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Hiphop und Religion

Ein Interview mit amerikanischen Religionswissenschaftlern und einem deutschen Philosophen

„Wir Rapper bringen die wahren Probleme der Gesellschaft zur Sprache“, zitierte die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 29. Oktober 2015 (37) einen zentralen Hiphop-Repräsentanten aus dem Senegal. Hiphop ist längst von einer marginalen Nische zu einem gesellschaftlichen Indikator gewor­den, und dies nicht nur in Gesellschaften mit bedeutenden schwarzen Bevöl­kerungsanteilen wie den USA, sondern auch zunehmend in Europa. Auf Vermittlung von Pro­fessor Jürgen Manemann, Direktor des Forschungs­instituts für Philosophie Hannover (fiph), waren am 12. Juni 2015 die Religionswissenschaftler Dr. Monica Miller und Dr. Christopher Driscoll aus den USA zu Gast in der KAMP. Im Gespräch mit dem Team der KAMP ging es um das Verhältnis von Hiphop und Religion in den USA und Europa und darum, was dies für Auswirkungen für die Wahrnehmung von Religion und Kirche in Deutschland hat. Euangel dokumentiert hier ein Interview mit Miller, Driscoll und Manemann. Die Fragen stellte Hubertus Schönemann, die Übersetzung wurde von Jörg Termathe angefertigt.

euangel: Was hat Sie dazu bewegt, sich dem Thema Religion im Hiphop zuzuwenden? Und für unsere Leser, die sich mit Hiphop nicht auskennen: Was sind die wesentlichen Kennzeichen von Hiphop?

Monica Miller: Als Religionswissenschaftler interessiert uns die Frage, wie (und mit welchen Absichten, Mitteln und Zielen) religiöse Vorstel­lun­gen, religiöse Sprache, soziale, kulturelle und menschliche Interessen sowie theologische und metaphysische Kategorien in der Gesellschaft funktionieren. Offensichtlich erfordert ein solches Interesse ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für die Erfahrungen der Hiphop-Kultur, weil eine Fülle von traditionell als religiös definierten Themen, Kategorien und Begriffen vielfach von deren Künstlern in ihrem kulturellen Schaf­fen benutzt wird. Wenn man sich auf den Hiphop in den USA und seine dortigen Entwicklungen bezieht, trifft dies in besonderen Maße zu, in­soweit hier religiöse, theologische und existenziell-philosophische The­men und Sprache allzeit Bestandteil der grammatischen und ästheti­schen Techniken der Hiphop-Kultur waren. In dieser Hinsicht sind die Beispiele zahlreich, ja schier endlos – so etwa Afrika Bambaataa (Univer­sal Zulu Nation) und später die Gründung des Temple of Hiphop durch KRS-One. Andere bedeutende und prägende religiös-philosophische Ein­flüsse ergeben sich unter anderem durch die Auswirkung des Schwarzen Islam (durch die Rhetorik des Schwarzen Nationalismus im Allgemeinen und der Nation of Islam im Speziellen) – spezifischer der Art und Weise, in der die Lebensphilosophie der Nation of Gods and Earths (auch genannt die „Five Percenters“ oder „5%ers“) eine beständige kosmologische Ar­chitektur bot, die innerhalb der Songtexte des Rap und der weiteren Sprachlehre des Hiphop eingebunden wurde (und wird), zum Beispiel „Peace, God!“, „God Body MCs“, „What up, G?“ (wobei hier „G“ sowohl für „gansta“ als auch für „God“ steht/stehen kann) und „There’s a God on the mic“. Diese Trends und Tendenzen setzen sich heute in einer gro­ßen Bandbreite fort und sind explizit oder implizit (z. B. codiert) ein we­sentlicher Bestandteil der kulturellen Kartographie des Hiphop, seines Wortschatzes, Stils und seiner streitbaren weltweiten Attraktivität.

