Religion in der Moderne
Ein internationaler Vergleich
Manchmal muss man nur ein kleines Stück fahren, um sich in eine deutlich andere Religionslandschaft zu begeben: beispielsweise von West- nach Ostdeutschland. Manche fliegen dafür sogar um die halbe Welt, machen Exposure-Touren, bemühen sich um weltkirchliches Lernen. Denn – Hand aufs Herz: Wie viel wissen wir schon über das religiöse Leben in unseren Nachbarländern? Und in der Tat ist es hilfreich zu erfahren, dass es anderswo ganz anders ist. So erhält man nicht nur neue Perspektiven, sondern vermeidet auch, in mehr oder weniger unbewusster, aber gleichwohl unsachgemäßer und irreführender Weise die ganze Welt nur mit Scheuklappen bzw. mit der eigenen Brille zu sehen.
Eine solche „Bildungsreise der religionssoziologischen Art“, bei der man sich nicht einmal aus dem Zimmer herausbegeben muss, bietet der vorliegende Band. Für Westeuropa untersuchen die Autoren Westdeutschland, Italien und die Niederlande näher, für Osteuropa Russland, Ostdeutschland und Polen; für den außereuropäischen Raum dienen als Fallbeispiele die USA, Südkorea und – abweichend vom bisherigen Vorgehen, das einzelne Länder in den Blick nahm – „Charismatische, pfingstlerische und evangelikale Bewegungen in Europa, den USA und Brasilien im Vergleich“. Hier wird deutlich, wie auch ein solch umfangreicher Band die religiöse Welt nur sehr exemplarisch in den Blick nehmen kann: Südkorea ist das einzige asiatische Land, Afrika, Australien und Ozeanien fallen völlig aus.
Wer sich schon länger mit (deutscher und internationaler) Religions- und Kirchensoziologie befasst oder gar schon einiges von Detlef Pollack gelesen hat, dem wird vieles nicht neu sein. Und so macht weniger der weltweite Umblick (den gab es bereits mit dem Religionsmonitor), sondern vielmehr das mit diesem Umblick verfolgte Ziel das Spezifikum des Bandes aus: die Entwicklung einer „multi-paradigmatischen Theorie“ der Religionssoziologie.
Die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungsthese und die Markttheorie sind Modelle, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Ebenso umstritten ist die Rede von der „Wiederkehr der Religion“. Und dann gibt es noch eine Fülle von weiteren Theoriebildungen, die zur Erklärung insbesondere länderspezifischer Entwicklungen herangezogen werden.
In diesen Streit der Theorien stürzen sich die Autoren. Durchaus auch cum ira: Überraschend bissige Bemerkungen findet man immer wieder im Buch: Da ist die Rede von der „willkürlichen Benutzung der Empirie“ (18), von „modischen Trends“ (16), von der „säkularisierungskritischen Erleuchtung“ Peter L. Bergers (91) etc. – bis schließlich den Kritikern der Säkularisierungstheorie immerhin ein „gewisser Überraschungs- und Unterhaltungswert“ zugestanden wird, da sie „gegen den Augenschein […] argumentieren“ (485). Aber auch cum studio – im besten Sinne des Wortes – bemühen sich Pollack und Rosta um ein tieferes, hintergründiges und vorurteilsfreies Verständnis der religiösen Situation und Dynamiken in einzelnen Ländern, bevor sie unter der Überschrift „Systematische Perspektiven“ die Erkenntnisse zusammenführen.
Auch wenn die Prägung der Autoren durch die Säkularisierungstheorie – vor allem sie verteidigen sie vehement gegen Kritiker! – unverkennbar ist, arbeiten sie auch zur Säkularisierung gegenläufige Dynamiken und ganz unterschiedliche Ausprägungen von Religion bei der Betrachtung der einzelnen Länder heraus und entwickeln daraus Theoreme, die die Vorstellung einer linearen, global einheitlichen Säkularisierung von Religion in der Moderne aufbrechen und die spezifischen Entwicklungen einzelner Länder/Regionen oder auch religiöser Bewegungen (z. B. Pentekostalismus) zu erklären vermögen. Dennoch betonen Pollack und Rosta: „Auch wenn Religion und Moderne, wie wir herausarbeiteten, durchaus kompatibel sind und Modernisierung nicht unausweichlich zu Säkularisierung führt, ist die Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen der Modernisierung auf Religion relativ hoch“ (484).
