottesdienste aus?

Für Andreas Kobs war das Erleben der tridentinischen Liturgie im Institut St. Philipp Neri in Berlin für seine Annäherung an die Kirche bedeutsam, wie er in seinem Erfahrungsbericht erzählt.

Als ich die heilige Messe in der außerordentlichen Form des römischen Ri­tus das erste Mal besuchte, gab es diesen Begriff noch nicht. Er wurde erst ein halbes Jahr später erfunden. Bis dahin sprach man von der alten, der lateinischen oder auch der tridentinischen Messe. Mich interessierte das nicht. Ich war nur der Empfehlung eines flüchtigen Bekannten ge­folgt und konnte mit keinem dieser Begriffe etwas anfangen.

Für mich war es bereits der dritte Anlauf, nach 15 Jahren wieder regel­mä­ßig zur Kirche zu gehen. Meine ersten Gottesdienst-Erfahrungen hatte ich als Kind und Jugendlicher in den 80er Jahren machen dürfen. Ich war zu dieser Zeit kein begeisterter Kirchgänger gewesen, aber es hatte gereicht, um zur Erstkommunion und zur Firmung zugelassen zu werden. Die Idee, einer Messe in lateinischer Sprache beizuwohnen, hätte ich schon im Ansatz nicht verstanden.

Nach der Firmung war für mich bald Schluss mit der Kirche. Das Singen von Liedern, die Lesungen und Predigten konnten mich nicht halten. Ich war auf dem Weg, erwachsen zu werden, und die Kirche schien mich da­bei nicht begleiten zu können. Ihre Antworten stellten mich nicht zufrie­den, und meine Fragen schienen sie zu überfordern. Gott war etwas für die Schwachen. Ich setzte meine Hoffnung auf die Philosophie. Die Kir­che ließ mich kampflos ziehen.

Auf Umwegen fand ich nach langer Zeit und mit zunehmender Verwun­derung den Weg zurück. Die Philosophie hatte das, was ich mir von ihr versprochen hatte, nicht halten können. Sie konnte nicht das Ziel meiner Suche sein, denn ich suchte Worte des ewigen Lebens. Über Nietzsche, Platon, Marc Aurel, Boethius, Tertullian und Augustinus kam ich zu der Erkenntnis, dass die Lehre der katholischen Kirche besser als jede andere geeignet war, mein Leben sinnvoll zu beschreiben.

Weltanschaulich war ich also mit der Kirche schon mal einverstanden. Grundsätzlich war ich dabei auch bereit, den dreifaltigen Gott zu einer bestimmenden Größe in meinem Leben werden zu lassen. Jetzt musste ich ihn nur noch persönlich kennenlernen. Was mir fehlte, war das Ver­ständnis für die Glaubenspraxis, das Beten, die Gottesdienste und die Sakramente. Von außen betrachtet machten sie keinen Sinn für mich. Ich wollte wissen, ob das von innen anders sein könnte.

Meine ersten Annäherungsversuche an die alte Liturgie verliefen daher in der Form der teilnehmenden Beobachtung. Ich wollte dabei sein, mit­tendrin, mir alles anschauen, lernen und verstehen. Ich sah den feierli­chen Schmuck der Kirche, den Altar, die Messgewänder, die rituellen Handlungen, die Kniebeugen vor dem Altar. Ich hörte die Schola den Choral singen und die Gemeinde im Wechselgesang antworten. Alles war ein einziger Gesang, der in eine große Stille mündete. Ich fand es wunderschön.

Die Bewegungen und Handlungen des Priesters und der Ministranten wa­ren von Sorgfalt und Ernsthaftigkeit geprägt. Sie folgten einer ge­heim­­nisvollen Ordnung, die ich nicht verstand und hinter der sie ganz zurücktraten. Die Form stand in ihrer Einheit ganz für sich. Es gab keine erklärenden Einschübe, keine Paraphrasen, keine niedrigschwelligen Angebote und keine Übersetzungen. Wer hier mitwollte, der konnte das nicht im Vorbeigehen erledigen. Es würde also Anstrengung kosten.

Die Messe wirkte selbstbewusst, bedeutungsvoll, und sie verwies in allem ganz auf Gott. Ich konnte sehen, wie die Menschen am Altar und in den Bänken ganz auf den hin orientiert waren, den ich nicht sehen konnte. Ich konnte es selber nicht ermessen, merkte aber am Verhalten der Menschen, die mich umgaben, dass sie etwas Großem beiwohnten. Sie verhielten sich tatsächlich so, als ob sie in der Gegenwart Gottes stünden, des gekreuzigten Königs der Könige.

Ich nahm die Eindrücke mit nach Hause: noch lange nicht überzeugt, aber verwundert und neugierig genug, um der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Viele Fragen waren offen, nicht nur in Bezug auf den Sinn und Zweck dieser sonntäglichen Zusammenkunft, sondern auch in Bezug auf Dogmen und Moral der Kirche. Die Zeit, die ich brauchte, um diese Fragen zu beantworten, erkaufte ich mir durch einen Vorschuss an Vertrauen, den ich der Kirche gewährte: Ich nahm mir vor, nicht sofort nein zu sagen, wo ich nicht ja sagen konnte.

Von der Messe angezogen, entschloss ich mich, von jetzt an öfter zu kommen, um über Gott und seine Kirche nachzudenken. Die Atmo­sphäre schien mir dafür geeignet zu sein. Sie befreite mich: Ich kam aus meinem Alltag raus, zur Ruhe und in eine neue Welt. Ich wusste natür­lich, wo ich war, was mich aber umgab und was ich nicht kannte, ließ ich im Nachdenken über Gott und seine Kirche am Horizont vorbeiziehen. Ich musste nicht mehr abbeißen, als ich kauen konnte. Auch das war eine große Freiheit.