Christopher Driscoll: Als ein jüngeres Beispiel ist heute etwa einer von Kanye Wests größten Hits, der Schlager „Jesus Walks“, zu nennen; in ihm erinnert West seine Zuhörenden: „hier also kommt sie; diese Single ist das, was das Radio braucht; sie sagen, dass du über alles rappen kannst, außer über Jesus“ – „alles“ wird hier von West als Inhalte über „Waffen, Sex und Drogen“ ausgeführt – bevor er dann fragt: „Aber wenn ich in mei­ner Platte von Gott spreche, wird sie nicht gespielt, was?“ Die Ironie besteht freilich darin, dass es West nicht nur gelang, den Song ins Radio zu schleusen, sondern dass – in typischer West-Manier – der Song ein sofortiger Erfolg war. Dies sagt nicht so sehr etwas darüber aus, wie das Einschleusen von religiösen Inhalten in einer zunehmend säkularisierten Welt erfolgreich sein kann, sondern vielmehr über den Reiz, den Ein­fluss, die Macht und das Gewicht, die dem Hiphop einzigartig sind. Wir scheinen uns daran gewöhnt zu haben, zu argumentieren, dass das Er­forschen gegenwärtiger religiöser Ausdrucksformen und Erscheinungen (in den USA und weltweit) es erfordert, für die Gegebenheiten des Hip­hop aufmerksam zu sein. Zumindest dann, wenn wir daran interessiert sind, die Rolle, Art und Auswirkung von Kultur und ihres Verhältnisses zu/mit wechselnden Landschaften, Kosmologien, Weltanschauungen und Ausdrucksformen zu untersuchen und zu verstehen. Landschaften, Kosmologien, Weltanschauungen und Ausdrucksformen, die sich entwe­der explizit religiöser Terminologien bedienen oder, subtiler, bedeuten­den internationalen, ja weltweiten Reiz wecken und ausüben. Unter­halb der Oberfläche bietet der Hiphop ein Schaufenster, durch das man in die große Brandbreite von theoretischen und methodologischen Be­langen, die die Kategorie Religion betreffen, blicken kann. Um zu Kanye West zurückzukehren: Etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung von „Jesus Walks“ benennt er sein Album von 2013 mit dem Namen „Yeezus“ und fügt ihm den (sehr erfolgreichen) Titel „I Am a God“ bei. Auf grundle­gen­der politischer Ebene sucht das Lied absichtlich den Streit und ent­faltet eine entschlossene Konfrontations- und Direkt­heits­ästhetik (wört­licher: In-your-face-Ästhetik; d. Übers.), welche wir mittler­weile vom Hiphop erwarten. Doch tiefergehend spiegelt West einen Trend inner­halb des Hiphop wieder, religiöse Rhetorik neuartig auf eine Weise ein­zusetzen, die gleichzeitig Annahmen über ihre Auffassung, was soziale Arbeit ihrer Meinung nach tut, infrage stellt als auch Wis­senschaftlern (und der breiteren Öffentlichkeit) einen Anlass bietet, um darüber nachzudenken, auf welche Weise solche Rhetorik wie auch reli­giöse Rituale mit gesellschaftlichen Verhältnissen, Unterschiedlichkeit, gesellschaftlicher Gestaltung und Prozessen und Identitätsentwicklung im Allgemeinen zu tun haben. Dergestalt wird Wissenschaftlern durch Untersuchung der sozialen Implikationen und des strategischen Einsat­zes von religiösen Themen und ihrer Rhetorik durch Hiphop-Künstler ein neues Feld gegeben, durch das sie über langwährende Themen und De­batten auf dem Feld der Religion, Theologie und sogar Philosophie nach­denken können. Dies spiegelt sich in Thematiken wie: heilig und profan; Hybridität, Synkretismus und Ursprung; Unterdrückung und Macht; Le­ben und Tod; Bedeutung und Bedeutungslosigkeit; Kapital, Interessen­vertretung und Regulierung – ebenso wie in der Thematik der Bildung und des Einsatzes von Identität und Identifizierung in sich verändernden historischen Kontexten und Kontingenzen.

Monica Miller: Schließlich verbindet sich die Hiphop-Kultur mindes­tens noch auf eine weitere Weise mit der Religion. Für viele Hiphop-Künstler und ‑Anhänger ist Hiphop Religion. Damit meinen wir, dass Hiphop die Art und Weise ist, wie sie (Künstler, Produzenten und Kon­sumenten in gleicher Weise) in der Welt für sich Sinn konstruieren; wie sie sich selbst und ihren Platz in der globalen Landschaft verstehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist KRS-One, der in den letzten Jahren sogar eine Art Bibel geschrieben hat, genannt The Gospel of Hip Hop (Das Evangeli­um des Hiphop; d. Übers.). In diesem Text führt KRS-One im Wesentli­chen eine Theologie des Hiphop aus und wendet sich dem Hiphop in seinen zentralsten Elementen zu: erstens dem Rap, zweitens dem DJ, drittens Graffiti, viertens B‑Boying/Breakdance und fünftens Weisheit. Man kann sich diese Elemente als die essentielle Charakteristik des Hip­hop vorstellen. Sie helfen jenen innerhalb und außerhalb ihrer Kultur, die Kultur selbst zu definieren. Diese Elemente sind für viele eine Art Ritual, Dogma und Liturgie geworden, welche die Hiphop-Kultur als eine bestimmte Weise umreißt, dem Selbst und dem Anderen einen Sinn zu geben, sowie um den Bedarf an materiellen Ressourcen in der Weltge­sellschaft zu steuern.  Solchermaßen ist Hiphop in vielerlei Hinsicht und für viele innerhalb der Hiphop-Kultur eine Art neue Religion und religiö­se Option geworden.

euangel: In welcher Form zeigt sich Religion im Hiphop? In welcher Hinsicht wird hier, wie Sie formulieren, „das Wort Fleisch“?

Christopher Driscoll: Im Hiphop spielen Körper eine Rolle, sie werden zelebriert, betrauert und angefragt. In diesem einfachen Sinn wurde die Fleischwerdung des Wortes – als eine Inkarnation schwarzer und latein­amerikanischer Subjektivität und Humanität – zu großen Anteilen dank der Phänomene der Hiphop-Kultur möglich gemacht. Hiphop, auch wenn er über die schwarzamerikanische Kulturproduktion hinausgeht, kann nicht von seinen historischen Wurzeln in schwarzamerikanischer Erfahrung getrennt werden. Es ist die Erfahrung, in tragischer Hinsicht, als Drei-Fünftel-Person, als Sklave, nur halber Mensch angesehen wor­den zu sein. Trotz dieser tragischen Geschichte bietet Hiphop aus Sicht einer theologischen Anthropologie bzw. einer für die Inkarnation sensib­len Theologie eine großartige Möglichkeit für eine Verkörperlichung und rhetorische Inkarnation vollen Personseins für Schwarze und andere mar­­ginalisierte Amerikaner. Und dieser Hintergrund ist einer der Gründe – so denken wir –, warum sich so viele überall auf der Welt, die andere (aber ähnlich repressive) Geschichten und Lebenssituationen erfahren haben, von Hiphop angesprochen fühlen. 

