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Die Lebensführungstypologie

Eine integrative Typologie der Lebensführungen in der BRD

Die Lebensführungstypologie ist ein Open-Access-Instrument zur Analyse sozia­ler Strukturen mithilfe von Lebensstilen. Als integratives Modell lassen sich zahlreiche andere Milieu- und Lebensstilmodelle darauf projizieren – und umgekehrt. Dabei zeichnet sich die Lebensführungstypologie dadurch aus, dass sie theoretisch fundiert bzw. konzeptioniert ist. Sie ist zudem empi­risch zuverlässig konstruiert. Die Markt-Media-Studie „best 4 planning“ liefert mit über 45.000 Fällen eine passable Datenbasis zur Konstruktion sowie zur empirischen Beschreibung und Validierung der insgesamt zwölf Lebensführungstypen.

1. Einleitung

Die Lebensführungstypologie geht auf sozialwissenschaftliche Grund­lagenforschung von Gunnar Otte in den frühen 2000er Jahren zurück. Sein Forschungsanliegen war, die vielfältige Landschaft unterschiedli­cher akademischer und nicht-akademischer Lebensstilmodelle, deren Struktur, Erklärungskraft und sozialwissenschaftliche Grundierung in den Blick zu nehmen, um ein integratives und vor allem frei verfügbares Lebensstilmodell zu entwickeln. Es geht also nicht um ein neues Pro­dukt auf dem Markt der Lebensstilmodelle, sondern es handelt sich eher um ein Meta-Modell. Aus den vielen Desideraten, die Otte in der Sekun­däranalyse von nahezu 30 Modellen ermittelt hat, ergaben sich neue Eigenschaften: Die Typologie ist frei verfügbar und replizierbar. Sie ist zudem unabhängig von Erhebungszeit und Erhebungsraum. Die Milieu­zuordnung ist zudem unabhängig von der Stichprobenzusammenset­zung und vom Zuordnungsalgorithmus des Statistikprogramms. Damit wird kumulative Forschung möglich, weil das Instrument in unter­schied­lichen Forschungszusammenhängen immer die gleichen Eigen­schaften misst. Viele Modelle waren bis dahin zudem eher theoriearm: Wie entstehen soziale Milieus? Wohin entschwinden oder diffundieren sie? Welche Logik steckt in der Alltagsinszenierung der Menschen?

Das Modell von Otte aus dem Jahr 2005 ist von der Datenbasis und hin­sichtlich der Variablen „in die Jahre gekommen“. Daher haben wir (die Autoren dieses Beitrags) das Modell einem Relaunch unterzogen, um ein aktualisiertes und differenzierteres Modell zu entwickeln. Dabei haben wir die sozialwissenschaftliche Architektur, die Gunnar Otte entwickelte, nahezu komplett beibehalten und neu operationalisiert.

2. Sozialwissenschaftliche Theorie

Die Lebensführungstypologie beschreibt modellhaft einen zweidimen­sio­na­len sozialen Raum. Die horizontale Achse beschreibt den Grad der individuellen Modernität in Abhängigkeit von Lebensalter und sozialer Herkunft (Generation). Die vertikale Achse berücksichtigt den subjekti­ven Umgang des Individuums mit den Ressourcen „Bildungsgrad“ und „ökonomisches Kapital“ (Einkommen, Vermögen). Diese Dimensiona­lität zeichnet zahlreiche Lebensstilmodelle aus. Beide Dimensionen lassen sich mit einschlägigen sozialwissenschaftlichen Theorien grun­dieren:

(1) Bezüglich des Lebensalters gilt: Der Lebenslauf in einem Wohlfahrts­staat ist nach Martin Kohli, einem schweizerischen Soziologen, mindes­tens dreigeteilt: in eine Phase der biografischen Offenheit (Jugend/Jun­ge Erwachsene), in eine Phase der biografischen Konsolidierung und Eta­blierung (Erwerbsphase) und in eine Phase der biografischen Schlie­ßung (Ruhestandsphase). Umbrüche und Unregelmäßigkeiten sind hier­bei berücksichtigt. Jede Phase provoziert individuelle Investitionen: in Neues (Offenheit), in Orientierung und Bindung (Konsolidierung), hin­sichtlich einer Neuorientierung und Klärung (Etablierung) und hinsicht­lich Konservativismus und Ordnung (Schließung). Jede Phase korres­pon­diert auch mit der sozialen Herkunft des Individuums: die Nach­kriegs­generation mit ihren Pflicht- und Akzeptanzwerten, die 68er-Generation bzw. die Babyboomer mit ihren Selbstentfaltungs- und Modernisierungswerten sowie die noch junge „Generation X“ und die Millennials mit ihren postmodernen Wertekonfigurationen und -samp­lings („Generation Y“). Hinsichtlich der Theorie und Erforschung des Wertewandels in Abhängigkeit von den Generationen ist vor allem der deutsche Soziologe Helmut Klages zu nennen. Die horizontale Achse in der Lebensführungstypologie nennen wir „Biografische Route/‌Moderni­tät“.

