Inhalt

Verschwörungstheorien und Reichsbürger – Herausforderung für Staat, Gesellschaft und Kirche

Der Tod eines Polizeibeamten im Oktober 2016 bei einer Razzia im frän­kischen Georgensgmünd hat das Thema zu einem Politikum gemacht: Reichsbürger. Insofern war die Tagung der katholischen Weltanschau­ungs­beauftragten wenige Woche zuvor (26. bis 28. September 2016 in Hildesheim) hochaktuell, ging es doch dort ebenfalls um Reichsbürger – und um Verschwörungstheorien.

Das Tagungsthema war in dieser Konstellation bereits ein Jahr vorher vereinbart worden. Denn zum einen ist die Reichsbürgerbewegung schon länger ein Problem und auch ein Thema für die kirchliche Weltan­schauungsarbeit, was sich etwa in gelegentlichen Informations- und Be­ratungsanfragen niederschlägt. Zum anderen lässt sich die Reichsbür­ger­bewegung nur im Kontext verschwörungstheoretischen Denkens ver­stehen – und Verschwörungstheorien begegnen ebenfalls an unter­­schied­­lichen Stellen immer wieder in der Weltanschauungsarbeit. Schließlich ist die Thematik Reichsbürger und Verschwörungstheorien nicht nur wegen der politischen und gesellschaftlichen Herausforde­run­gen spannend, sondern auch wegen der weltanschaulichen und sogar theologischen Dimensionen.

Von echten Verschwörungen und ideologischen Konstrukten

Verschwörungen gibt es wirklich – man denke nur an die Ermordung Julius Caesars; man kann über wirkliche und mutmaßliche Verschwö­run­gen auch seriös Theorien entwickeln; und immer wieder einmal stellt es sich heraus, dass offizielle Stellen in peinlichen Angelegenheiten Fak­ten verschleiert haben (Das muss aber nicht unbedingt schon eine Ver­schwörung sein!). Mit dem Begriff „Verschwörungstheorien“ verbindet man freilich heute gemeinhin Annahmen und Gedankenkonstrukte, die jenseits wissenschaftlicher Theoriebildung und Überprüfung stehen: Die Mondlandung sei im Fernsehstudio inszeniert worden, 9/11 sei ein In­side-Job der US-Regierung gewesen, die Notwendigkeit und Wirksam­keit von Impfungen sei eine Lüge der Pharmaindustrie, Kondensstreifen von Flugzeugen seien absichtlich versprühte Chemikalien (Chemtrails) usw.

Mag man über manches vielleicht auch lächeln, mögen auch viele Men­schen einzelnen Verschwörungstheorien einen gewissen Grad an Plau­sibilität zubilligen, ohne dass diese Distanzierung von der „offiziellen Wahrheit“ für ihr Leben eine Rolle spielte, so sind Verschwörungstheo­rien doch keineswegs harmlos. Von einer Verschwörungstheorie kommt man leicht zur nächsten; und so kann man sich in ein verschwörungs­theo­reti­sches Denken verstricken, das sich immer weiter von einer rea­listischen Weltsicht entfernt: Einwände dringen schließlich nicht mehr durch, sondern werden sofort als gezielte Desinformation der Verschwö­rer gedeutet oder durch neue verschwörungstheore­tische Spekulationen neutralisiert. Solch verhärtetes, ideologisiertes verschwörungstheore­ti­sches Denken gibt sich nicht damit ab, einzelne Verschwörungen und Verschwörergruppen als nebeneinander existierend anzunehmen, son­dern geht von einer Weltverschwörung aus: eine kleine, verborgene Grup­pe, die die wahre Macht hat und nach der endgültigen Weltherr­schaft strebt und auf dem Weg dorthin alles mögliche schlimme Welt­geschehen bewirkt, das in Wirklichkeit ganz verschiedenen Akteuren und akteurslosen Ursachen zuzuordnen ist. Finanzkrisen, islamistischer Terrorismus, Naturkatastrophen, gesellschaftliche Umbrüche (etwa im Geschlechterverhältnis), Unglücksfälle … – die Ursachen für all das werden personalisiert. Der Vorteil: Man kann Schuldige benennen, die Schuld auf andere abwälzen – und das heute kaum überblickbare und oft verstörend unverständliche Weltgeschehen wird verständlich. Zur (letztlich aber doch vage bleibenden) Charakterisierung dieser kleinen, zentralen Verschwörergruppe kombinieren Verschwörungstheoretiker je nach Belieben verschiedenste und teils völlig konträre Gruppen: Ameri­kaner, Finanzkapital, Freimaurer …, ggf. auch den Vatikan (oder die Jesuiten) und immer wieder „die Juden“.