Mo­ni­ca Mil­ler: In tech­ni­scher, theo­lo­gi­scher Spra­che ent­fal­tet sich die­se Hip­hop-In­kar­na­ti­on auf meh­re­ren We­gen: Durch exis­ten­zi­el­le Konfron­ta­tion mit dem schein­bar end­lo­sen Leid in der Welt; durch ei­ne Tillich­sche Wen­dung zur Kul­tur als Re­li­gi­on; und durch die schon ge­nann­te Be­to­nung von Ver­kör­per­li­chung, Per­son­sein und Ge­mein­schaft – oh­ne die ei­ne (Hip­hop-)Zu­sam­men­kunft (cy­pher; d. Übers.) nicht mög­lich ist. Insbeson­dere aber auf je­ne Wei­se, dass die ver­schie­de­nen Be­to­nun­gen auf den Kör­per ei­ne Art kul­tu­rel­ler und künst­le­ri­scher Rei­ni­gung (Ka­thar­sis) er­möglichen. Zu­gleich hel­fen sie, eng­stir­ni­ge und un­kri­ti­sche An­nah­men in­fra­ge zu stel­len, dass (so et­was wie) Re­li­gi­on au­to­ma­tisch Be­frei­ung, Frei­heit und Ge­rech­tig­keit ver­hei­ßt. Dem Werk ame­ri­ka­ni­scher far­bi­ger Theo­lo­gen und Gläu­bi­ger wie De­lo­res Wil­liams und An­tho­ny B. Pinn fol­gend sind und wa­ren Re­li­gi­on und Theo­lo­gie nie­mals auf Be­frei­ung, son­dern viel­mehr auf Über­le­ben aus­ge­rich­tet.

euangel: Was sind die Unterschiede zu institutionalisierter Religion, etwa in den Kirchen/Denominationen? Brauchen wir ein neues Verständnis von Religion – und wenn ja, welches?

Monica Miller: Wir beide haben zu Diskussionen, die diese beiden Fragen beinhalten, Beiträge geliefert. Für mehr zu dem Thema mögen sie deshalb Miller, Religion and Hip Hop (Routledge 2012), und CERCL, Breaking Bread, Breaking Beats (Fortress Press 2014), heranziehen. Aber, um eine kurze Zusammenfassung zu geben: Einer der Hauptunter­schie­de zwischen Hiphop-Kultur und Verwirklichungsformen von christlichen oder monotheistischen religiösen Kulturen und Institutionen liegt in dem Unbehagen, das Hiphop mit Scheinheiligkeit hat, und seiner daraus folgenden Neigung, Scheinheiligkeit zu entlarven. Wir wissen sehr gut, dass religiöse Institutionen nicht ohne Fehler sind. Und ein ähnlicher Ruf ereilt die angebliche Verherrlichung von Gewalt und Frauenverachtung durch Hiphop. Der Unterschied jedoch betrifft die Art und Weise, in der die Hiphop-Kultur nicht vorgibt, auf dem Standpunkt moralischer Über­legenheit zu stehen. Wir denken hier an Beispiele wie die Lieder „No Church in the Wild“ oder Tupac Shakurs „Blasphemy“, oder jüngeren Datums: Ras Kass’ „How to Kill God“. Diese Lieder sind starke Kritiken von institutioneller Religion auf der Grundlage, dass die Institutionen sich „heiliger als du“ benehmen. Für viele im Hiphop liegt das Problem mit institutioneller Religion darin, dass sie entweder Rechtfertigung oder menschliche Sündhaftigkeit überbetont.  Hiphop ist da vielschichti­ger und weiß mit der Ambiguität der menschlichen Erfahrung besser umzugehen. Mit dieser Einschätzung ist Hiphop eine Art verkörperte existenzielle Religion der Enteigneten – derjenigen, die von Kirchen ebenso wie von Staat und Nation oder Kapitalismus vergessen oder geschädigt wurden.  

Neben dieser intensiven Konfrontation mit Scheinheiligkeit ist Hiphop zu heterogen, um weitere konkrete Unterschiede aufzuweisen. Aber vielleicht können wir die Ähnlichkeiten diskutieren. Wenn Hiphop und institutionelle Religion durch und durch „eminent“ (um sich an Durk­heim anzulehnen) sozial sind, dann haben sie, durch die Werte der Men­schen, die diese Gemeinschaften bilden, eine Menge gemeinsam. Ritu­ale spielen für die Identitätsbildung in beiden (Hiphop als auch Religion; d. Übers.) eine Rolle; bestimmte Vorstellungen und Artefakte werden von beiden als „heilig“ behandelt. Ethik und Moralität mögen sich sehr unterschiedlich ausdrücken, aber, wie wir entdecken, wird Moralität auf sehr ähnlichen Wegen festgelegt und organisiert, und sogar das Weber­sche Konzept von Charisma wirkt sich im Hiphop sehr ähnlich aus wie in institutioneller Religion.

