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Schön und passend? Grundlagen einer Pastoral der Zeichen der Zeit

„Die größte Menschenmenge bei der Einführung eines US-Präsidenten aller Zeiten“, so verbreitete es der derzeitige US-Präsident über den Nachrichtendienst Twitter. Es brauchte nur eines Bildes – eines Foto­ver­glei­ches zwischen der Menschenmenge bei der Einführung des US-Prä­si­den­ten Trump und der bei der seines Vorgängers Obama – und diese Nachricht war eindeutig als Fakenews entlarvt. Diese Einfachheit und Nachhaltigkeit eines Fotobeweises macht deutlich, welche bleibende Wirkung Bilder bei Menschen entfalten. In umgekehrter Weise zeigt sie sich auch, wenn manipulierte Bilder zur Verbreitung von Fakenews verwendet werden. Diese Macht der Bilder liegt zum einen daran, dass wir uns visuellen Reizen kaum entziehen können und die Leichtigkeit der Verbreitung von Bildern durch die modernen Kom­mu­ni­ka­tions­mit­tel gerade innerhalb der Jugendkultur stark zugenommen hat. Zur vol­len Erklärung dieser Macht gehört jedoch auch, dass wir Menschen kaum anders können, als dem zu glauben, was wir sehen. Eine Tatsache, die sich nicht zuletzt in der Bezeichnung von Eindrücken als „Wahr-nehmung“ ausdrückt.

Von dieser Feststellung her ist es nur noch ein kurzer Weg zu der An­nah­me, dass auch in den Vollzügen des christlichen Glaubens Wert auf eine ganzheitliche, stimmige Sinneserfahrung gelegt werden sollte. Doch wie findet man zu solchen passenden Ausdrucksformen zwischen Glau­bens­welt und Lebenswelt, Tradition und Gegenwartskultur, zwischen Kirche und Welt? Mit dieser Frage befasst sich das Buch von Bernd Hil­le­brand „Schön und passend? Grundlagen einer Pastoral der Zeichen der Zeit“, das die Dissertationsarbeit des Tübinger Hochschulpfarrers dar­stellt. Ihre entscheidende Inspiration nimmt die Arbeit beim Bochumer Pastoraltheologen Matthias Sellmann und aus dem von ihm kon­sta­tier­ten „iconic turn“ (vgl. 12, 22, 43 f.).

Die Schlüsselrolle spielt für Hillebrand die Methode der „ästhetischen Passung“. Letztlich geht ihm in seiner Arbeit darum, diese Methode zu entfalten und seine Relevanz zu untermauern und sie als Instrument zur Überprüfung und zur Neuentwicklung neuer kirchlicher Aus­drucks­for­men auszuweisen. Um sich dem Thema anzunähern, betrachtet Hil­le­brand dazu zunächst seine eigenen Erfahrungen von Stimmigkeit in­ner­­halb seines persönlichen Glaubenslebens, als Jugendpfarrer in Ra­vens­burg und als Hochschulpfarrer in Tübingen. Dabei stellt er auch eine Studie vor, die während seiner Zeit innerhalb der KHG Tübingen durchgeführt wurde. 

Das zweite Kapitel arbeitet die zunehmende Bedeutung des Äs­the­ti­schen als ein Gegenwartsphänomen heraus, welches als ge­sell­schaft­liche Avantgarde insbesondere die Jugendkultur betrifft. Dazu ana­ly­siert Hillebrand zunächst aktuelle Gesellschafts- und Kirchenstudien. Mit dem Begriff der Ästhetik wird durch Hillebrand gemäß ihrem grie­chischen Ursprungswort aisthesis all das bezeichnet, was als sinnliche Wahrnehmung und als sinnliche Erkenntnis gelten kann (vgl. 55). Zur zunehmenden Bedeutung des Ästhetischen gehört es, dass dieses nicht mehr nur der Vermittlung von Erkenntnis dient, sondern selbst zum Träger von Sinngehalten und zum Ort der Erkenntnis wird. Ferner setzt Hillebrand die zunehmende Bedeutung des Ästhetischen in ein Ver­hält­nis zum Wahrheitsbegriff der Postmoderne und arbeitet den pragma­tischen, funktional-bedarfsorientierten Zugriff der Ju­gend auf Religion in dieser Zeitepoche heraus. Die zunehmende Bedeutung des Ästhe­ti­schen ist für ihn insofern ein Phänomen der Postmoderne, als das Ästhetische einen pragmatischen Umgang mit Sinngehalten zulässt, ohne völlig be­lie­big zu sein. Hillebrand macht so deutlich, dass sich die Kirche einer ästhetischen Formatierung ihrer Deutungsangebote nicht verschließen kann: „Kommunikation und vor allem die Kommunikation von re­li­gi­ö­sen Gehalten ist an ‚Visualität, die Sphärik und Emo­ti­o­na­li­tät‘ gebunden“ (82, mit Verweis auf Matthias Sell­mann; Kursivierung entfernt).