Verschwörungstheorien sind nichts Neues. Ob sie wirklich verbreiteter sind als zu manchen früheren Zeiten, ist fraglich. Aber in einer globali­sierten und medialisierten Welt – und gerade über das Internet – ist es deutlich einfacher geworden, verschwörungstheoretische Spekulationen zu verbreiten und im öffentlichen Raum zu platzieren.

Reichsbürger, Souveräne & Co.

Auch die Reichsbürgerbewegung gäbe es ohne verschwörungstheo­reti­sches Denken nicht. Doch zugleich knüpft sie an rechtsextremes Denken an: Deutschland sei nicht wirklich frei, das Deutsche Reich existiere wei­ter, die BRD-Regierung verrate nationale Interessen, man müsse sich ge­gen Überfremdung schützen etc.

Ein geläufiges Reichsbürger-Narrativ geht in etwa so: Die Bundesrepu­blik sei gar kein souveräner Staat, da das Grundgesetz keine Verfassung sei (wie man schon an der Bezeichnung „Grundgesetz“ ersehen könne) und es bis heute keinen Friedensvertrag mit den Alliierten gebe; deshalb bestehe das Deutsche Reich fort, die Bundesrepublik Deutschland sei da­gegen eine Firma, wie u. a. ihr Eintrag in einem internationalen Han­delsregister beweise. Von dieser Vereinnahmung durch die „BRD GmbH“ gelte es sich zu lösen, um die Freiheit wiederzugewinnen.

Die Reichsbürgerszene ist freilich keine feste, zentral organisierte Größe, sondern zersplittert in zahl­reiche Grüppchen und Einzelakteure mit zahl­reichen Varianten der ideologischen Ansichten – und der Aktionsfor­men: Da finden wir „kommissarische Reichsregierungen“ – die von Wolfgang Ebel in den 1980ern gegründete war gewissermaßen die Initi­alzündung für die Reichsbürgerbewegung –, selbsternannte Monarchen (etwa den „König von Deutschland“ Peter Fitzek), Fürstentümer, inter­nationale Gerichtshöfe, Pseudo-Exekutiveinheiten (etwa das „Deutsche Polizei Hilfswerk“), „Glaubensgemeinschaften“, eine Vielzahl an „auf­klärenden“ Internetseiten, Anbieter von selbst entworfenen Ausweisen, Autokennzeichen und Fi­nanz­dienst­leis­tun­gen …

Dass es neben viel Einzelgängertum auch Vernetzungen gibt, zeigt sich immer dann, wenn bei einer Konfrontation zwischen Reichsbürgern und Vertretern des Staates (etwa bei einer Gerichtsverhandlung) Dutzende von Unterstützern auftauchen – oftmals eine recht bedrohliche Erfah­rung für die Beamten. Dass so etwas eskalieren kann, erfuhr die breitere Öffentlichkeit im August 2016, als es bei der Zwangsräumung eines Hau­ses in Sachsen-Anhalt zuerst zu einer Blockade und dann beim zwei­ten Anlauf mit massiver SEK-Unterstützung zu einem Schusswechsel kam: Verletzt wurden zwei Beamte, aber auch der Hausbesitzer, der sein Grundstück zu einem Ministaat „Reich Ur“ erklärt hatte.