Christopher Driscoll: Wie wir früher schon bemerkten, erfordert Hip­hop (vom Religionswissenschaftler, aber auch vom Nicht-Religiösen) eine Neuaushandlung dessen, was wir mit Religion bezeichnen. Wir sind dazu übergegangen, Religion als soziale Formung und Prozess anzuse­hen, das bedeutet: die Sache, die uns sagt, was wir tun sollen und was wir sind, unsere Identität. Allgemeiner: Die Zuwendung zum Hiphop hilft, unser Verständnis von Religion als Identitätsbildung zu weiten. Sich auf Identitätsbildung zu konzentrieren, im Gegensatz zu klassische­ren Rahmungen für Religion (z. B. Institution oder Verhältnis zur Jensei­tig­keit), hilft, die Bandbreite gegenwärtiger Belange und Themen von Interesse für uns alle zu verstehen. Bei Gewalt, Hass, Armut, Sexismus, Rassismus und anderen Belangen haben wir grundsätzlich ein Problem: dass wir nicht wissen, wie Differenz zu steuern ist und wie in einem ge­ringe­ren Maße auch mit ihr zu leben ist. Und die Bilanzen der institutio­nellen Religionen sind nicht gerade ausgeglichen, wenn es darum geht, die Anhänger zu lehren, wie Differenz angenommen werden kann. Jesus mag gesagt haben: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, aber histo­risch hatten religiöse Institutionen Schwierigkeiten, Menschen von der Wirksamkeit dieses ethischen Mandats zu überzeugen. Und wer ist der Nächste? Wer ist der Flüchtling? Wer ist der Migrant? Wer ist wirklich anders? Um das Thema in die aktuelle europäische Debatte über Flücht­linge einzubetten, wir fragen uns: Hat Europa eine „Flüchtlingskrise“? Oder hat Europa eine „weiße Gastfreundlichkeitskrise“, also eine Krise mit der Tatsache, gerecht und menschlich mit Verschiedenheit zu leben? Indem wir Religion (und Hiphop) als Identitätsbildung verstehen, sind wir vielleicht besser gerüstet, um solche Schwierigkeiten ehrlich zu er­grün­den.

euangel: Hiphop ist eine in sozial unterprivilegierten Schichten entstandene Jugendkultur. In welchem Verhältnis steht Hiphop zur Black Church und ihrem Kampf für Freiheit?

Monica Miller: Eine gute und wichtige Frage. Viele in den Vereinigten Staaten sind am Verhältnis zwischen Hiphop-Kultur und den Kirchen der Schwarzen in Amerika interessiert. Es steht außer Frage, dass schwar­ze Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er eine prä­gende Rolle gespielt haben. Zu früheren Zeiten war die schwar­ze Kirche im Wesentlichen der einzige einigermaßen sichere bürgerliche und sozi­ale Raum für Afroamerikaner, um sich zu versammeln und sich für poli­tische Beteiligung zu organisieren. Kürzlich sind die BlackLivesMatter-Bewegungen (Schwarze-Leben-zählen-Bewegungen; d. Übers.) als eine neue Art des Bürgerrechtskampfes hervorgetreten; aber sie sehen sehr anders aus als unsere kollektive Erinnerung an schwar­ze Kirchen an den Frontlinien des Kampfes. Heutzutage sind einzelne schwarze Kir­chen und viele ihrer Mitglieder in der Schwarze-Leben-zählen-Bewe­gung weiterhin sehr aktiv, aber der Ort der Organi­sation hat sich in zwei Richtungen verlagert. Eine ist die Hiphop-Kultur. Wir sehen, dass Hip­hop-Künstler wie Tef Poe, Talib Kweli und J. Cole bemüht sind, Protes­tie­rende zu inspirieren und zu organisieren; in vie­len Teilen der USA hat Hiphop – für viele Afroamerikaner – die schwar­ze Kirche als ein zentra­les Vehikel für die Übertragung kultureller, sozialer und politischer Infor­mation abgelöst. Der berühmte Hiphop-Künstler Chuck D hat den Hip­hop gar als „CNN for he hood“ (etwa „Tagesschau-Sender für den Kiez“; d. Übers.) bezeichnet, weil er meinte, dass er der Ort sei, an dem sich viele schwarze Leute aktuellen Ereignissen zuwen­den. Der kulturelle Aufstieg des Hiphop hat Spannungen innerhalb der Kirchen erzeugt, in­sofern Kirchen häufig um junge Menschen aus einer Vielzahl von Grün­den heraus besorgt sind; deren prominentester kommt als Anliegen von Moral und ethischer Tugendhaftigkeit verhüllt zum Ausdruck. Was wir tatsächlich erleben, ist eine Krise von Autorität, in der die schwarze Kir­che daran arbeitet, ihre alte Autorität innerhalb der schwarzen Gemein­de zu erhalten. Doch diese vergangene Autorität war das Ergebnis eines Mangels an Räumen, in denen solche Autorität ausgedrückt und Subjek­ti­vität gefühlt werden konnte. Heutzutage gibt es, trotz der gegenwärti­gen Attacken auf schwarze Körper, (vielleicht) mehr offene Korridore, in denen sich Schwarze subjekthaft ausdrücken können, und Hiphop bleibt der Dreh- und Angelpunkt dieser Räume.