Das dritte Kapitel stellt das Herzstück der vorliegenden Arbeit dar. An­hand einer Analyse der biblischen Bedeutung des Zeichens, ins­be­son­dere innerhalb des Johannesevangeliums, stellt Hillebrand zunächst her­aus, dass das Zeichen allein keine hinreichende Bedingung für ein Zum-Glauben-Kommen, welches letztlich ein Ereignis und ein Prozess der Gnade ist, dar­stellt. Der Kern des Kapitels liegt allerdings in der Er­ar­beitung einer Kriteriologie für eine ästhetische Passung.  Die­se ent­deckt Hillebrand in der pragmatizistischen Semiotik (Zeichenlehre) des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce. Grundlage bildet die Beobachtung, dass der peirceschen Semiotik, die von einem Subjekt-Objekt-Verhältnis ausgeht, letztlich eine Innen-Außen-Konstellation zu­grun­de liegt, in der das Innen und das Außen jeweils im Zeichen dar­gestellt wird. Dieses Zeichen bildet damit bei Peirce das Instrument einer Überschreitung vom Innen zum Außen, ohne dass das jeweilige Innen in seinem jeweiligen Außen aufgelöst würde. Hillebrand weist nach, dass dieses Zeichenverständnis dem Begriff der „Zeichen der Zeit“ aus der Konzilskonstitution Gaudium et spes, die das Innen-Außen-Ver­hältnis von Kirche und Welt verhandelt, als Kriteriologie zugrunde ge­legt wer­den kann. Wichtig ist dabei der Hinweis auf den gegenüber der En­zy­kli­ka Pacem in terris veränderten Begriff der Zeichen der Zeit im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils, der ein ineinander über­greifendes, aus­geglichenes Wechselverhältnis zwischen Kirche und Welt beinhaltet: „Es geht also [bei den Zeichen der Zeit des Zweiten Vatika­nums anders als bei Pacem in terris; JT] nicht um gesellschaftliche Zeit­zeichen einer ganz bestimmten Zeit, sondern um das Suchen und Fin­den von Ant­worten, von Ant­wor­ten aus dem Glauben und Ant­worten des Glaubens aus der Welt“ (154). Religiöse Aus­drucks­for­men verfügen demnach über eine ästhetische Passung, wenn sie in der Lage sind, sowohl auf das Außen der Welt als auch auf das Innen der Offenbarung zu verweisen und sowohl das eine als auch das andere gleichermaßen zu re­prä­sen­tie­ren, ohne sie ineinander aufzulösen. Wird dieses Kriterium nicht mehr erfüllt, so müssen gemäß Peirce auf Grundlage der alten Zeichen des Innen und des Außen in einem forschenden, kreativen Pro­zess der „Ab­duk­tion“ neue Zeichen gefunden werden. Nicht nur ge­mäß der kai­ro­lo­gi­schen Studie aus dem vorangegangenen Kapitel der Kultur der Zeit, sondern auch aus der Logik der Gaudium et spes zugrunde­liegenden Semiotik heraus erschließt Hillebrand, dass diese ästhe­ti­scher Natur sein müssen. 

Im abschließenden praxeologischen Teil wendet Hillebrand den ge­won­ne­nen Zeichenbegriff auf gegenwärtige religiöse Wiederentdeckungen innerhalb des Kirchenbaus, der Kirchenmusik und des Pilgerns sowie auf neu zu findende Ausdrucksformen innerhalb der Grundvollzüge der Kirche an. Außerdem macht er deutlich, dass der Glaube in seiner äs­the­ti­schen Konfiguration zu einer „Entzwingung“ gelangt, die der ge­gen­wär­ti­gen Kultur angemessen erscheint: „Glaube wird weggeführt von seiner zwingenden [Heils-; JT] Notwendigkeit. Glaube ist ein ‚Su­per­addi­tum‘, völlig umsonst, gratis und kostbar“ (269). Eine Formulierung, die durch­aus dogmatischen Sprengstoff bietet. Grundlage zur An­wen­dung der peirceschen Semiotik auf die einzelnen Bereiche ist jeweils das Auf­de­cken des Wechselverhältnisses des Innen-und-Außen, in dem die re­li­gi­ö­sen Zeichen stehen. So steht beispielsweise das Pilgern in einer Wech­sel­be­zie­hung, die in ein balanciertes Verhältnis gebracht werden muss, um nicht seinen religiösen Gehalt zu verlieren: „Pilgern als Tiefe­ner­fah­rungs­zei­chen, das ein Zeichen für die Ahnung von ‚mehr‘ ist, setzt vor­aus, dass dieses Zeichen ein Wechselverhältnis zwischen dem Innen des Glaubens, der eigenen Überschreitung, dem Fernweh, und dem Außen des eigenen Lebens, den eigenen Fragen und Her­aus­for­de­run­gen des All­tags, dem Heimweh, darstellen kann. Löst sich das Pil­gern in einem der Verhältnispole gänzlich auf, dann wird Pilgern zur Farce“ (313).

Es gelingt Hillebrand aufzuweisen, dass die peircesche Semiotik ein Hilfs­mit­tel bietet, um innerhalb der religiösen Vollzüge und Aus­drucks­for­men zu einer ästhetischen Passung zu gelangen. Außerdem bietet sie ihm eine Denkform, um auf Basis des Gegebenen zu neuen Aus­drucks­for­men zu finden. Die Analyse der grundlegenden Wech­sel­ver­hält­nis­se bleibt der/dem Anwendenden allerdings selbst überlassen. Eine all­ge­mei­ne Methodik hierfür vermag das Buch nicht anzubieten. Die Lei­stungs­fä­hig­keit der pragmatizistischen Semiotik Peirces kommt somit bei aller intellektuellen Tiefe als Ar­beits­in­stru­ment in der Pastoral den­noch über den Rang eines Hilfsmittels und des Angebots einer Denk­form nicht hinaus. Das Buch stellt demnach auf der Suche nach zeit­ge­mä­ßen Zeichen des Glaubens kein Wun­der­werk­zeug zur Ver­fügung, kann aber als Angebot eines Analyseinstruments vor allem dem/der philosophisch vorgeprägten Leser*in ans Herz gelegt werden.

Ein auch in einer Doktorarbeit gerade von seiner thematischen Breite her beeindruckendes Literaturverzeichnis und das Protokoll der Er­geb­nis­se der Gemeindebefragung der KHG Tübingen schließen das Buch ab.

Jörg Termathe