(2) Bezüglich des Einkommens und des Bildungsgrades gilt: Beide Para­me­ter werden vom Individuum als Kapitalien, als Ressourcen in den Lebensalltag „investiert“. Kulturelle Vorlieben kommen so zum Vor­schein (volkstümliche, populäre, triviale oder hochkulturelle Schema­ta), ebenso Investitionen in einen anspruchsvoll-gehobenen, respekta­bel-strebenden oder kalkulierend-bescheidenen Lebensstil. Diese ver­tikale Achse, die sich stark auf die soziale Lage bezieht, nennen wir „Ausstattungsniveau“. Dieses Investitionsparadigma beruht auf den Theorien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er war auch einer der ersten Sozialwissenschaftler, die eine Art „sozialen Raum“ skizzierten – die Basis aller zweidimensionalen Lebensstilmodelle bzw. Milieulandkarten der Gegenwart.

3. Bestechende Einfachheit und Genauigkeit

Im Zusammenspiel beider Dimensionen (Biografische Route/‌Ausstat­­tungs­niveau) ergibt sich ein sozialer Raum aus 4 x 3 Einzelfeldern, den zwölf Lebensführungstypen. Die obige Grafik gibt die Lebensstile in der BRD in ihren prozentualen Anteilen und ihrer systematischen Anord­nung im sozialen Raum wieder. Otte erkannte, dass ein großer Teil der knapp 30 Lebensstilmodelle, die seit Anfang der 1980er entwickelt wor­den sind (darunter die prominenten Modelle von Sinus, Sigma und Del­ta sowie das sozialwissenschaftliche Modell von Gerhard Schulze aus den frühen 1990er Jahren) die Idee des sozialen Raums aufgreifen, die Pierre Bourdieu Ende der 1970er Jahre formulierte.

Die Lebensführungstypologie wird mit nur 14 Variablen (sieben Variab­len pro Dimension) berechnet. Jede Variable ist dabei ein Statement zu grundlegenden Werte- und Konsumbereichen. Die Auswahl der Variab­len unterliegt dabei wichtigen Kriterien: Sie müssen in verschiedenen lokalen Zusammenhängen anwendbar sein und korrelieren im Idealfall mindestens moderat mit (ausschließlich) einer der beiden Dimensionen (Variable Alter, Bildung bzw. Einkommen). Sie sollten zudem ich‑bezo­gen formuliert sein und sich auf alltägliche bzw. ästhetisch-kulturelle Handlungszusammenhänge beziehen. Zugleich sollten sehr speziali­sier­te Variablen außen vor bleiben, denn sonst gerät ein Modell in Gefahr, Scheinkorrelationen zu produzieren. Ein Modell, dem ein Statement zur persönlichen Einstellung zum Umweltschutz zugrunde liegt, wird beispielsweise vorhersehbare Erkenntnisse innerhalb einer großen Um­weltstudie produzieren.

Die Zuordnungsprozedur einzelner Fälle oder großer Stichproben ist kinderleicht: Mithilfe eines Summenindex pro Dimension (Ausstat­tungs­­niveau und Modernität/‌Tradition) wird eine genaue Zuordnung zu einer der zwölf Lebensstilgruppen möglich. Unschärfen durch Über­lappungen sind ausgeschlossen. Gleichwohl werden Unschärfen sicht­bar, weil es sich hinsichtlich des Antwortverhaltens in der Erhebungs­phase um die subjektiveVerarbeitung der beiden Dimensionen handelt. Damit kann man im gehobenen Alter durchaus noch biografisch offene Lebensstile aufweisen bzw. im jugendlichen Alter bereits sehr traditio­nell sein.

Sowohl Einzelfälle als auch große Stichproben können über den Weg der Indexbildung einem der zwölf Typen klar zugeordnet werden. Unsere viel­fältigen empirischen Erkundungen zeigen, dass die Typologie empi­risch zuverlässig ist. Verschiedene Validierungsberechnungen dienten der feinen Justierung der zunächst hypothetisch formulierten Lebens­stilbeschreibungen. Diese beruhen auf den Studien Ottes sowie auf kor­respondierenden Lebens­stilbeschreibungen anderer Modelle.