Chris­to­pher Dris­coll: Die Schwar­ze-Le­ben-zäh­len-Be­we­gung (BLM- ​Be­we­gung) ist wei­ter­hin ei­ne ex­trem in­klu­si­ve Be­we­gung; zen­tra­le Au­to­ri­tät wird ak­tiv ab­ge­lehnt, eben­so wird die Ein­schät­zung ver­ach­tet, Ras­se sei wich­ti­ger als Ge­schlecht oder Ar­mut sei töd­li­cher als Trans­pho­bie. Ein sol­cher Schwer­punkt auf In­ter­sek­tio­na­li­tät be­deu­tet dann zwangs­läu­fig, dass (Ras­sen-, Ge­schlechts-, Gen­der-, Klas­sen- etc.) Un­ter­schie­de als sol­che wahr­ge­nom­men und un­dog­ma­tisch ge­lebt wer­den. Sol­cher­ma­ßen wen­den sich vie­le, die in der BLM-Be­we­gung in­vol­viert sind – ins­be­son­de­re je­ne, die hin­sicht­lich der Form und des An­satzes ih­res so­zia­len Pro­tes­tes nahe­stehen –, ex­pli­zit kri­tisch ge­gen vie­le schwar­ze Kir­chen, da Homopho­bie, Pa­tri­ar­chat, Wohl­an­stän­dig­keit und die schon er­wähn­te Scheinhei­lig­keit noch sehr stark in­ner­halb die­ser Kir­chen (und an­de­rer his­to­risch be­deu­ten­der re­li­giö­ser Sphä­ren) vi­ru­lent sind, so wie auch Ras­sis­mus, Se­xis­mus und Homopho­bie/Trans­pho­bie in der brei­ten Ge­sell­schaft vi­ru­lent sind und wu­chern.

euangel: Gibt es andere Szenen/Jugendszenen, wo Sie einen ähnlich intensiven, unkonventionellen Rückgriff auf Religion und religiöse Elemente erkennen?

Chris­to­pher Dris­coll: Ja, ab­so­lut. Hip­hop stellt le­dig­lich ei­nen an­de­ren Aus­druck ei­nes Trends dar, Be­deu­tung durch „sä­ku­la­re“ Kul­tur zu erzeu­gen, den wir schon zwi­schen den Beat­les-Fans und John Len­non beob­ach­teten. Ge­leich­zei­tig war dies auch im­mer ein Merk­mal mar­xis­tisch-le­ni­nis­ti­scher Ideo­lo­gi­en und Staats­or­ga­ni­sa­tio­nen. Hin­zu kommt, dass heu­te in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten viel über die „No­nes“ (wört­lich: „Nicht­se“; d. Übers.) – der Be­griff für ei­ne wach­sen­de Grup­pe re­li­gi­ös un­ge­bun­de­ner und/oder „spi­ri­tu­el­ler, aber nicht re­li­giö­ser“ Men­schen – ge­spro­chen wird. Jun­ge Ame­ri­ka­ner mit un­be­küm­mer­ter Af­fi­ni­tät zu Hip­hop ste­hen der in­sti­tu­tio­na­li­sier­ten Re­li­gi­on wie tra­di­tio­nel­len meta­physischen Ge­dan­ken­gän­gen kri­tisch ge­gen­über. Die „No­nes“ wer­den ähn­lich be­han­delt und be­wer­tet wie die Ka­te­go­rie der „re­li­gi­ös Indiffe­ren­­ten“ in Tei­len Deutsch­lands oder an­ders­wo. Ei­ne Rei­he von Proble­men taucht mit die­sen Ka­te­go­ri­en auf. Ei­ner­seits ist es un­glaub­lich schwer, „Glau­be“ zu mes­sen. Das an­de­re ist, dass in der Kon­struk­ti­on die­ser Ka­te­go­ri­en die An­nah­me steckt, dass et­was, das „re­li­giös“ ge­nannt wird, von et­was an­de­rem, das „nicht-re­li­giös“ oder „sä­ku­lar“ ge­nannt wird, un­ter­schie­den wer­den kön­ne. Aber wenn un­ser Augen­merk auf Hip­hop uns et­was lehrt, dann das, dass al­les, was dies an­zeigt, nicht ei­ne Kri­se der Re­li­gi­on oder der Sinn­fin­dung ist, son­dern wie­der­um ei­ne Kri­se der ge­sell­schaft­li­chen Au­to­ri­tät, die die Kir­che be­an­sprucht. Wenn reli­gi­öse In­sti­tu­tio­nen ein­se­hen könn­ten, dass „In­sti­tu­tio­nen“ stets nur zur Be­wah­rung von Au­to­ri­tät be­wusst kon­stru­iert wur­den, dann könn­ten die­se In­sti­tu­tio­nen mög­li­cher­wei­se ei­ne bes­se­re Grund­la­ge für ih­re Rele­vanz in den kom­men­den Jah­ren fin­den. Mit an­de­ren Wor­ten: In dem Ma­ße, wie Rol­len­trä­ger in­ner­halb der In­sti­tu­tio­nen oder in Leitungsposi­tionen die Un­ver­wech­sel­bar­keit ih­rer Ri­tua­le, Glau­bens­vor­stel­lun­gen oder ih­res Ge­mein­we­sens pos­tu­lie­ren, ver­hin­dern sie ih­re ei­ge­ne Ent­wick­lung. Der gro­ße deut­sche Theo­lo­ge Diet­rich Bon­hoef­fer und die Be­ken­nen­de Kir­che sind ein Bei­spiel dafür, zu ver­ste­hen, dass der ein­fachs­te Weg für die­se In­sti­tu­tio­nen, be­lang­los zu wer­den, dar­in be­steht, sich auf Kos­ten des Wohl­er­ge­hens der Men­schen auf das Wohl­er­ge­hen der eige­nen In­sti­tu­ti­on zu fo­kus­sie­ren.