Ich gewöhnte mich an den Ablauf der Messe als stiller Beobachter. Die Menschen in den Bänken gaben mir immer noch Rätsel auf. Ich wusste, warum ich hier war, aber ich hatte keine Vorstellung, warum sie hier waren. Die Gemeinschaft, das Singen, das Beten, das Knien. Was sollte das? Mein erster Verdacht war es, dass es sich hier um einen Akt ge­mein­schaftlicher Selbstvergewisserung handeln müsse, durch den die eigene Weltanschauung immer wieder neu gefestigt werden sollte. Doch das überzeugte mich bei näherer Betrachtung nicht.

Die Gemeinschaft der Menschen stand zu wenig im Mittelpunkt, um ein tragendes Erlebnis werden zu können. Es musste also etwas anderes ge­ben, was diese Menschen jeden Sonntag in die Kirche brachte. Was, über­legte ich mir, wenn auch sie nur hier wären, um eine Beziehung zu Gott aufzubauen, und was, wenn sie mir dabei schon einen Schritt vor­aus wären? Ich begann, mich mit ihren Gesängen und Gebeten näher zu befassen, und lernte zunächst, das Paternoster und das Credo frei zu singen, um es immer bei mir zu haben.

Ich kannte nicht das Wort von Augustinus: „Wer gut singt, betet dop­pelt“, aber ich war von Anfang an beeindruckt von den lateinischen Ge­sängen des Chorals. Wie die großen Kathedralen schien auch er die Jahrhunderte einer Kirche zu bezeugen, die für sich in Anspruch nahm, die Zeit, den Erdkreis und den Himmel in Ewigkeit zu umspannen. Ich hätte in der gleichen Bank mit Thomas von Aquin sitzen können, und wir beide hätten die gleiche Messe mitfeiern können. Der Gedanke gefiel mir. Die Zeit hätte uns nicht getrennt.

Ich begann, in der Schola zu singen, und lernte, singend zu beten, und das Gebet wurde der Schlüssel zum Verständnis der Messe. Der Umfang der Gesänge erstaunte mich sehr. Es gab nicht nur die ständig wieder­keh­renden Gesänge der Messe in verschiedenen Melodien. Jeder Sonn­tag, jedes Hochfest und jedes Heiligenfest hatte eigene Gesänge, die nur für diesen Tag festgelegt waren. Ihre Texte waren der heiligen Schrift ent­nommen, und in der Einheit mit den Tagesgebeten und den Lesun­gen prägten sie den einzigartigen Charakter der Messe.

Von alleine wäre ich ganz sicher nicht auf die Idee gekommen, Bibeltex­te zu beten. Ich wusste, dass sie zum Lesen taugten. Aber zum Beten? Hier wurden sie gebetet, denn wenn die Schola singt, dann betet sie. Mein Blick auf die Messe veränderte sich. Ich begann sie nicht nur als einen großen Gesang wahrzunehmen, sondern als ein großes Gebet, das aus den Ursprüngen des Glaubens geschöpft war. Keine Paraphrase konnte hier das Original ersetzen, denn jedes Wort hatte seinen Platz und seine Berechtigung.

Die Ehrfurcht vor den Texten der heiligen Schrift, der Lesungen und der Gebete ermutigte mich, die Worte einzeln und für sich zu betrachten. Was ich dabei an Geschwindigkeit verlor, gewann ich an Tiefe und Ein­sicht. Offensichtlich konnte man in der Betrachtung ziemlich weit mit ziemlich wenig kommen. Auch die Texte der Messe nahm ich nur in kleinen Mengen zu mir. Ich las sie in der deutschen Übersetzung vor der Messe und nahm nur das mit, was mein Kopf behalten konnte, um es in der Messe zu betrachten.

Die Einsichten, die ich durch die Betrachtung der Gebete und der heili­gen Schrift gewann, waren für mich von großem Wert. Sie halfen mir, mich ganz auf Gott auszurichten, so wie mir die Messgesänge halfen, mich selbst zu ordnen und zur Ruhe zu kommen, um still zu werden, den Alltag hinter mir zu lassen und in der Stille ganz auf Gott zu hören. Und als ich ruhig und still und ganz ausgerichtet war auf Gott, da war die Stille plötzlich nicht mehr leer, sondern angefüllt von ihm und seiner Gegenwart, und mich erfüllte große Zuversicht und Freude.

Die Erfahrung des Gebets erschütterte mich. Sie stellte mein Leben auf den Kopf, oder besser gesagt: vom Kopf auf die Füße, und ich wusste jetzt: Die Kraft der Messe liegt im Gebet, in der Gegenwart Gottes und in der Vereinigung mit ihm. Sie hatte mich zu einem Zeugen Gottes ge­macht, und ich verstand, was Menschen sonntags wirklich in die Kirche bringen kann: Das Verlangen, aus der Kraft Gottes zu leben und ihn zu bezeugen.

Die Messe erlaubte mir, von ihr zu lernen, als ich noch nichts von ihr verstand, nichts von Gott und nichts vom Gebet. Sie weitete meinen Blick, machte mir den Kopf frei und das Herz auf. Sie übte keinen Druck auf mich aus und ließ mich selbst in kleinen Schritten gehen. An ihrer Hand habe ich zum Glauben gefunden. Ich verdanke ihr mehr, als ich habe.