4. Vistenkarten der einzelnen Lebensstile

4.1 Lebensstile im anspruchsvoll-gehobenen Segment (obere Mittelschicht/‌Oberschicht)

Gehoben-Konservative (LFT01):
Tradition des Besitzbürgertums, Konservativismus, Distinktion durch Rang, Exklusivität im Lebensstandard, klassische Hochkultur, Leis­tungs- und Führungsorientierung, Verantwortung, Religiosität

Statusbewusst-Arrivierte (LFT02):
Tradition des Bildungsbürgertums, Liberalität, beruflich gesetzte Selbst­verwirklichung (Angekommen-Sein), etabliertes Understate­ment, Hochkulturkonsum, teilweise mit alternativem Einschlag, Sinn für Authentizität und Kennerschaft im Konsum

Leistungsbewusst-Intellektuelle (LFT03):
Tradition der Postmoderne, junge, kulturell und akademisch geprägte Elite, Liberalität und Modernität, Umwandlung des Bildungskapitals in Hochkulturkonsum, in Leistungs- und Selbstverwirklichungswerte, Per­sönlichkeitsentfaltung: Erfolg im Beruf, Leistung und Individualität, kos­mopolitisches Denken, hohe und umfassende Mobilität

Reflexive Avantgardisten (LFT04):
Kulturell geprägte akademische Avantgarde bzw. junger progressiver Mittelstand, Postmodernität, Kreativität und Machbarkeitsdenken, biografisch-berufliche Flexibilität, hohe Aktivität, ausgeprägtes Leis­tungsstreben, Hochkulturkonsum in Verbindung mit Spannungs­momenten, Authentizität durch Wertigkeit (Markenbewusstsein), Individualität, globalisiertes Lebensgefühl

4.2 Lebensstile im respektabel-strebenden Segment (bürgerliche Mittelschicht)

Solide Konventionelle (LFT05):
Tradition des Kleinbürgertums, Pflicht- und Akzeptanzwerte, Sicher­heits­orientierung, Mainstream-Konsum mit punktuell hochkulturellem Anspruch, eher bürgerliche Moralvorstellung von einem guten Leben, solide Einkommens- und Eigentumsverhältnisse

Statusorientierte Bürgerliche (LFT06):
Tradition des modernen Bürgertums, d. h. die (älter gewordene) bürger­liche Mitte, Konformität in allen Lebensbereichen, Funktionalität durch Bequemlichkeit, Neuorientierung im beruflichen Leben, Neujustierung des Beziehungslebens, Statusbetonung, in Teilen Statusverunsicherung: Anschluss halten an die gesellschaftliche Oberschicht, Angst vor sozia­lem Abstieg

Bürgerlich-Leistungsorientierte (LFT07):
Tradition der Postmoderne, neue moderne Mittelschicht, junge Fami­lien, Fokus auf solide berufliche Karriere, Partizipation am Mainstream der modernen Erlebnis- und Freizeitkultur, Symbiose von Selbstver­wirklichung, Erfolg/‌Leistung und Familienzentriertheit

Expeditiv-Pragmatische (LFT08):
Primat des modernen Erlebniskonsums, Innnovation und soziales Ein­ge­bunden-Sein, moderates Leistungsdenken, pragmatisches Karriere­denken (Generation Y), idealistische Prägung, hohe Anpassungs­fä­higkeit

4.3 Lebensstile im kalkulierend-bescheidenen Segment (untere Mittelschicht/Unterschicht)

Limitiert-Traditionelle (LFT09):
Tradition der Facharbeit, Pflicht- und Akzeptanzwerte, Glaube und Religion, einfache Lebenslagen und stark eingegrenzte Aktionsradien (Heimzentriertheit, finanziell und gesundheitlich begrenzte Ressour­cen), oftmals verwitwete Personen/‌Alleinstehende, dadurch wenig Teilhabe an gesellschaftlichen Leben, Sicherheitsdenken/‌-streben, Sinn für Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Funktionalität

Defensiv-Benachteiligte (LFT10):
Tradition von einfacher (Dienstleistungs-)Arbeit, geringe Ressourcen verfügbar, insgesamt unterprivilegierter Lebensstil: geringer Aktions­radius, wenig Partizipation am gesellschaftlichen Leben, prekäre Le­benslagen, Defensivität als zentraler Habitus, traditionelle Geschlech­terrollen, Distanz zur Hochkultur

Konsum-Materialisten (LFT11):
Prinzip des Erlebniskonsums in der Polarität von Arbeitsalltag (Kraft- und Facharbeit) und Entspannungsmomenten (häuslich und außer­häuslich), Distanz zu Hochkultur, Affinität zu spannenden Lebensmo­menten moderner Massenkultur (Trivialkulturmuster)

Jugendkulturell-Unterhaltungsorientierte (LFT12):
Jugendkulturelle Szenen, teilweise mit Stilprotest, Erlebniskonsum und hedonistischen Werten (Vergnügen ohne Verantwortung), Offenheit für neue Entwicklungen als Lebensprinzip, Selbstverwirklichung und Indi­vi­dualität