euangel: Worin liegen Ihrer Meinung nach die wesentlichen Unterschiede im Bereich Hiphop und Religion zwischen den USA und Europa? Was können wir in Deutschland von Ihren Erkenntnissen, die Sie in den USA gewonnen haben, lernen?

Monica Miller: Machen Sie keinen Fehler! Die USA können von Deutsch­land genauso viel lernen, wie wir Deutschland anzubieten haben. Hinsichtlich der Hiphop-Kultur: Der deutsche Hiphop trat mit einer offensichtlichen Distanz zur schwarzen und lateinamerikanischen US-Erfahrung auf, nichtsdestoweniger ist die Verbundenheit mit Men­schen an den Rändern der Gesellschaft, die sich im US-Hiphop finden lässt, auch im deutschen Hiphop präsent. Und im Falle der häufigen Ver­herrlichung von Gewalt und Patriarchat, die sich bei einigen Vertretern des US-Hiphop finden lässt, ist auch manch deutscher Hiphop dazu über­gegangen, Gewalt und Patriarchat zu verherrlichen. So sind viel­leicht die Gemeinsamkeiten zwischen US- und deutschem Hiphop aufschlussreicher als die Unterschiede.

Über den Hiphop hinaus und in Bezug auf die USA und Deutschland allge­mein gibt es viel, was wir auf dem Wege der Idee, wie Zusammen­leben funktionieren kann, austauschen könnten (und sollten). Als Ame­rikaner waren wir, als wir Deutschland besuchten, immer sehr fasziniert von den „Stolpersteinen“, die überall im Land auf den Gehsteigen plat­ziert waren. Die Deutschen scheinen ein starkes geschichtliches Gefühl zu haben und eine Erinnerung an die Abscheulichkeiten, die im Mensch­li­chen fortdauern können. Und eine solche Erinnerung – wenngleich sie düster ist – ist erfrischend aufrichtig und ist weit entfernt von den fort­währenden Leugnungen von Rassismus, die die US-amerikanische Ge­sell­schaft und Geschichte durchziehen. Auf der anderen Seite sind die Vereinigten Staaten in vielerlei Hinsichten der „Wilde Westen“, zumeist in negativer Hinsicht. Dennoch hat die fortwährende Konfrontation und Sorge Amerikas mit Fragen sozialer Identität unsere gemeinsamen Dis­kussionen über soziale Unterschiede vielfach stärker vorangebracht als den Rest der Welt, Deutschland (in vielerlei Hinsicht) eingeschlossen. Und so können möglicherweise die vergangenen (und fortlaufenden) Fehler der Vereinigten Staaten im Lichte dessen, was alles in Europa ge­schieht (steigende Fluten des Nationalismus und autoritärer Aktivität als Antwort auf sich verändernde Demografien), Deutschland und anderen Ländern in der EU (und der Euro-Zone im Besonderen) als Lehre dienen.

Christopher Driscoll: Im Sinne dieses Lernens fühlen wir uns an Cornel Wests (ein Vertreter des Amerikanischen Pragmatismus; d. Red.) un­glaub­liche Toni-Morrison-Vorlesungen an der Princeton-Universität vor einigen Jahren erinnert. Sie trugen den Titel: „The Gifts of Black Folk in an Age of Terrorism“ („Die Gaben des schwarzen Volkes im Zeitalter des Terrorismus“; d. Übers.). Das Leid der Schwarzamerikaner und des schwar­zen Volkes weltweit ist vielleicht der größte Lackmustest der west­lichen Hemisphäre hinsichtlich der Frage, wer oder was Europa oder die USA in den kommenden Jahrzehnten sein werden. Weder der Natio­nalstaat noch die religiöse Institution kann unsere kollektive Verantwort­lichkeit für Sklaverei und Kolonialismus verbergen oder bestreiten. Viel von dem Durcheinander und der Unordnung, die wir heute sehen und erleben, ist direkt verwandt mit diesen langjährigen Grundpfeilern des modernen westlichen sozialen Lebens. Die Sache einer solchen postkolo­nialen Antwort und Durcharbeitung ist nicht neu, aber die Botschaft erscheint so wichtig wie eh und je. Die Werke von Denkern wie Gustavo Gutiérrez (Mitbegründer und Namensgeber der Befreiungstheolo­gie; d. Red.) und James Cone (Fürsprecher einer schwarzen Befreiungstheo­logie; d. Red.) und des bereits genannten Cornel West könnten Erkennt­nisse liefern, wie Kirchen und Gesellschaften für die kommenden Jahre gut gewappnet sind. Die schwarzamerikanische Erfahrung und deren Erlebnisse mit der Moderne und den allgegenwärtigen Ausgrenzungen des Kolonialismus sind eine Autorität, mit der die Kirche befasst sein sollte.

euangel: Haben Sie – von Ihrer Wahrnehmung her – einen Rat für die Kirchen in Deutschland – gerade angesichts solcher nicht-institutionalisierter Formen von Religion wie im Hiphop?