Doch haben wir es beim letzteren Fall überhaupt mit Reichsbürgern zu tun – da es ja nicht um das „Deutsche Reich“ ging und zumal ja laut Me­dienberichten von Akteuren ausdrücklich bestritten wurde, etwas mit Reichsbürgern zu tun zu haben? In der Tat wird der Begriff Reichsbürger heute verbreitet wie ein Dachbegriff auch auf Personen angewendet, die mit dem Deutschen Reich (und unter Umständen auch mit Rechtsex­tre­mismus) nichts am Hut haben. Wohl durch Einflüsse aus den USA, wo sich bereits in den 1970ern eine Szene herauszubilden begann, erklären sich mittlerweile auch bei uns – gut zu beobachten etwa in unserem Nachbarland Österreich, wo der Bezug auf das Deutsche Reich ja nicht so naheliegt – Menschen zu „Souveränen“, „Freemen“ oder „Selbstverwal­tern“. Diesen Leuten geht es oftmals v. a. darum, sich Steuern und Abga­ben und überhaupt gesetzlichen Pflichten und staatlicher Kontrolle zu entziehen, indem sie sich quasi für „unabhängig“ erklären – „Staats­grün­dungen“ sind meist nicht im Blick, aber auch nicht ausgeschlossen.

Gemeinsamer Nenner all dieser ganz unterschiedlichen Gruppen und Personen ist, dass sie die Legitimität, wenn nicht gar die Legalität des Staates bestreiten – und dass sie davon ausgehen, dass Deutschland nicht wirklich frei ist, sondern von Mächten und Mächtigen beherrscht wird, die im Hintergrund die Fäden ziehen: Hier sind wir wieder bei den bereits vorgestellten allgemein-verschwörungstheoretischen Denk­mustern.

Herausforderungen für Staat, Gesellschaft und Kirche

Die Vorfälle im Herbst 2016 haben die Reichsbürger auf die politische Tagesordnung gesetzt. Aber sind sie überhaupt eine ernstzunehmende Herausforderung?

Nicht zu unterschätzen sind jedenfalls die verbreiteten Verbindungen zum Rechtsextremismus, aber auch die Möglichkeit der Instrumentali­sie­rung für staatsfeindliche Aktionen: So ist die „Nationale Befreiungs­bewegung“ (NOD), eine russische Organisation aus dem rechten Spek­trum, auch in Deutschland in Verbindung mit Reichsbürgern aktiv im Protest gegen die deutsche Regierung – eine Art „5. Kolonne“ Putins? Noch beunruhigender ist die Bedrohung und Gewalt gegen Staatsbe­dienstete, die von Reichsbürgern ausgeht: nicht nur spektakuläre Schie­ßereien, sondern auch Einschüchterungsversuche gegenüber Verwal­tungsmitarbeitern, Gerichtsvollziehern und Richtern, mit denen Reichs­bürger wegen Strafzetteln und Gravierenderem in Kontakt kommen; und die „Malta-Masche“ ist besonders perfide, da hier Reichsbürger erfundene Geldforderungen über maltesische Inkassofirmen gezielt gegen einzelne Beamte vollstrecken zu lassen versuchen.

Allerdings spricht die reine Zahl der Reichsbürger (in den einzelnen Bun­desländern jeweils höchstens ein paar Hundert) eher dagegen, ihnen zu viel Gewicht beizumessen (was noch nicht bedeutet, ihr Treiben zu igno­rieren und nicht zu sanktionieren). Man kann sie jedoch als Probleman­zei­ge, als Indikator für weiter reichende gesellschaftliche Verwerfungen und umfassendere Herausforderungen betrachten – und dann sind Reichs­bürger quasi ein Fokuspunkt, an dem verschiedene Aspekte ver­dichtet und exemplarisch zusammentreffen, die bei einer allgemeineren Betrachtung des übergeordneten Themas „Verschwörungstheorien“ nicht so deutlich zutage treten würden.

Insbesondere zeigt sich bei den Reichsbürgern, wie verschwörungstheo­re­­tisches Denken das gesellschaftliche Zusammenleben und die öffent­liche Ordnung unterminieren kann. Mit der Gründung eigener Reiche und Regierungen wird offen aufgekündigt, was auch bei sonstigem ver­schwörungstheoretischem Denken gefährdet wird: die Bereitschaft, sich in gesellschaftlich ausgehandelte Normgefüge und Kompromisse einzu­finden, sich mit Kritik daran einem offenen (auch ergebnisoffenen) Dis­kurs zu stellen und gegebenenfalls die eigenen Interessen gegenüber allgemeinen Interessen zurückzustellen. Stattdessen wird behauptet, dass es gar keine solchen legitimen, berücksichtigenswerten Überein­künfte gebe, da in Wirklichkeit alles von einer obskuren Elite gesteuert sei.