5. Pastoraltheologisch-sozialwissenschaftliche Anwendungspraxis

Wir haben das Modell aufgrund unseres eigenen Bedarfs entwickelt und machen damit in unseren Forschungs- und Arbeitsfeldern äußerst posi­ti­ve Erfahrungen: Im Arbeitsbereich von Marko Heyse innerhalb der Ar­beitsgruppe BEMA des Instituts für Soziologie der Universität Münster konnten erste Studien in repräsentativen bundesweiten Telefonbefra­gungen vorgenommen werden. Das Modell wurde auch im Rahmen des Münster-Barometers erprobt.

Die Lebensführungstypologie bildet ein wesentliches Tool in den For­schungsberichten zur Evaluation der Ausbildung von Seelsorgenden im Bistum Münster (Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat Münster in Kooperation mit dem ZAP Bochum). Mithil­fe des Modells konnte das soziale Feld der Pfarrei mit ihren Gemeinden, Gremien und Verbänden präziser konturiert und kirchengeschichtlich belegt werden. Eine weitere wichtige Erkenntnis in diesem Forschungs­kontext ist, dass mithilfe dieses Modells gegenwärtig eine weitere zeit­liche Etappe in der Pastoraltheologie und ‑praxis begründet werden kann: Während mithilfe des Sinus-Modells seit 2005 kirchliche Seel­sorge angesichts der vielfachen Fusionsprozesse vor allem hinsichtlich einer Distributions- und Kundenlogik betrachtet wurde, führt die An­wen­dung der Lebensführungstypologie gegenwärtig zur Erkenntnis eines „diakonalen Turns“ in der Pastoralforschung mit dem Fokus auf die Entdeckung und Entwicklung vielfältiger kirchlicher Orte und Gele­genheiten innerhalb einer Pfarrei. Es scheint sich eine Trendwende vom fusionsbedingten Gemeinde-„Upgrading“ der 2000er Jahre hin zu einem „Downsizing“ (Bildung von Kommunitäten als eigenständige Formen und Variationen von „Gemeinde“) abzuzeichnen. Die Typologie entpuppt sich als hervorragendes Mittel zur Erklärung und Visualisie­rung dieser Befunde. Zudem ermöglicht sie den Blick auf lebensbeglei­tende Seelsorge: Die Linien im Modell kennzeichnen gewissermaßen die normativen Lebenswenden und ‑umbrüche, die Biografien kenn­zeichnen; die einzelnen Spalten innerhalb der horizontalen Dimension offenbaren Lebensaufgaben, denen sich ein Individuum im Wohl­fahrts­staat stellen muss.

Im Rahmen der Ausbildungsforschung konnte ebenfalls mithilfe der zur Verfügung stehenden Studiendaten die relevante Zielgruppe der 20- bis 29-jährigen Frauen und Männer sehr deutlich lebensstilistisch in den Blick genommen werden. Es zeigen sich signifikante Unterschiede in den Wertekonfigurationen zwischen religiös-gläubigen Katholiken im Vergleich zur gesamten Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen. Das hat Kon­sequenzen für Perso­nalgewinnung (Berufungspastoral) und Perso­nalausbildung. Ebenfalls konnten fundierte Sekundäranalysen hinsicht­lich der hypothetischen Dynamik zwischen Stadt und Land (urbane Lo­gik vs. Dorflogik) mit Blick auf Milieuverteilung und Seelsorge vorge­nommen werden. Hierzu wurden eigens Erhebungen in Kooperation mit der Arbeitsstelle BEMA des Instituts für Soziologie vorgenommen. Die in der Pastoraltheologie diskutierten Unterschiede sind aus unserer Sicht deutlich in Frage zu stellen.

Über die Projektwebsite www.milieuforschung.de stehen die Arbeits­hil­fen für die Erhebung (Fragebogen) und Lebensstilzuordnung („Milieu­matching“) zum Download bereit. Die Arbeitshilfen beinhalten weitere Informationen zu den Soziogrammen der einzelnen Lebensstilgruppen (Alter, Bildungsgrad, Einkommen, berufliche Stellung, Lebenssitua­tion). Ebenfalls bietet die Website Grafikvorlagen bzw. ‑formulare für studienindividuelle Lebensstilgrafiken an, die heruntergeladen und in eigene Studienberichte gelayoutet werden können. Für den gehobenen Forscheranspruch testen wir Syntax-Dateien mit den Arbeitsbefehlen für SPSS, um auch diese für den Download bereitzustellen. Nicht zuletzt erarbeiten wir zugleich eine Art Add-on zur genaueren Bestimmung post­materieller Lebensstile im Lebensstilmodell.