Chris­to­pher Dris­coll: Im Jahr 1903 hat der afro­ame­ri­ka­ni­sche Soziolo­ge W. E. B. Du­Bo­is die schwarzame­ri­ka­ni­sche Er­fah­rung durch ei­ne Fra­ge cha­rak­te­ri­siert: „Wie fühlt es sich an, ein Pro­blem zu sein?“ Auf vie­ler­lei Wei­se ist das „Pro­ble­m“, als das Du­Bo­is die Afro­ame­ri­ka­ner be­schrieben hat, auf­schluss­reich für das zeit­ge­nös­si­sche Nord­ame­ri­ka, und für Deutsch­land eben­falls. Durch die letz­ten vier­hun­dert Jah­re hin­durch ha­ben Eu­ro­pä­er und Eu­ro-Ame­ri­ka­ner ver­sucht, das Pro­blem zu lö­sen, in­dem sie schwar­ze (und la­tein­ame­ri­ka­ni­sche) Men­schen zum Pro­blem ge­macht ha­ben. Schwar­ze und la­tein­ame­ri­ka­ni­sche Men­schen wur­den ge­nö­tigt, die Last der wei­ßen tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung, Gesell­schafts­bildung und so­gar De­mo­kra­tie, Li­be­ra­lis­mus und stell­ver­tre­ten­de Re­gie­rung selbst, die grund­le­gen­den Kenn­zei­chen des Wes­tens, zu tra­gen. Heu­te spürt der Wes­ten die so­zia­le und psy­cho­lo­gi­sche Un­si­cher­heit, vor der zu be­wah­ren die­se In­no­va­tio­nen ent­wor­fen wor­den wa­ren. Doch die­se Ent­wür­fe ver­steck­ten nur die­se Un­si­cher­hei­ten. Sie lös­ten sie nicht auf. Viel­leicht ist der Ver­such, oh­ne Le­bens­ent­wurf zu le­ben, die ein­zi­ge Art von „Le­bens­ent­wur­f“, der für deut­sche und US-Bür­ger gleicherma­ßen gilt. Viel­leicht müs­sen wir hier­aus die Kon­se­quenz zie­hen, anzuer­kennen, dass wir nicht län­ger ei­ne Lö­sung ha­ben. Hin­sicht­lich der insti­tu­tionellen Kir­che(n) könn­te dies be­deu­ten, von der Sor­ge ab­zu­las­sen, den Rück­gang der Mit­glie­der­zah­len ab­zu­wen­den. Es könn­te statt­des­sen hei­ßen: „ster­ben zu ler­nen“ in dem Sin­ne, dass wir un­se­ren menschli­chen Sta­tus, Sterb­li­che zu sein, als Vor­recht be­grei­fen und ihn mit ei­ner Kul­tur des Zu­sam­men­le­bens aus­stat­ten, die ein sol­ches Schick­sal erfor­dert. Zu­min­dest dann, wenn wir nicht dem Tod mit der­sel­ben Tödlich­keit ent­ge­gen­ge­hen wol­len, die die frü­he­ren Be­geg­nun­gen kennzeichne­te, in de­nen die­se Be­droht­heit un­se­res Le­bens auf­leuch­te­te. Institutio­nen könn­ten an­fan­gen, We­ge zu er­den­ken, den Rück­gang von Au­to­ri­tät zu ge­stal­ten. Nicht nur, in­dem sie ih­re noch vor­han­de­ne po­li­ti­sche oder so­zia­le Macht, son­dern eher noch, indem sie die Struk­tur künf­ti­gen Ver­lus­tes als ein Mit­tel nut­zen, um zu neu­en Vi­sio­nen mensch­li­cher Ge­sell­schaft beizutra­gen. Solch ei­ne Ge­sell­schaft wür­de sehr wahr­schein­lich nicht Gren­zen wie­der neu ver­stär­ken, son­dern sie über­schrei­ten, zwi­schen ih­nen wan­deln und mit den Men­schen zie­hen.