Dahinter scheint aber deutlich ein grundlegenderes Problem auf: Ver­trau­ensverlust. Der Verlust des Vertrauens in politische (und sonstige) Institutionen. Der Verlust des Vertrauens in Ordnungsstrukturen, die angesichts der Globalisierung unvermeidlich internationaler, komplexer und damit auch schwerer überschaubar werden. Der Verlust des Ver­trau­­ens in Medien, öffentliche Diskurse und bürgerliche Werte. Und auf der anderen Seite das Wachsen von Ängsten: Angst vor Wohlstands­ver­lust, Angst vor Identitätsverlust durch „Überfremdung“ und zu starken Wandel der Gesellschaft, Angst um die öffentliche Sicherheit, Angst vor gesellschaftlicher Marginalisierung …

Das verstärkt die Neigung zu (zumindest scheinbar) schnellen, einfa­chen Lösungen – vorzugsweise solchen, die heutige Komplexitäten auf­zulösen versprechen: etwa internationale Verflechtungen durch Protek­tionismus (wirtschaftlich oder durch die Schließung von Grenzen) und Nationalismus; gesell­schaftliche Verwerfungen bis hin zu Kriminalität durch Einschränkung und Abschaffung der freiheitlichen Ordnung; oder (innerhalb und unterhalb des nationalen Rahmens) dadurch, dass man sich – wie die Reichsbürger – staatlichen, behördlichen und gesellschaft­lichen Strukturen entzieht und sich einen Nahbereich nach eigenem Gusto (sein eigenes Reich) aufbaut.

Hier kommen Verschwörungstheorien ins Spiel. Sie greifen diese Ängste auf, bieten Erklärungen, stiften Sinn, weil man sich mit ihrer Hilfe wie­der in das Weltgeschehen einordnen kann (nicht mehr als hilfloses Op­fer, sondern als um die geheimen Zusammenhänge Wissender). Zudem bilden Verschwörungstheorien eine wichtige Grundlage und bieten Be­gründungen für ganz verschiedene Bewegungen, Strömungen und Grup­pierungen, die das bestehende „System“ massiv kritisieren oder gar of­fen angreifen und den gesellschaftlichen (und sogar den internationalen) Frieden unterminieren und gefährden. Seien es nun Reichsbürger, Rechts­extreme, die Pegida-Bewegung, die AfD oder andere Polemiker, die sich insbesondere in den sozialen Netzwerken und im Internet aus­toben: Neben berechtigten oder zumindest diskussionswürdigen Anlie­gen greifen sie auch reichlich auf verschwörungstheoretische Versatz­stücke zurück, um Drohkulissen aufzubauen und Stimmung zu machen.

Aber auch im religiösen Bereich begegnet immer wieder ver­schwörungs­theoretisches Denken, wie Weltanschauungsbeauftragte berichten kön­nen. Nicht immer wird es so offenkundig verbreitet wie bei den vielfälti­gen medialen Unternehmungen des Schweizer Predigers und Gemein­de­leiters Ivo Sasek. Dennoch finden wir regelmäßig den Rückgriff auf – oder die Neubildung von – Verschwörungstheorien im Fundamentalis­mus. Das ist nicht verwunderlich, lebt Fundamentalismus doch von einer stark dualistischen Weltsicht, die auf das Vorhandensein von be­drohlichen Feindbildern (wie sie ja von Verschwörungstheorien kon­stru­iert werden) angewiesen ist.

Auch die beiden großen Kirchen sind nicht gefeit vor dem Eindringen verschwörungstheoretischen Denkens in ihre Reihen – und das nicht nur an ihren fundamentalistischen Rändern! Auch liberale und „linke“ Chris­ten können, wenn sie auf der Suche nach Alternativen zu einem teilweise zerstörerischen Kapitalismus, einer anonymisierten Gesell­schaft und einem übertechnisierten Gesundheitssystem sind, im alter­nativ-esoterischen Spektrum ohne Weiteres verschwörungstheoretisch geprägten Annahmen begegnen, etwa im Kontext einer ideologisierten Impfkritik.

