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Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden

Ulrich Duchrow beginnt sein Buch mit einer Erinnerung an seine Braun­schweiger Schulzeit und die Ausflüge in den Elm zum Tetzelstein und dass jedes Kind damals den Spruch kannte: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.“ Der Streit um den Ablass war der Ausgangspunkt der Reformation, doch warum wurde daraus eine weltumspannende Bewegung? Die These des Autors, Heidelberger Theo­logieprofessor: „Die Tatsache, dass sogar das Heil käuflich gewor­den war, verweist darauf, dass der Frühkapitalismus bereits das Ganze der damaligen Zivilisation erobert hatte. Gewinn und Habgier hatten begonnen, das ganze Leben zu regieren. Damit trifft Luther das Herz der frühkapitalistischen Situation.“ Duchrow zeichnet nun zunächst gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtlich nach, wie sich die Ökonomie – übrigens schon damals europäisch: Venedig, Genua … – entwickelte und sich Politik und Kirche dem so einpassten, dass sich Diesseits und Jenseits zu einer Welt des ökonomischen Kalküls entwickeln konnten: „Lieber Jesus, mach mich reich, dass ich komm ins Himmelreich.“ Doch schon früh entwickelten sich reformatorische Gegenbewegungen: Petrus Valdes, Franziskus von Assisi, John Wyclif, Jan Hus … Die Ver­tre­ter der ersten Reformation waren alle auch Kritiker der beginnenden Geld- und Wucherwirtschaft, sodass begründet gesagt werden kann, dass dann auch im Zentrum der lutherischen Reformation „eine Neu­bestimmung des Geldes steht“ (B. Hamm). Jesu Alternative „Gott oder Mammon“ rückt Luther ins Zentrum nicht lediglich seiner Auslegung des ersten Gebotes: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir“, sondern seiner gesamten Theologie, die gelesen werden kann als Kritik der „Verkoppelung von Gottes- oder Götzenbezug und kapitalistischem System“. Der Hauptteil des Buches dient nun der klaren wie gelehrten Begründung dieser These. Ein wei­teres Kapitel ist „Karl Marx als prophetische[m] Kritiker des Industrie­kapitalismus“ gewidmet. Dabei wird deutlich, wie Marx von der Öko­nomie­kritik Luthers profitiert (man staunt allein über die vielen Lutherzitate in Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“) und wie er reforma­torisches Gedankengut zur Kritik des ihm zeitgenössischen Judentums und Christentums heranzieht, beispielsweise die hellsichtige Beob­achtung Thomas Müntzers, „dass alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden“ und daraus seine Forderung: „auch die Kreatur müsse frei wer­den“. Vor allem aber wird in diesem Kapitel deutlich, wie aktuell die Kritik von Marx (unter Aufnahme insb. von Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci) ist, seitdem der Neoliberalismus sich endgültig welt­weit durchgesetzt hat. Dies ist dann der Punkt, an dem Papst Franziskus in diesem Buch zu Wort kommt, der 2013 in seinem Apostolischen Schreiben Die Freude des Evangeliums festhielt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Damit hat der Vatikan nachgeholt, was weltweit die lutherischen und reformierten Kirchen zu Beginn des zweiten Jahrtausends formulierten: Ausgehend vom Leid der Menschen erklären beide Weltbünde der Kir­chen „den Neoliberalismus, der Eigentum und Markt absolut setzt, zu Götzendienst und fordern Widerstand und Transformation“. Schließlich kann Duchrow zeigen, dass es nicht lediglich einen ökumenischen, sondern ebenso einen interreligiösen (als Beispiele nennt er jüdische, islamische und buddhistische Stimmen) Konsens zu den vier „Neins“ gibt, die Papst Franziskus in dem genannten Schreiben formuliert hat und die wie Hammerschläge tönen: „Nein zu einer Wirtschaft der Aus­schließung. Nein zur neuen Vergötterung des Geldes. Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen. Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.“ Duchrow hat mit seinem Buch einen Konsens aufgezeigt, der religiöse und soziale Bewegungen einen und zu einer antikapitalistischen Praxis motivieren kann. „Die Klimakatastrophe ist das ultimative Menetekel an der Wand des Menschheitshauses. Das bedeutet, der Kapitalismus – also die vom Kapitalwachstum angetrie­bene imperiale Wirtschaft und Lebensweise, die Gesamtzivilisation – muss überwunden werden, auch wenn noch nicht klar ist, wie das im Einzelnen geschehen kann und wird.“ Viele Ansätze und Bewegungen dazu gibt es …

Dr. Gottfried Orth ist Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Technischen Universität Braunschweig.