Einige dieser Theoreme seien bei der Betrachtung einzelner Ländern vorgestellt – wobei der Eigenwert dieser Länderuntersuchungen nicht zu unterschätzen ist: Sie lassen sich bei spezifischem Interesse durchaus auch separat lesen.
Besonders breit fällt die Untersuchung von Westdeutschland aus. Die Autoren zeichnen die Entwicklung nach 1945 nach und sehen als Grundlage der Entkirchlichung vornehmlich „eine in der Geschichte der Menschheit einzigartige Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungskraft, wie sie sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den westeuropäischen Staaten vollzog“ (156). Dabei betonen Sie, dass kirchliches Handeln höchstens sehr bedingt Einfluss auf diese Entwicklungen hat – wie gerade die weitgehende Parallelität der Austrittszahlen von katholischer und evangelischer Kirche zeigt. Vielmehr entwickeln sie im Laufe des Buches eine „Distraktionshypothese“, die für viele moderne Länder relevant ist: Ein hohes Angebot in den Bereichen Freizeit, Unterhaltung, Konsum etc. bewirkt, dass Menschen oftmals einfach Besseres zu tun haben, als sich religiös zu betätigen (z. B. Kirchgang): keine bewusste Abwendung, sondern eher eine Art Ausdruck religiöser Indifferenz!
Pollack und Rosta versuchen aber nicht, nur die generelle Richtung – sprich: Säkularisierung – zu erklären, sondern suchen auch nach Gründen für einzelne Aspekte: etwa die Stabilität der Kirchenbindung nach dem Krieg, die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Entkirchlichung und Glaubensabbruch, die unterschiedlichen Entwicklungen bei evangelischer und katholischer Kirche oder die Schwäche außerchristlicher Religiosität in Deutschland. All das weist darauf hin, dass hier verschiedene Kräfte und Entwicklungsstränge nebeneinander aktiv sind.
Auch benachbarte Länder können eine ganz unterschiedliche Religionsgeschichte haben. Um die Spezifika der Niederlande zu erfassen, greifen die Autoren weiter aus – bis ins 18. Jahrhundert (während sie sonst vornehmlich Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in den Blick nehmen). Unter bestimmten Umständen entwickelten sich im 19. Jahrhundert dann geschlossene konfessionelle Milieus, die ihren Mitgliedern ein umfassendes Programm in den Bereichen Bildung, politische Parteien, Sozialleistungen, Medien etc. anboten – bei gleichzeitig hoher Sozialkontrolle. Zwar profitiert Glaube von der Einbindung in gemeinschaftliche Strukturen; allerdings gilt auch, dass die intrinsischen Glaubensmotive zurückgehen, wenn das religiöse „Individuum gegenüber den gemeinschaftlichen und institutionellen Erwartungen kaum noch Spielraum besitzt“ (477; Übermächtigungsthese). Umso heftiger war dann der Zusammenbruch des konfessionell versäulten Systems in den Niederlanden, als diese Milieus der Modernisierung nicht mehr standhalten konnten.
Für die osteuropäischen Staaten in der postkommunistischen Zeit wurde vielfach ein religiöser Aufschwung diagnostiziert. Tatsächlich spricht vieles dafür – die Situation und Entwicklung in den einzelnen Ländern ist aber höchst unterschiedlich:
Polen (ähnlich Italien) ist ein Beispiel für das „Theorem der mehrheitlichen Bestätigung“: Entgegen den Annahmen der religionssoziologischen Markttheorie scheint religiöse Homogenität den Einzelnen in seinem religiösen Leben zu bestätigen und somit säkularisierungshemmend zu wirken – erst recht, wenn diese konfessionell homogene Kultur durch interne Pluralisierung (also verschiedene Strömungen innerhalb der Mehrheitskonfession) belebt wird (Theorem der internen Diversifikation). Allerdings greift die mehrheitliche Bestätigung auch in Ostdeutschland – nur ist hier die „Mehrheitskonfession“ die Konfessionslosigkeit!
Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung ist ein wesentliches Element der Modernisierung – mit meist negativen Effekten für Religion. Für Russland greift dagegen die Entdifferenzierungstheorie: Die Orthodoxie ist mit politischen und nationalen Interessen eng verknüpft und gewinnt dadurch soziale Relevanz. „Orthodox“ wird vielfach mit „russisch“ gleichgesetzt. Beteiligung am kirchlichen Leben, religiöse Erziehung und sonstige religiöse Praktiken sind dagegen kaum feststellbar. „Der religiöse Aufschwung in Russland macht den Eindruck einer Luftblase“ (263), stellen die Autoren fest und konterkarieren mit ihren Zahlen nicht nur putinsche Propaganda, sondern auch die Rede von einer „noch nie dagewesenen Erneuerung des christlichen Glaubens“ in Russland, von der die gemeinsame Erklärung von Havanna von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill in Nr. 14 spricht.