Für heftige kircheninterne Debatten sorgt freilich derzeit eher die Angst insbesondere bei konservativen und fundamentalistischen Christen vor einer „Islamisierung“ Europas. „Gender“ ist ein anderes Schlagwort, das derzeit viele Gemüter erhitzt – vor allem, wenn verschwörungstheore­ti­sche Fantasien hinzutreten, die von einer von oben geplanten großflächi­gen sexuellen Umerziehung sprechen. Auch in anderen Bereichen (etwa Lebensschutz) fühlen sich etliche als Christen an den Rand gedrängt.

Wenn vornehmlich fundamentalistische Christen aber offen Staat (und Gesellschaft) als Größe zeichnen, die christlichen Glauben diskriminiert, wenn sie statt kritischer Kooperation zwischen Staat und Kirche eine Fun­damentalopposition nahelegen, weil es sozusagen um den „status confessionis“ (um hier einmal einen Begriff aus der evangelischen Theo­logie „auszuleihen“) ginge, wenn sie – auch unter Rückgriff auf Ver­schwö­rungstheorien – den Staat dämonisieren, dann stellen sie aber nicht nur das bewährte kooperative Zusammenwirken von Staat und Kirche in Frage, sondern rütteln gar an den Grundfesten der freiheit­li­chen Gesellschaft, wenn sie implizit oder explizit nahelegen, dem Staat die gesellschaftlichen Beiträge zu entziehen, ohne die dieser nicht exis­tieren kann, oder gegenüber Staat und Gesellschaft abgeschlossene Strukturen aufzubauen. Bis zu einem gewissen Grad geschieht das bereits: etwa, wenn Eltern ihre Kinder dem Sexualkundeunterricht oder gänzlich staatlichen Lehrplänen zu entziehen versuchen (Forderung nach Homeschooling, Gründung von eigenen Schulen); und analog zu den me­di­alen Filterblasen, in denen säkulare Verschwörungstheoretiker leben, können heute auch konservative bis fundamentalistische katholische und protestantische Kreise auf ein reichhaltiges spezielles Medienan­ge­bot (Print, Fernsehen, Internet) zurückgreifen, das es ihnen ermöglicht, die Welt nur durch ihre ideologische Brille wahrzunehmen.

Handlungsoptionen

Verschwörungstheorien sind in den letzten Jahren stärker in den Blick der Medien und auch der universitären Forschung gerückt. Denn die Be­fassung damit tut not – und erst recht gilt es, die friedens- und gesell­schaftsgefährdende Ausbreitung verschwörungstheoretischen Denkens aufzuhalten.

Fragt man aber Experten – bei der anfangs genannten Tagung der Welt­anschauungsbeauftragten waren das der Politikwissenschaftler Jan Rathje und der Psychologe Sebastian Bartoschek –, dann hört man die Einschätzung, dass ab einem bestimmten Grad ideologisierten Denkens Verschwörungstheoretiker für ein vernünftiges Gespräch quasi nicht mehr erreichbar seien: Man könne nur noch abblocken und versuchen, sie aus dem öffentlichen Diskurs auszugrenzen.

Umso wichtiger ist es also, schon vorher einem Abdriften in eine verque­re verschwörungstheoretische (Parallel‑)‌Weltsicht entgegenzuwirken. Etwa, indem man in den sozialen Medien oder auch im persönlichen Umfeld entsprechenden Ansichten widersprechende Fakten entgegen­hält und so eine andere Meinung als Denkanstoß zumindest anbietet. Oder indem man die Menschenfeindlichkeit mancher Inhalte und Ak­teure offenlegt und so zum Nachdenken anregt.

Und Rathje nennt noch einen anderen Punkt: selbst keine dualistischen Weltbilder vertreten. Hier sollte gerade auch die Kirche aufmerken, kommt Christentum doch nicht (ganz) ohne dualistische Denkschemata (gut – böse, Heil – Unheil …) aus und passiert es doch im Christentum immer wieder, dass sich solche Dualismen im Rahmen von Fundamen­ta­lismen radikalisieren!