Monica Miller: Innerhalb solcher Anstrengungen ermutigen wir dazu, sich mit dem Hiphop als auch mit den Ressourcen, die von Studien zu Religion und Hiphop bereitgestellt werden, auseinanderzusetzen. Diese Arten von Ressourcen gehen allerdings noch weit über den Hiphop hin­aus und beinhalten unbestreitbar, sich dem reichen historischen, theo­logi­schen, literarischen und philosophischen Erbe der Afroamerikaner zuzu­wenden. Diese Zuwendung zu schwarzen Quellen könnte vielleicht auch die schon reiche Schatzkiste deutscher Ressourcen weiter füllen, inklusi­ve besonders jene Schatzkiste derer, die den Mut hatten, der sozialen Krise mit Trauer und Fantasie entgegenzutreten. Man denke an einige wie den schon genannten Bonhoeffer, aber auch an Walter Ben­jamin, Jürgen Moltmann, Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Jürgen Manemann, unter vielen, vielen anderen. Unserer Einschätzung nach sollte man sich dieser Denkerinnen und Denker entsinnen, um sie als Stimmen eines organischen, indigenen deutschen Hiphop zu stu­die­ren, der all das vorwegnimmt und übertrifft, was Haftbefehl (ein deutscher Hiphopper; d. Red.) und alle seiner Zeitgenossen mögli­cher­weise reprä­sentieren könnten.

euangel: Professor Manemann, Sie haben sich in einer Veranstaltung in Hannover mit der Thematik „Stimmen der Stadt – Hiphop-Botschaften“ befasst (Infos unter http://www.fiph.de): Was haben Sie dabei gelernt, was ist Ihnen dabei aufgegangen?

Jürgen Manemann: Dass Hiphop sich neben Blues, Jazz und anderen Musikformen etabliert hat, das war mir schon vorher bewusst. Dass Hiphop aber nicht nur philosophische Inhalte besitzt, sondern eine ei­gene Form von Philosophieren ist, das habe ich durch die Veranstaltung gelernt. Nach Sokrates heißt philosophieren, das eigene Leben prüfen. RapperInnen provozieren mit Tabubrüchen, um zu kritischen Selbstre­fle­xionen herauszufordern. Und so konfrontieren sie uns mit den Grund­fragen des Lebens: Wer sind wir und wo stehen wir? Warum sind wir hier? Woher kommen wir, wohin gehen wir? Hiphop ist für viele junge Menschen weltweit der Way of Life: Diese Kultur bietet nämlich vielsei­ti­ge kulturelle, religiöse und philosophische Ausdrucksformen und ver­schiedene Praktiken (Break-Dance, Beatboxing, Rap, Graffiti, Kleidung etc.), die helfen, eigene Lebenswirklichkeiten zum Ausdruck zu bringen und eine eigene Stimme zu finden. Hiphop ist der Versuch, zu perfor­men, was an der Zeit ist.

euangel: Auch an Sie noch einmal die Frage: Wie weit sind die Erkenntnisse von Monica Miller zu Hiphop und Religion in den USA auch auf die deutsche Situation übertragbar? Was kann bzw. sollte speziell die Kirche daraus lernen?

Jürgen Manemann: Es gibt viele Unterschiede zwischen dem Hiphop in den USA und dem deutschen Hiphop. Das muss auch so sein, da Hiphop immer Ausdruck der Verbindung von  Globalität und Lokalität ist. Im deutschen Hiphop sind die Bezüge zu religiösen Traditionen nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Um diese zu entdecken, wäre besser von Spiritualität statt von Religion im Hiphop zu reden. Insbesondere die Songs des Rappers Megaloh besitzen eine tiefe Spiritualität. In seinem Song „Programmier’ dich neu“ rappt Megaloh:

„Das erste Kapitel, das schwerste Kapitel,
das letzte, das Beste der Bibel
Ist das Ende zu ändern,
und wenn dann,
ist das was, das der Mensch kann?“

Im Hiphop werden immer wieder Anleihen bei religiösen Traditionen gemacht, wobei diese verfremdet und neu zur Sprache gebracht wer­den. Was ich gelernt habe, ist nicht nur zu fragen, wie viel Religion im Hiphop steckt, sondern auch, wie viel Hiphop in Religion steckt. Rapper singen immer wieder gegen vermachtete Strukturen an, und das gilt auch im Blick auf vermachtete religiöse Strukturen. Insbesondere die feminis­ti­sche Rapperin Sookee kritisiert die Homophobie der katholischen Kirche scharf.

euangel: Im Hiphop wird Religion – wie wir gesehen haben – speziell unter sozio-politischen Vorzeichen rezipiert. Ist das ein Aspekt von Religion, den Kirche stärker in den Blick nehmen sollte?

Jürgen Manemann: Rapper stellen immer wieder neu die Frage „Wie sollen wir zusammen leben?“, und zwar in einem umfassenden Sinn. Sie fragen nicht nur nach dem, was wir zum Überleben benötigen, son­dern auch nach dem, was wir für ein gutes Leben brauchen. In seinen neuen Songs thematisiert Spax die Fragen nach Glück, Schönheit und Natur – unbedingt zu empfehlen.  Rap-Texte handeln also nicht nur von Gewalt und Verzweiflung, sondern auch vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe. Es reicht aber nicht aus, bloß die thematischen As­pek­te in den Blick zu nehmen, da Hiphop Performance ist. Und diese Performance genießt nur Respekt, wenn sie „real“ ist. „Realness“ steht dafür, den Graben zwischen Rhetorik und Realität zu überbrücken. Gera­de die Kirche wird von jungen Menschen oft nicht mehr als „real“ (au­then­tisch) erlebt. Wie Kirche „Realness“ repräsentieren kann, dazu könnte sie sich von Rappern und den wenigen Rapperinnen inspirieren lassen.

euangel: Einen herzlichen Dank an alle drei Gesprächspartner!