Die USA sind nach Westdeutschland das Land, dessen Untersuchung den meisten Raum einnimmt. Das liegt wohl auch daran, dass die USA als das Paradebeispiel für die Markttheorie gelten, die davon ausgeht, dass religiöse Pluralität nicht nur den religiösen Wettbewerb, sondern auch die Religiosität insgesamt erhöht. Obwohl die Autoren in der Tat ein gegenüber Westeuropa deutlich höheres Religiositätsniveau feststellen (und eine grundverschiedene religiöse Landschaft zeichnen), nehmen sie nicht nur deutliche Begrenztheiten dieser Pluralität wahr (so sind die meisten Countys – eine Art Landkreise – von einer Konfession geprägt, der mehr als die Hälfte der Bewohner angehört), sondern auch religiöse Abbruchtendenzen und zunehmende Konfessionslosigkeit. Ihr Fazit: „Als Erklärung für die hohe religiöse Vitalität in den USA kann man die von der ökonomischen Markttheorie aufgestellte Wettbewerbsthese weitgehend ausschließen“ (367). Vielmehr verweisen sie für religiositätsfördernde Faktoren auf das Ausmaß sozialer Ungleichheit, die enge Verbindung von Religion und Politik, die starke Immigration, die religiösen Mehrheitsverhältnisse, die religiöse Durchdringung der Populärkultur und den amerikanischen Frömmigkeitsstil, der von der Vorstellung eines aktiv in die Welt eingreifenden Gottes geprägt ist.
Das Wettbewerbsmodell der Markttheoretiker sehen Pollack und Rosta dagegen als weiterführend für die Analyse von Südkorea an. Hier zeigen sich aber auch mögliche Grenzen für weltweite Religionsvergleiche, wenn etwa in diesem traditionell nichtchristlich geprägten Land nach der Selbsteinschätzung als „religiös“ oder „spirituell“ oder nach dem „Kirchgang“ gefragt wird. Südkorea zeichnet sich aber durch einen erstaunlichen Aufschwung des Christentums, aber auch des Buddhismus seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Dabei spielt für den Protestantismus, der in Südkorea stark von pfingstlichen Strömungen und vom Wohlstandsevangelium geprägt ist, vor allem eine Rolle, dass er mit Versprechungen von sozialem Aufstieg und Reichtum verbunden ist. Die Entwicklung dieses Protestantismus hat offenbar mittlerweile seinen Zenit überschritten – die extrinsischen Mitgliedschaftsgründe konnten oftmals nicht in intrinsische überführt werden; viele wandern zur katholischen Kirche ab. Bezüglich des Buddhismus – der allerdings nur kurz abgehandelt wird – heben die Autoren seine Wandlung „von einer Mönchsreligion zu einer am westlichen Konzept orientierten Mitgliedschaftsreligion“ (399) hervor.
Auch bei der Auseinandersetzung mit Evangelikalismus und Pfingstlertum in Europa, den USA und in Brasilien motiviert die Autoren, dass hier die Säkularisierungstheorie in Frage gestellt zu werden scheint. Pollack und Rosta diskutieren verschiedene Erklärungsansätze und überprüfen sie anhand des vorliegenden Zahlenmaterials. Wiederum wird deutlich: Die Situation in den einzelnen Ländern/Erdteilen ist unterschiedlich und entsprechend verschieden zu erklären. Der Pentekostalismus in Brasilien kann an die religiöse Mehrheitskultur (die dortige Form des Katholizismus) anknüpfen: „Da die Pfingstgruppen auf den über die katholische Kirche vermittelten Wertvorstellungen, Glaubensgehalten und rituellen Praxisformen aufbauen können, sind sie in der Lage, sich parasitär an sie anzulagern, und profitieren von ihnen“ (431). Dagegen „kann die Nischentheorie, die die Resistenz kleiner religiöser Gruppen auf ihre Abschottung von ihrer Umgebung zurückführt, auf die europäischen Verhältnisse recht gut angewendet werden“ (432). „In den USA hingegen hat der Erfolg der pfingstlerischen und evangelikalen Gruppen offenbar viel mit ihrem Konfliktverhältnis zu ihrer Umwelt sowie mit ihrer auffällig hohen internen Homogenität zu tun“ (433).
