Die passagere Pastoral der Bahnhofsmission
Ein evangelischer Kommentar
Caritas und Innere Mission haben sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Zusatzdienste und Notdienste in Ergänzung zu der parochialen Regelversorgung entwickelt. Sie waren bitter nötig, aber kirchenrechtlich hatten sie keinen Status – sie waren nicht „Gemeinde/Pfarrei“. Und insofern gelten die passageren Dienste bis heute als defizitär. Sie sind Dienst als erste Hilfe, es entstehen Kontakte im Vorbeigehen, ohne – so meint man – Verbindlichkeit, Nachhaltigkeit, längerfristige Zusammengehörigkeit.
Aber dürfen wir die passageren pastoralen Dienste lediglich vor der Folie und dem Forum der Parochie sehen, die – nebenbei bemerkt – ebenfalls für manches Gemeindeglied in passagere Begegnungen, bei den Amtshandlungen bzw. Sakramenten z. B., mit langen Zwischenpausen zerfällt? Das Gegenüber, das Forum der Pastoral ist nicht die Kirche, sondern der Mensch, oder: Die Legitimation der Inneren Mission besteht nicht in der Nähe zur Sonntags-Gemeinde, sondern in der Wahrnehmung des „Volkes“ in seinen vielfältigen Bedürftigkeiten und sozialen Brennpunkten: teilweise ohne Orientierung Reisende, Wohnungslose, Arbeitslose, Hilflose, Trostlose …
Bei der Bahnhofsmission mündet das in einen missionarisch-diakonischen Gemischtwarenladen, dessen O-Töne (gesammelt von der stellvertretenden Leiterin der Bahnhofsmission Frankfurt a. M., 2008) dann so klingen:
„Hallo Schwester, ich brauch mal Unterwäsche und Socken“ oder:
„Wo fährt denn hier der Bus nach Litauen?“ oder:
„Und das soll Kirche sein! Keiner hilft mir hier, Scheißmission.“
Die kurzen Stichworte – längere Diskurse sind es fast nie – können aber auch tiefsinniger sein: Da sitzt eine Frau nach einem verpassten Zug in der Bahnhofsmission und spricht dann gar nicht über ihre Zugreise, sondern über ihre Lebensreise, über die sie – summa summarum – folgendes Selbsturteil spricht: „Ich glaube, ich habe in meinem Leben alles falsch gemacht“ (dokumentiert von Sauter-Ackermann/Bakemeier 2013). Oder es stürmt jemand in die Bahnhofsmission Dortmund und ruft: „Ist das nicht ein schöner Tag, um sich das Leben zu nehmen?!“ (mitgeteilt von der Leiterin der Bahnhofsmission). Bei insgesamt 2,1 Millionen Kontakten pro Jahr dominieren bei der Bahnhofsmission zwar die Reisehilfen und andere praktische Hilfestellungen, aber existentielle Fragen liegen ständig in der Luft. Häufig gibt es den Weg vom Kaffee zur Krise.
Mission und Diakonie sind ineinander verschränkt; wollte man sie voneinander trennen, so würde die „Eucharistie fragmentiert d. h. unsere Liebe zu den Menschen von unserer Liebe zu Gott und von Gottes Liebe zu uns abgeschnitten“ (Deus caritas est 14). Oder, wie Karl Barth betont: „Fürsorge für den ganzen Menschen. Wie viel sie auch für ihn tun mag – was hat sie ihm eigentlich damit zu sagen?“ (Barth 1959, 1024; zitiert bei Becker 2011, 23).
So bieten die passageren Dienste also eine großartige Gelegenheit ganzheitlicher Pastoral. Man darf sich nur nicht durch die ständige Legitimationsanfrage „War das genug? War das geistlich genug?“ irritieren lassen, auch wenn die Mitarbeitenden unter diesen Anfragen „seelsorgerlich“ wachsam bleiben sollten. Es braucht Menschen, die die „Mystik des offenen Blicks“ (Berufen zur Caritas 2009, 28) entwickeln, die „das Vorübergehende“ lieben und doch den Weg vom Smalltalk zum Existenz-Gespräch manchmal (si deus vult) gehen können: Und es begab sich, dass Jesus vorüberging, siehe, da war ein Mensch!