Hier stellen sich auch theologische Fragen, da Welt-, Menschen- und Gottesbild zusammenhängen: Gerade Fundamentalisten sehen Welt und Menschen vor allem als negativ und unheilsverfangen – und stellen dem eine klare, eindeutige Ordnung Gottes als Heilsperspektive gegen­über. Doch ist das nicht eine Vereinnahmung Gottes, der quasi auf eine bestimmte Rolle festgelegt wird? Dagegen führt ein christliches Be­wusstsein des deus immo magis, des Gottes, der all unser Verstehen über­steigt, der uns aber in der Liebe nahekommt, (hoffentlich) zu ei­nem Welt- und Menschenbild, das auch in der Vielfältigkeit und sogar Wider­sprüchlichkeit das Wirken des (trotz aller Unverständlichkeit) gu­ten Gottes auszumachen vermag: ein Zugehen auf die Welt, das auch mit Mehrdeutigkeiten, Komplexität und Ungewissheiten umgehen kann, das die Theodizeefrage aushält, das mit Unsicherheiten leben kann, die im Fundamentalismus gewaltsam zu Eindeutigkeiten umge­formt wer­den, indem man sie in ein Gut-böse-Schema presst – gerne auch unter Verwendung von verschwörungstheoretisch konstruierten Feindbildern.

Hier ist Kirche als „Sehgemeinschaft“ (Heiner Koch) gefragt, die die Welt mit den Augen Gottes, der seine Schöpfung trotz aller Unvollkommen­­heit liebt, sehen lehrt und sich gegen Blickverengung und Scheuklappen stellt.

Dazu braucht es aber auch – und auch das ist in der Kirche manchmal Mangelware – eine Dialogkultur, die den Mut zu offener, unpolemischer Diskussion und kritischem Denken pflegt und so auch die Auseinander­setzung mit Angst- und Feindbildern innerhalb und außerhalb der Kir­che ermöglicht.

Und ein Drittes, wo gerade die Kirche gefragt ist: In einer Welt, die sich für viele in Deutschland unsicherer anfühlt als noch vor einigen Jahren, gilt es, positive Erfahrungsräume zu schaffen. Hier geschieht schon viel, etwa in der Begegnungsarbeit mit Flüchtlingen oder dadurch, dass in kirchlichen Einrichtungen auch immer wieder Menschen einen Platz finden, die aus der Gesellschaft herauszufallen drohen oder schon her­ausgefallen sind und anfällig für verschwörungstheoretisch gefärbte Erklärungsmuster ihrer misslichen Situation geworden sind.

Hier wird schon deutlich: Verschwörungstheorien lassen sich nicht nur – oder gar nur zum kleinsten Teil – mit rationalen Argumentationen be­kämpfen. Vielmehr muss man auf ihre emotionale „Unterfütterung“ schauen: auf die Sorgen, Ängste, Verunsicherungen, Verletzungen und auf die Sehnsüchte, die sich dahinter verbergen: nach Sicherheit, nach Ernst-genommen-Werden – und nach persönlicher Handlungsfähigkeit inmitten einer komplexen, anonym gewordenen Welt.

Auch, was diese Handlungsfähigkeit betrifft, kann Kirche zwar kaum et­was von heute auf morgen ändern, bietet aber dennoch vielfältige Mög­lichkeiten an, sich am Einsatz für eine gerechtere Welt zu beteiligen. Und vielleicht lässt sich heute, wo sich Politikverdrossenheit mit ver­schwörungstheoretisch grundiertem Politiker-Bashing verbunden hat, die alte Tradition stärken, dass Kirche junge Menschen für verantwor­tungsvolles Engagement in Politik und Gesellschaft vorbereitet und bildet.

Fazit: Verschwörungstheorien und ihr Kontext (Reichsbürger und andere Extremismen) sind also nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Heraus­forderung, sondern eine Aufgabe auch für die Kirche – gerade, weil hier neben Gefährdungen auch viel Potential zum Gegensteuern vorhanden ist.