Dies sind in diesem Kapitel freilich recht grobe Verallgemeinerungen, die die interne Vielfalt von Evangelikalismus und Pentekostalismus über einen Leisten spannen. Und auch sonst fällt auf, dass gerade der Begriff „Protestantismus“ in den jeweiligen Ländern sehr Unterschiedliches meint, ohne dass dies ausreichend problematisiert würde.
Ebenso wenig wird problematisiert, dass sich der Band auf christliche Religionswelten konzentriert. Das allein schon durch die Auswahl der Länder, unter denen Südkorea als einziges nicht traditionell christlich geprägtes heraussticht, aber auch dadurch, wie nichtchristliche Minderheiten (z. B. Muslime) weitgehend ausgeblendet werden. Von daher bleibt auch die Frage offen, wie weit die ermittelten Theoreme für nichtchristlich geprägte Länder gelten.
Etwas unklar bleibt auch die intendierte Zielgruppe des Buches: nur Religionssoziologen – oder auch andere Interessierte? Wer sich als Nichtsoziologe auf das Buch einlässt, muss sich bewusst sein, dass er einige wenige Passagen mit soziologischem „Fachchinesisch“ nicht verstehen wird; auch wird er gerade in Kapitel 13 (Makro- und mikrosoziologische Erklärungen im Ländervergleich) kaum nachvollziehen können, wie viele Zahlen berechnet werden und wie sie einzuschätzen sind. Doch das sollte den interessierten Leser oder die interessierte Leserin nicht beirren und mindert auch für Nichtsoziologen den Wert des Buches nur unwesentlich. Dennoch wäre es schön gewesen, wenn manche Begrifflichkeiten und Methodologien auch für Fachfremde zumindest kurz erläutert worden wären.
Und wenn wir schon bei Wünschen sind: Leider gibt es nur ein grobes Inhaltsverzeichnis, das die Untergliederung der Kapitel nicht wiedergibt. Umfangreich ist nicht nur das Literaturverzeichnis, sondern auch das Personen- und Sachregister; doch ein Verzeichnis der zahlreichen Tabellen und Grafiken fehlt leider – da hier vielfältiges Zahlenmaterial kompakt zusammengestellt ist, das man sonst mühsam recherchieren müsste, hätte ein solches Verzeichnis den Band noch besser als eine Art Nachschlagewerk nutzbar machen können.
Mit dieser Kritik ist aber auch schon die Würdigung angedeutet: Pollack und Rosta legen mit dem Band, dessen Inhalte hier nur selektiv vorgestellt werden konnten, nicht nur spannende und auf Zahlen gestützte Einblicke in die religiöse Diversität unserer Welt vor, sondern zeigen auch auf, wie unterschiedlich sich Religion entwickeln kann und dass dies nicht monokausal erklärt werden kann. Dabei sind ihre Argumentationen insgesamt fundiert, differenziert und nachvollziehbar dargestellt. Zu dieser Solidität trägt auch der Eingangsteil, „Theoretische Überlegungen“ überschrieben, bei: Hier machen die Autoren ihre leitenden Fragestellungen und ihre Methodologie explizit.
Nicht nur Lesende aus der Weltanschauungsarbeit werden zu schätzen wissen, dass „außerkirchliche Religiosität“ – also Praktiken und Vorstellungen aus dem am ehesten als esoterisch zu bezeichnenden Bereich – sowie Konfessionslosigkeit/Atheismus regelmäßig in die Untersuchungen miteinbezogen werden. Gerade aber für alle an einer missionarischen Pastoral Interessierten ist der Band erkenntnisreich, wird doch darin deutlich, welche Faktoren auf die religiöse Entwicklung (Mitgliederzahlen, Religiosität …) einwirken können. Dabei wird deutlich: Viel – etwa bei der zunehmenden Entkirchlichung in Deutschland – hängt gar nicht vom Handeln der Kirchen bzw. Kirchenleitungen und pastoral Mitarbeitenden ab, sondern von gesamtgesellschaftlichen Trends und Gegebenheiten. Das heißt auf der Gegenseite: „Im Widerspruch zu den Annahmen der Individualisierungstheorie erwies sich nicht der kirchlich ungebundene Gottesglaube als besonders autonom und selbstbestimmt, sondern der kirchlich gebundene“ (474). Religion – und gerade auch kirchlich organisierte – ist also keineswegs nur eine überholte Konvention vergangener Zeiten; gerade im internationalen Blick zeigt sich, dass Religion ganz unterschiedliche Wege gehen und immer wieder überraschen kann.
Martin Hochholzer